Der Traum des Poliphil

Der Traum des Poliphil
Holzschnitt aus Hypnerotomachia Poliphili (Tempel mit Obelisk)

Hypnerotomachia Poliphili ist der Titel eines rätselhaften, viel gelesenen und einflussreichen Romanes aus der Renaissance, der in seiner Erstauflage 1499 in Italien erschien. Autor ist ein Francesco Colonna, wobei dessen Identität umstritten ist. In Betracht kommen der venezianische Dominikaner Francesco Colonna oder der römische Adlige Francesco Colonna, der Herr von Palestrina in Lazio unweit von Rom. Möglicherweise handelt es sich auch um dieselbe Person.

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der rätselhafte Titel ist schwierig auszusprechen und zu übersetzen. In der deutschen Sekundärliteratur wird er einfach, jedoch unzureichend mit „Der Traum des Poliphilo“ übersetzt. Diese Übersetzung folgt der französischen des 16. Jahrhunderts, in der der Text unter dem Namen Le songe de Poliphile zirkuliert. Die 1592 publizierte, sehr fragmentarische englische Ausgabe ist da aufschlussreicher und trägt den Titel „The Strife of Love in a Dream“ (Der Kampf der Liebe in einem Traum). Angemessen übersetzen müsste man den Titel mit Poliphilos Traumliebeskampf, wobei das deutsche Nominalkompositum sehr genau dem griechischen entspräche.

Der im Titel genannte Name des Protagonisten Poliphilo ist eine aus dem Griechischen entlehnte Metapher und bedeutet in etwa: Der viele/vieles Liebende. Bereits der Titel verrät einiges über den Inhalt, es geht um einen Liebestraum. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, das Werk einfach als eine Fortentwicklung des „romanzo d'amore“ in der Tradition von Boccaccio zu bezeichnen, der Inhalt ist weitaus vielschichtiger und philosophisch komplexer.

Inhalt

Holzschnitt aus Hypnerotomachia Poliphili (Poliphilo begegnet der Nymphe Eleuterylida)

Poliphilo träumt von seiner Geliebten Polia, die ihm ständig ausweicht. Er macht sich auf die Suche nach der sagenhaften Liebesinsel Kythera, um sich dort mit ihr zu vereinen. Unterwegs verirrt er sich in einem Wald, schläft ein und träumt. Der ungewöhnliche Kunstgriff des Autors ist die nun folgende Schilderung eines Traumes in einem Traum. Poliphilos traumhafter Weg nach Kythera führt ihn zu zauberhaften Wäldern, Grotten, Ruinen, Triumphbögen, einer Pyramide, einem luxuriösen Bad und einem Amphitheater. Er begegnet Fabelwesen, Allegorien, Faunen, Nymphen, Göttern und Göttinnen und wandert durch prächtige Paläste und paradiesische Gärten. Schließlich trifft er die Königin der Nymphen, die ihn auffordert, seine Liebe zu Polia zu erklären. Die Nymphen führen ihn zu drei Türen, unter denen er die richtige auswählen muss. Seine Wahl führt ihn glücklich zu Polia. Die Liebenden werden von den Nymphen zu einem zauberhaften Tempel geleitet, um dort ihr gegenseitiges Liebesversprechen abzugeben. Unterwegs begegnen sie prächtigen Prozessionen, die ihre Liebe feiern. Schließlich werden sie von Cupido zur Insel Kythera übergesetzt. Sie wird als vollkommener Garten in kreisrunder Form beschrieben, ein Symbol göttlichen Ursprunges. Ein von Marmorstatuen und Orangenbäumen eingefasster Kanal umfließt die Insel. Sie ist von Zypressen gesäumt und in 20 gleichgroße Segmente aufgeteilt, die jeweils von Rankpflanzen und Wandelgängen umschlossene Motivgärten darstellen. Auf Kythera angekommen, will Poliphilo seine Geliebte in die Arme schließen, doch sie entschwebt wie ein Nebelhauch und alles entpuppt sich als ein Traum.

Diese Rahmenhandlung füllt allerdings nur einen kleinen Teil des Werkes aus. Sie ist lediglich die Bühne und das Verbindungsglied für die ausführlichen und detailbesessenen, teils mehrere Seiten des Buches umfassenden Beschreibungen der zauberhaften Orte und Gebäude, die versteckten Rätsel, Metaphern und philosophischen Gedankenspiele. Höchst bemerkenswert sind auch die seltsamen, detailliert beschriebenen wasser- und windgetriebenen Maschinen, die ebenso an die Erfindungen Leonardo Da Vincis denken lassen wie an die antike Pneumatica des Heron von Alexandria.

