Dhikr

Dhikr
Ein Dhikr der Rifai-Sufis, historischer Stich.

Unter Dhikr (arabisch ‏ذكر‎, DMG ḏikr ‚Gedenken‘; auch Dhikrullah wörtl.: „Gedenken an Gott“; Zikr oder Sikr) versteht man in der sufistischen Strömung im Islam und im traditionellen Islam ein intensives Gebetsritual zur Erinnerung Allahs (= Gottes). Derjenige, der ein Dhikr ausübt, wird als Dhakir bezeichnet.

Dhikr ist nicht zu verwechseln mit dem allgemein-islamischen ṣalāt, dem fünfmal am Tag zu erfüllenden Gebet, das mit vorgeschriebene Körperbewegungen verbunden ist. Daneben gibt es noch duʿāʾ, ein persönliches, formloses Bittgebet bei allen Muslimen. Andererseits bezeichnen die Sufis selbst ṣalāt als das größte dhikr

Ein Teil der islamischen Religionsgelehrten lehnte im Laufe der islamischen Geschichte den Sufismus und den Dhikr ab, während andere selbst gleichzeitig sufistische Lehrer waren. Diese Halbtoleranz geht auf Al-Ghazali zurück, der den Sufismus als akzeptable islamische Religiosität sah. Heutige strikter islamische Strömungen (Wahhabiten u.a.) lehnen den Dhikr ebenfalls ab. Grundkritik dieser Strömungen ist, es gebe keinen Nachweis zum Dhikr im Koran und der islamischen Überlieferung, weshalb der Dhikr eine verbotene Neuerung im Islam sei. Sufis berufen sich dagegen auf Sure 33,41 "Oh Ihr Gläubigen! Gedenkt Gott mit vielem Gedenken ("dhikran kathīran")"; Koran 13,28 und mehrere interpretierbare Sunna-Stellen[1]

Inhaltsverzeichnis

Dhikr-Ritual

Dhikr am Grab des Qadiriyya-Scheichs Hamed al-Nil in Omdurman, Sudan

Der dhikr kann laut und ekstatisch geübt werden (dhikr dschalī), oder auch still oder leise und eher meditativ (dhikr khafī)[2]. Er kann alleine als spirituelle Übung, oder in der Gemeinschaft, in der Regel als Zeremonie der Sufi-Orden (Tariqa) zur Anrufung der Namen Gottes, ausgeübt werden. Für individuelle Formen des Dhikr muss man nicht einer Sufi-Schule angehören, er wird auch heute noch häufig praktiziert.

Einfachster und immer zentral gebliebener Dhikr ist die häufige Wiederholung des Begriffs "Allah", der später in die Wiederholung des Endbuchstaben "h" übergeht[3], und manchmal in weitere Formeln mündet. Nach Al-Ghazalī wird am Beginn des einsamen Dhikr ("dhikr khafī") eine "Zelle" aufgesucht werden und das Wort "Allah" mehrfach laut wiederholt werden, um das Herz in Einklang mit Gott zu bringen[4].

Weitere Anrufungen Gottes sind daneben auch häufig die neunundneunzig verschiedenen Namen bzw. Attribute Allahs. Die am meisten verwendeten Formeln sind Ya Allah („Oh Allah“), Ya Hu (etwa: „Oh Er“) und Ya Hayy („Oh Lebendiger“). Darüber hinaus wird sehr oft gemeinschaftlich die Schahada (das islamische Glaubensbekenntnis) gesprochen: La ilaha illa llah („Es gibt keinen Gott außer Gott“) Muḥammadun rasūlu ʾllāh(i) („Mohammed ist der Gesandte Gottes“). Der laute Dhikr ähnelt oft einem rhythmischen Sprechgesang. Die Formeln werden normalerweise 11 oder 33 mal aufgesagt. Zur Zählung wurden anfangs Steine verwendet, später die islamische Gebetskette (Tasbih) mit 11, 99, meistens aber 33 Perlen, die auch beim stillen Dhikr Anwendung findet, es gibt weitere Zählungen bei einem auf dem Schüler (Murid) zugeschnittenen Dhikr[5].

Bei vielen gemeinschaftlichen, lauten Traditionen sind die Aussprachen mit einer stoßweisen Ausatmung verbunden[6]. Häufig ist dabei auch eine abwechselnde Atmung mit der rechten und linken Seite, die technisch durch die abwechselnde Neigung des Kopfes, Oberkörpers zur Seite oder abwechselndes Anheben der Beine durchgeführt wird. Diese Atemtechniken müssen geübt werden.

Ein gemeinschaftlicher Dhikr wird auch als ḥaḍra ("Gegenwart", "Anwesenheit") oder als ḥalqa ("Kreis", nach der häufigsten kreisförmigen Anordnung der Gläubigen) bezeichnet[7]. Individuelle und gemeinschaftliche Formen des Dhikr bestanden bereits seit der Anfangszeit des Sufismus nebeneinander. Die speziellen Atemtechniken und kreisförmigen Anordnungen bildeten sich nach Meinung vieler Sufismus-Forscher erst im 13. Jahrhundert und sind wahrscheinlich von iranischen und indischen Traditionen beeinflusst[8].

