Ehescheidung in der Türkei

Ehescheidung in der Türkei
Latife Uşşaki und Mustafa Kemal Atatürk, deren Ehe 1925 nach islamischem Recht beendet wurde.

In der Türkei ist die Ehescheidung (türkisch Boşanma) umfassend im türkischen Zivilgesetzbuch (tZGB) geregelt.

Das türkische Zivilgesetzbuch – und somit auch das Familienrecht – entstand im Jahr 1926 am Beispiel des Schweizerischen Zivilgesetzbuches. Das bis dahin geltende Islamische Scheidungsrecht wurde damit offiziell aufgehoben. Das heutige tZGB sieht vor, dass die Ehe bei Bestehen von bestimmten Scheidungsgründen – sowohl verschuldensabhängig (Schuldprinzip), als auch verschuldensunabhängig (Zerrüttungsprinzip) – geschieden werden kann. Diese Scheidungsgründe werden in allgemeine Scheidungsgründe (genel boşanma nedenleri) und in besondere Scheidungsgründe (özel boşanma nedenleri) aufgeteilt.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeine Scheidungsgründe

Zerrüttung der ehelichen Gemeinschaft

Falls das Fundament der ehelichen Gemeinschaft so zerrüttet ist, dass keinem der Ehepartner zuzumuten ist, die eheliche Gemeinschaft fortzusetzen, kann gemäß Art. 166 I 1 tZGB Scheidungsklage erhoben werden. Dies steht aber nur dem Partner mit weniger Schuld an der Zerrüttung zu (Art. 166 I 2 tZGB). Wenn der Beklagte nachweist, dass er weniger Schuld hat und Widerspruch erhebt, wird der Antrag auf Scheidung abgelehnt. Falls keiner der Partner Schuld an der Zerrüttung hat (z. B. bei einer Krankheit), können beide Partner den Antrag stellen.

Für eine fundamentale Zerrüttung der Ehe müssen grundlegende Meinungsverschiedenheiten bestehen. Alltägliche Streitigkeiten werden nicht als solche angesehen, vielmehr muss eine Dauerhaftigkeit der schweren Konflikte vorliegen und die Einstellung zur Ehe oder deren Verpflichtungen muss von mindestens einem der Ehepartner in Frage gestellt werden.

Neben dieser objektiven Komponente gibt es noch eine subjektive Komponente. Danach muss die Weiterführung der Ehe für mindestens einen der Ehepartner unerträglich sein. Dies anzuerkennen liegt im Ermessen des Richters.

Ehescheidung im Einvernehmen

Seit der Zivilrechtsreform im Jahr 1988 können sich Eheleute im Einvernehmen scheiden lassen (Art. 166 I 3 tZGB). Dafür muss die Ehe seit mindestens einem Jahr bestehen. Der Scheidungsantrag muss von beiden Ehepartnern eingebracht werden oder von einem Partner, wobei der andere zustimmen muss. Außerdem müssen beide Ehepartner persönlich vor dem Richter erscheinen, um zu bestätigen, dass sie einverstanden sind.

Eine weitere Voraussetzung ist, dass die beiden Partner sich in Bezug auf finanzielle Folgen (Schadensersatz, Unterhalt) und in Bezug auf gemeinsame Kinder (Sorgerecht) schriftlich geeinigt haben. Diese Einigung muss vom Richter bestätigt und bei Bedarf nachgebessert werden.

Nicht-Wiederherstellbarkeit der ehelichen Gemeinschaft

Gem. Art. 166 I 4 tZGB kann man sich scheiden lassen, falls nach Ablehnung einer Scheidungsklage drei Jahre vergangen sind und die eheliche Gemeinschaft nicht wieder hergestellt wurde. Es muss ein erneuter Antrag gestellt werden.

Besondere Scheidungsgründe

Das tZGB sieht vor, dass bei Vorliegen besonderer Situationen der Richter die Ehe scheiden kann. Diese Situationen sind im Gesetz kodifiziert und erschöpfend aufgezählt.