Autor

Der Autor ist in dem Buch expressis verbis nicht genannt. Ein Hinweis ergibt sich, wenn man die Initialen, die Anfangsbuchstaben der einzelnen Kapitel hintereinander liest. Daraus bildet sich das Akrostichon: „POLIAM FRANCISCVS COLVMNA PERAMAVIT“ (Francesco Colonna hat Polia sehr geliebt). Dabei ist „Polia“ wiederum doppeldeutig. Es ist der Name der Geliebten Poliphilos im Roman und hat gleichzeitig die Bedeutung von „viel/vieles“.

Heute wird mehrheitlich als Autor der an Fragen der Architektur sehr interessierte Francesco Colonna, Spross einer einflussreichen römischen Adelsfamilie angesehen. Colonna hatte den Tempel von Palestrina restaurieren lassen und den nahe gelegenen Familiensitz wieder aufgebaut, der 1436 von päpstlichen Truppen verwüstet worden war. Er verfügte über die umfassende Bildung für ein solch vielschichtiges Buch und die architektonischen Kenntnisse, die die detaillierten und sachkundigen Beschreibungen der seltsamen Bauten in dem Roman - unter anderem ein Gebäude in Form eines Elefanten, der einen Obelisken trägt - vermuten lassen. Die philosophischen Grundlagen des Romans sind vor allem ein weltlich gewendeter Neu-Platonismus, in dessen Zentrum die Vorstellung steht, dass Eros die universelle Kraft ist, welche die Beziehungen zwischen dem Menschen ebenso wie die Beziehungen des Menschen zu den Dingen seiner Umwelt (in Gestalt von Wahrnehmung, Eindrücken und Erkenntnis) beherrscht. Dies musste der Kirche suspekt erscheinen und ließ daher den Autor bald in den Verdacht der Ketzerei geraten. Es ist nicht gesichert, auf welche Weise Francesco Colonna die reaktionäre Wendung in der Entwicklung der katholischen Kirche im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts seit dem Tod des humanistisch orientierten und aufgeklärten Papstes Pius II (Enea Silvio Piccolomini) überstanden hat.

Technische Ausführung

Das Buch ist in einer bemerkenswerten Mischung aus Latein, latinisiertem Italienisch, neu erfundenen Latinismen und dem römischen Italienisch des 15. Jahrhunderts geschrieben, welche die linguistische Kompetenz des Lesers maximal herausfordert. Einige beliebige Textbeispiele aus dem Buch mögen das illustrieren:

„Et ardua cosa è lassare quello che alcuna fiata nel'animo è impresso, enervare non facilmente si pole. D'indi dunque fue lo exordio et origine, che io simplicemente irretito et complicato in queste vilupante rete et fallace decipulo et in questi subdoli, caduci, incerti, fugaci et momentanei laquei et argutie d’amore mancipato.“

oder

„Cum voluptici acti, cum virginali gesti, cum suasivi sembianti, cum caricie puellare, cum lascive riguardature, cum suave paroline illo solaciabonde blandicule me condusseron.“

oder

„Iustissamente se potrebbe concedermi licentemente de dire che nell’universo mundo unque fusseron altre simigliante magnificentissime opere né excogitate né ancora da humano intuito vise, ché quasi diciò liberamente arbitrarei che da humano sapere et summa et virtuosa potentia non aptamente simile insolentia di aedificatura et artificii potersi excitare né di invento diffinire.“

In fachsprachlichen Passagen werden Konstruktionsanweisungen gegeben, wie beispielsweise das Verhältnis von Schriftbreite zu Schrifthöhe aus der Umrechnung eines Kreises in ein Quadrat zu ermitteln sei:

„Et erano eximie littere, exacta la sua crassitudine della nona parte et poco più dil diametro dilla quadratura.“

Daneben gibt es aber auch Passagen in Hebräisch, Arabisch, Griechisch, ägyptische Hieroglyphen, mathematische Anmerkungen, geometrische und architektonische Konstruktionspläne, neuzeitliche Hieroglyphen und Bilderrätsel. Aufgrund seiner komplexen linguistischen Beschaffenheit dürfte die Zahl der Menschen, die den Roman tatsächlich gelesen haben, überschaubar sein, die Sekundärliteratur ist hingegen recht zahlreich.

