Dialektischer Materialismus

Dialektischer Materialismus

Der dialektische Materialismus (Diamat) ist eine Form der philosophischen Weltanschauung. Sie verwendet die Methode der Dialektik - des Denkens in Widersprüchen, um die Welt auf materieller Grundlage zu erklären. Er grenzt sich damit deutlich vom dialektischen Idealismus des Friedrich Hegel ab. Der dialektische Materialismus wurde von Karl Marx und Friedrich Engels begründet. Der Hauptgedanke ist, dass die Einheit der Welt in der Materie, die ewig und unendlich ist, begründet ist. Damit wird es möglich, die Unterschiede von Bewußtsein und Sein, von belebten und unbelebten Dingen anzuerkennen und trotzdem an einem gemeinsamen Ursprung - der Materie - festzuhalten. Der dialektische Materialismus wird oft als die philosophische Grundlage des Marxismus gesehen, wo er zur Ableitung von Entwicklungsgesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft genutzt wird.

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Der dialektische Materialismus bedient sich der hegelschen Dialektik, des geistigen Lehrers von Karl Marx. Diese geht davon aus, dass die Realität aus Widersprüchen besteht, welche zwangsläufig ihre eigene Veränderung sowie die Zukunft erzeugen und bestimmen. Nach dieser Theorie gerät der Geist mit sich selbst in Widerspruch und generiert so das Werden der objektiven Wirklichkeit. Marx dreht die hegelsche Dialektik um (stellt sie „vom Kopf auf die Füße“) und postuliert, dass sich die Welt, die objektive Wirklichkeit, aus ihrer materiellen Existenz und deren Entwicklung erklären lässt und nicht als Verwirklichung einer göttlichen absoluten Idee oder des menschlichen Denkens, wie im Idealismus angenommen. Die objektive Realität existiert außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein. Zusammengefasst werden diese Ideen in Marx' berühmten Satz: „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“. Dieser Satz ist eine Grundlage des Marxschen Denkens. Marx wählt die zu Hegel gegensätzliche Reihenfolge von Ursache und Wirkung.

Vier Grundregeln liegen der Theorie des dialektischen Materialismus zugrunde.

  • Das Universum muss als Ganzes angesehen werden.
  • Dieses Ganze besteht aus untereinander in Beziehung stehenden, voneinander abhängigen und sich in ständiger Bewegung befindenden Materien (objektiver Zusammenhang).
  • Diese Bewegung ist aufsteigend, vom Einfachen zum Komplexen fortschreitend und durchläuft dabei bestimmte Ebenen; jeder Ebene entsprechen bestimmte qualitative Veränderungen.
  • Die jeweilige Entwicklung einer bestimmten Ebene resultiert nicht aus einem harmonischen Fortschreiten, sondern entsteht durch den Konflikt und die Aktualisierung der jeweiligen, den entsprechenden Phänomenen innewohnenden Gegensätzlichkeiten, den „Grundwidersprüchen“.

Zu diesen Grundlagen kommen drei elementare Entwicklungsgesetze.

  1. Das Gesetz von der Einheit und vom Kampf der Gegensätze (Die Triebkraft der Entwicklung ist der Widerspruch zwischen dualen Polen, der natürlichen und sozialen Prozessen grundsätzlich inhärent ist und aus deren Kampf eine neue Lösung hervorgeht. Analog dazu: These + Antithese = Synthese)
  2. Das Gesetz von der Negation der Negation (Die Entwicklung auf eine höhere Ebene bewahrt die positiven Elemente der vorhergehenden. Sie negiert in ihrer Weiterentwicklung die vorhergehende Ebene also nicht als Ganzes.)
  3. Das Gesetz vom Umschlagen von einer Quantität in eine neue Qualität (Nach einer Kumulation quantitativer Veränderungen über längere Zeit kommt es zu einer sprunghaften qualitativen Veränderung.)
Beispiele
  1. Durch den Widerspruch zwischen wachsenden Bedürfnissen der Menschen und der niedrigen Produktivität kommt es zur Erfindung von Maschinen.
  2. Die Entwicklung zu einer kommunistischen Gesellschaft sollte die Errungenschaften des Kapitalismus (z.B. die Demokratie) behalten, und nur seine Einschränkungen (z.B. die Ausbeutung der Arbeiterklasse) beseitigen.
  3. Wasser ist bei 20 °C oder 60 °C flüssig. Führt man jedoch genügend Wärme hinzu (genügende Veränderung der Quantität), so gibt es bei 100 °C einen dialektischen Sprung (Veränderung der Qualität) in den Aggregatzustand gasförmig.

Die materialistische Dialektik - von Marx meine dialektische Methode genannt - wurde anfangs durch die Neu-Interpretation der Geschichte entwickelt, später von Marx durch die Beschreibung der Produktion des Kapitals und durch Friedrich Engels in einer „Dialektik der Natur“.

Engels stellte gegenüber späteren Theoretikern fest, dass nach Marx und seiner Auffassung Materielles ideelle Prozesse freilich „nur in letzter Instanz“ festlege und beeinflusse.