Die bisher beschriebenen Techniken des Dhikr ähneln bis in Details dem orientchristlichen Jesusgebet, dem buddhistischen Nembutsu und zum hinduistischen Japa-Joga. Ob sich diese Formen gegenseitig technisch beeinflussten, auf gemeinsame altorientalisch-altiranisch-altindische Wurzeln zurückgehen, oder unabhängig voneinander entstanden, ist nicht gesichert[9]. Die bisher beschriebene Form des Dhikr ist eine islamische Spielart des Namensgebetes.

Eine ḥaḍra (Gegenwart, Zusammenkunft) ist bei den meisten Sufi-Orden ein komplexer Ablauf, der mit Koranrezitationen und dem Vortrag von Dichtungen des Gründers der ṭarīqa (des Sufi-Ordens) beginnt. Dieser Teil wird als ḥizb ("Partei", nach dem Orden) oder wird [10]("Koranstelle" eigentlich ursprünglich "Wasserstelle"/Erbauung) bezeichnet.

Semah der Mevlevi-Sufis unter Anleitung des Lehrers.

Ein weiterer Teil der ḥaḍra ist bei einigen Orden der sema, von arabisch samāʿ (wörtlich: "hören"), bei dem oft meditative oder ekstatische Sufi-Musik gehört wird, so bei einem Abschnitt des Cem-Dhikr der Bektaschi-Sufi. Einige Orden praktizieren dazu einen Trancetanz. Diese Praxis wurde erstmals von Dschalal ad-Din ar-Rumi, dem Begründer des Mevlevi-Ordens, im Westen oft als "drehende Derwische" bekannt, im Sufismus etabliert. Er verbreitete sich seit dem 13. Jahrhundert bei einigen Orden und Ordenszweigen und wurde besonders in Südasien populär, beispielsweise bei den Tschischtijja-Sufis. Gardet vermutet ebenfalls indoiranische Einflüsse auf den Semah[11], andere Forscher sehen eher Einflüsse des alttürkischen Schamanismus.

Die Sufi-Orden kennen verschiedene Arten des Dhikr, von ostasiatischen Methoden gleichender Meditation bis hin zu Selbstgeißelung, ähnlich wie bei indischen Asketen („Fakiren“).

Spirituelle Hintergründe im Sufismus

Die Sufis glauben, dass Gott ständig im menschlichen Herzen präsent sei, und dass Dhikr eine Art Werkzeug dafür sei, sich dieser göttlichen Anwesenheit bewusst zu werden. Manche Sufis beschreiben das Herz als einen „Spiegel“, der im Laufe der Zeit eine starke Schmutzschicht angesetzt hat. Dhikr dient in diesem Fall als ein „Poliermittel“, mit dem man diesen Spiegel wieder zum Glänzen bringen und so das göttliche Geheimnis widerspiegeln kann.

Die Vervollkommnung des Dhikr ist seit je her ein hohes Ziel bei den Sufis gewesen und es wird angestrebt, den Dhikr immerwährend zu wiederholen, sodass er selbst inmitten aller anderen (weltlichen) Aktivitäten weiter im Herzen fortfährt. Dies entspricht einem ununterbrochenen Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Letzteres wird „Dhikr des Herzens“ genannt, während die nach außen hörbare Form als „Dhikr der Zunge“ bezeichnet wird.

Siehe auch

Tondokumente

  • LP Halveti-Jerrahi-Dhikr – Journey To The Lord Of Power
  • CD Garden of Paradise – Sufi Ceremony of Remembrance

Literatur

  • Henry Corbin: Alone with the alone: creative imagination in the Ṣūfism of Ibn ʻArabī. New Jersey 1969.
  • Henry Corbin: The man of light in Iranian sufism. Boulder (Colorado) 1978.
  • Louis Gardet: Dhikr. In: EI2, Bd. II, S. 223-226.
  • Louis Gardet; Georges Chehata Anawati: Mystique musulmane: aspects et tendances, expériences et techniques. Paris 1986.
  • Ian Richard Netton: Ṣūfī ritual: the parallel universe. Richmond 2000.
  • Javad Nurbakhsh: Zikr – Das Herz der Sufiübungen. 4. Auflage. Institut für Islamstudien – Sufi-Archiv Deutschland, Trebbus 2001, ISBN 3-931494-46-2.
  • Annemarie Schimmel: Die Zeichen Gottes: Die religiöse Welt des Islam. München 1995.
  • Annemarie Schimmel: Sufismus: Eine Einführung in die islamische Mystik. München 2000.
  • Annemarie Schimmel: Pain and grace: a study of two mystical writers of eighteenth-century Muslim India. Leiden 1976.
  • Annemarie Schimmel: Deciphering the signs of God: a phenomenological approach to Islam.. Albany 1994.

Einzelnachweise

  1. EI2 Bd. II, S. 224
  2. EI2 Bd. II, S. 224
  3. Schimmel: "Sufismus:..." S. 19-20
  4. EI2 Bd. II, S. 224 mit Verweis auf Al-Ghazalis "Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften" (إحياء علوم الدين) arabische Ausgabe, Kairo 1933, III, 16-17
  5. Schimmel: "Sufismus:..." S. 20
  6. EI2II, S. 224 zu sehen beispielsweise bei diesem Gemeinschafts-Dhikr von Anhängern des Halveti-Uschschaki-Ordens, die Rezitation des Wortes "Allah" geht später zu einem zunehmend "gehechelten" "h" über.
  7. EI2II, S. 224
  8. siehe z.B. Gardet in EI2,II, S. 224
  9. siehe z.B. EI2,II, S. 223-224
  10. EI2,II, S.224
  11. EI2,II, S. 224

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