Das in der Werkstatt von Aldus Manutius in Venedig entstandene Buch ist ein bis heute bewunderter Meilenstein der frühen Druckkunst. Orientierten sich die bis dahin in Inkunabeln verwendeten gotischen Druckbuchstaben an der Schreibschrift mittelalterlicher Handschriften, so wurde der Traum des Poliphilo in Schrifttypen gedruckt, die man heute als Antiqua bezeichnet. Die Schrift wurde kurz zuvor von Nicolas Jenson in Venedig entwickelt und ist heute noch gebräuchlich. Man findet sie auf jedem Computer. Das Druckbild des Buches wirkt dadurch überraschend modern, was durch die reichhaltige Illustration noch verstärkt wird. Die in den Text integrierten 172 Holzschnitte eines unbekannt gebliebenen Künstlers sind von meisterhafter Ausführung. Die Verwendung von Hieroglyphen sowie hebräischen und altgriechischen Schrifttypen im Druck war ein Novum für diese Zeit. Vergleicht man das Werk mit der nur 43 Jahre älteren Gutenberg-Bibel, so wird der rasante Fortschritt in der Drucktechnik deutlich.

Verbreitung und Bedeutung

Die spanische Literaturwissenschaftlerin und Gartenkünstlerin Emmanuela Kretzulesco-Quaranta vertritt die Auffassung, der Inhalt des Buches sei von der unglücklichen Liebe Lorenzo des Prächtigen zu Lucrezia Donati inspiriert worden.[1]

Die 1499 erschienene Erstauflage der Hypnerotomachia Poliphili fand zunächst wenig Beachtung, das Buch war dem Verständnis seiner Zeit weit voraus. Erst die Neuauflage 1545 wurde ein durchschlagender Erfolg. Seinen größten Einfluss konnte der Roman in der Gartenarchitektur der Renaissance entfalten. Cosimo I. de' Medici ließ den Garten seiner Villa in Castello, in der er seine Kindheit verbracht hatte, als getreues Abbild des Traumes des Poliphilo gestalten. Weitere Gärten folgten. Beispiele für den überwältigenden Einfluss des Buches auf die italienische Renaissance sind der Garten in Bomarzo, der Garten der Villa Francesco de Medici in Florenz, der Garten der Villa Aldobrandini und der Boboli-Garten. Elemente aus dem Traum des Poliphilo (künstliche Ruinen, Tempel, Nymphäen) sind in der europäischen Gartenkunst bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, also noch beinahe 300 Jahre später nachweisbar.

Die französische Ausgabe der Hypnerotomachia Poliphili 1556 wurde ein vieldiskutierter Verkaufserfolg in der verschwenderischen, geistreichen und humanistisch gebildeten Umgebung von König Franz I. Das Buch war in Frankreich ein so großer Erfolg, dass bis 1600 drei Neuauflagen entstanden. Die englische Erstausgabe von 1592 war stümperhaft und unvollständig, dennoch überaus erfolgreich. Eine umfassende und wortgetreue englische Übersetzung erschien erst vor wenigen Jahren. Eine deutschsprachige Ausgabe gibt es bis heute nicht.

Das rätselhafte Buch beschäftigt Architekten, Historiker, Philosophen, Mystiker sowie an Rätseln Interessierte bis zum heutigen Tag. Das mysteriöse, weitschweifige und verwirrende Werk stellt die Kunst des Interpreten vor eine schwierige Aufgabe, es ist aber nicht unverständlich in dem Sinne, dass es sich jeglicher Deutung entzöge.

Rezeption

Elefantenstatue vor der Santa Maria sopra Minerva

Der philosophisch gebildete Papst Alexander VII. war ein großer Liebhaber des Buches. Als bei Bauarbeiten auf der Piazza della Minerva in Rom ein antiker Obelisk gefunden wurde, schlug er vor, diesen in die Neugestaltung des Platzes mit einzubeziehen.[2] Er beauftragte den italienischen Bildhauer Gian Lorenzo Bernini ein Denkmal zu entwerfen (ausgeführt 1667 von seinem Schüler Ercole Ferrata) bei dem der Obelisk auf einem Elefanten ruht. Das barocke Werk vor der römischen Santa Maria sopra Minerva wurde vermutlich durch den Roman inspiriert.[3]

1999 hat die Universität Trier der Hypnerotomachia Poliphili eine umfassende, fächerübergreifende Vorlesungsreihe gewidmet.

Der 2004 erschienene Roman Das letzte Geheimnis von Ian Caldwell und Dustin Thomason (erschienen im Gustav Lübbe Verlag, ISBN 3785721536) befasst sich mit der Enträtselung der Hypnerotomachia Poliphili.

Einzelnachweise

  1. Emanuela Kretzulesco Quaranta: Les Jardins du Songe. „Poliphile“ et la Mystique de la Renaissance, Paris, 1986
  2. Silvio Bedini, Der Elefant des Papstes, Stuttgart 2006, S. 212-213
  3. http://mitpress.mit.edu/e-books/HP/ihyp038.htm

Weblinks

Weitere Digitalisate im Netz

Französische Version



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