Aufbau der Gesellschaft

Nach Marx ist der Mensch ein „Opfer“ seiner Bedürfnisse, und die Gesellschaft befindet sich in einem permanenten Kampf gegen die Natur, mit dem Ziel, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Dieser Kampf ist nur mit Hilfe einer bestimmten materiellen und wirtschaftlichen Basis möglich: der so genannten Infrastruktur oder dem Unterbau.

Der so genannte Unterbau besteht aus zwei, sich ebenfalls widersprüchlich gegenüberstehenden Elementen:

a) Die Produktivkräfte, also alle am Produktionsprozess beteiligten Kräfte. Darunter versteht Marx die Arbeitskräfte einerseits und die Produktionsmittel (natürliche Ressourcen, zur Verfügung stehende Technologie, etc.) andererseits. Die Produktivkräfte verändern sich im Laufe der Zeit - einer bestimmten Entwicklung der Produktivkräfte entspricht eine bestimmte Art der Produktionsverhältnisse.

b) Die Produktionsverhältnisse, also die gesellschaftliche Arbeitsteilung einerseits und die Besitzverteilung andererseits.

Dieser von den materiellen Verhältnissen bestimmte „Unterbau“ bestimmt seinerseits den so genannten „Überbau“. Das ist das gesellschaftliche Bewusstsein der zu einem bestimmten Zeitpunkt dominierenden Klassen. Zum Überbau gehören das politische System, das Bildungswesen, die Sprache, das Rechtssystem, die Religion (Theologie), die Wissenschaften, die Künste.

Stalin veränderte diese Theorie dahingehend, dass er für ein bestimmtes Entwicklungsstadium der Gesellschaft Überlegungen über den Unterbau vornahm. Außerdem versuchte er die Naturwissenschaften, die Kunst und auch die Linguistik, in Einklang mit der Theorie des dialektischen Materialismus zu bringen. Die Befürwortung der falschen biologischen Theorien Lyssenkos waren ein Ergebnis seiner diesbezüglichen Fehlgriffe.

Weiterentwicklungen

Der dialektische Materialismus wurde als Teil der politischen Ideologie von den wissenschaftlichen Gremien der politischen Führung der DDR und der UdSSR weitergeführt. Relativitätstheorie, Quantenmechanik und andere neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse machten eine Anpassung und Erweiterung gegenüber der Orthodoxie erforderlich. Neue Erkenntnisse wurden von den Anhängern des dialektischen Materialismus als Bestätigung der eigenen Grundlagen gewertet und darauf aufbauend weiter entwickelt.

Kritiker wenden ein, dass der dialektische Materialismus im Osten vor allem systematisch genutzt wurde, vergleichbare Zustände im Westen scharf zu kritisieren, die man im Osten elegisch feierte. Wolfgang Leonhard beschreibt den dialektischen Materialismus im Stalinismus als reine Worthülse, um herrschende Zustände zu legitimieren.[1]

Auch im Westen wurde der dialektische Materialismus weiterentwickelt, insbesondere von Autoren, die sich dem hegelianischen Marxismus verpflichtet fühlten (im Gegensatz zu dogmatischen und der Sowjetideologie verpflichteten Lesarten der Texte von Marx). Einschlägige theoretische Texte stammen etwa von Henri Lefebvre.[2]

Literatur

  • Joseph Maria Bocheński: Der sowjetrussische dialektische Materialismus (Diamat). 1950.
  • B. A. Čagin, Der subjektive Faktor, Struktur und Gesetzmäßigkeiten. Akademie, Berlin 1973.
  • Horst Friedrich et al. (Herausg.): Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium. Dietz, Berlin 1986.
  • Herbert Hörz (Herausg.): Philosophie und Naturwissenschaften., Wörterbuch zu den philosophischen Fragen der Naturwissenschaften. Dietz, Berlin 1983.
  • Karl Korsch: Zur Geschichte der marxistischen Ideologie in Rußland (1932). In: Karl Korsch: Krise des Marxismus : Schriften 1928 - 1935, hrsg. und eingel. von Michael Buckmiller, Stichting Beheer IISG, Amsterdam 1996.
  • Georg Klaus/Manfred Buhr (Herausg.): Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Rowohlt, Hamburg 1972, ISBN 3-499-16155-9.
  • Anton Pannekoek: Lenin als Philosoph. In: Paul Mattick: Marxistischer Antileninismus. ça ira, Freiburg 1991, S. 59-153.
  • Wissenschaftlicher Rat für philosophische Fragen der Naturwissenschaften beim Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Herausg.): Struktur und Formen der Materie. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1969.
  • Gustav A. Wetter, Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion. Herder, Freiburg 1960.

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder. 15 Auflage. Ullstein, Berlin 1976, S. 213. Es ist „ein Wesenszug des Stalinismus, den dialektischen Materialismus seines eigentlichen Sinnes zu berauben, da die Stalinisten die Gesetze der Dialektik nicht anweden, um die Prozesse innerhalb der Gesellschaft zu erklären und daraus bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern dazu degradieren, nachträglich politische Entscheidungen oder Beschlüsse zu rechtfertigen.“
  2. Henri Lefebvre: Le Matérialisme dialectique. Paris 1940.

Weblinks


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