Ehebruch

Ehebruch (zina) ist nach türkischem Familienrecht ein Scheidungsgrund und liegt vor, wenn mit einer anderen Person außer dem Ehepartner eine sexuelle Beziehung eingegangen wird (Art. 161 tZGB). Gleichgeschlechtlicher Geschlechtsverkehr fällt laut ständiger Rechtsprechung nicht hierunter. Damit der außereheliche Geschlechtsverkehr als Scheidungsgrund anerkannt wird, muss eine Schuld seitens des/der Ehebrechers/Ehebrecherin vorliegen. Das heißt, dass der Ehebruch mit vollem Wissen und Wollen geschehen sein muss. Sollten seit dem Zeitpunkt des Ehebruchs fünf Jahre oder seit der Kenntnis des Ehebruchs mehr als sechs Monate vergangen sein, wird der Antrag auf Ehescheidung zurückgewiesen. Er wird auch zurückgewiesen, wenn dem ehebrechenden Partner verziehen wurde.

Der Begriff zina stammt ursprünglich aus dem islamischen Recht, welches im Osmanischen Reich Anwendung fand. In der heutigen Rechtspraxis hat Zina jedoch den Bezug zum islamischen Recht verloren und ist nur mittelbar mit zina im Islam in Verbindung zu bringen.

Angriff auf die Person, schwere Misshandlung und Ehrenkränkung

Art. 162 tZGB besagt, dass der betroffene Partner bei einem Angriff auf das Leben (cana kast), bei Misshandlungen (fena muameleler) und bei schweren Ehrenkränkungen (onur kırıcı davranışlar) die Scheidung beantragen kann. Der Angriff auf das Leben muss vorsätzlich und der Handelnde nicht schuldunfähig sein. Der Scheidungsantrag muss spätestens nach fünf Jahren nach Geschehen oder sechs Monaten nach Kenntnis eingereicht werden. Wenn der betroffene Ehepartner dem anderen verzeiht, verfällt dieser Anspruch.

Scheidung wegen Begehen von Straftaten und unehrenhafter Lebensführung

Laut Art. 163 tZGB kann ein Scheidungsantrag gestellt werden, wenn der Ehepartner eine erniedrigende Straftat (yüz kızartıcı suç) begeht. Erniedrigende Straftaten sind im Gesetz nicht definiert, doch die herrschende Meinung (hakim görüş) zählt solche Straftaten wie Diebstahl, Betrug, Fälschung, Schmuggel, Vergewaltigung etc. dazu.

Art. 163 tZGB nennt zudem noch die unehrenhafte Lebensführung (haysiyetsiz hayat sürme) als Scheidungsgrund. Unehrenhafte Lebensführung heißt, dass der Ehepartner sich nicht an allgemeine Werte der Gesellschaft hält. Dies ist jedoch im Gegensatz zu den bisherigen Gründen kein absoluter Scheidungsgrund (mutlak boşanma nedeni), sondern ein relativer (nispi). Das bedeutet, dass der Richter bei Vorliegen einer unehrenhaften Lebensführung zusätzlich noch beachten muss, ob die Weiterführung der Ehe unter gegebenen Umständen vom Partner noch erwartet werden kann. Wird dies bejaht, entscheidet man auf Ablehnung der Klage. Für den Scheidungsantrag ist keine Frist vorgesehen.

Böswilliges Verlassen der ehelichen Gemeinschaft

Falls ein Ehepartner die gemeinsame eheliche Wohnung mit der Absicht, die ehelichen Pflichten nicht zu erfüllen, oder ohne anderen wichtigen Grund verlässt, hat der verlassene Partner das Recht eine Scheidungsklage zu stellen (Art. 164 tZGB).

Doch zunächst muss der verlassene Partner einen Antrag zur gerichtlichen Aufforderung zur Rückkehr (ihtar) stellen, welcher aber erst nach mindestens vier Monaten seit dem Verlassen gestellt werden kann. Sollten nach dieser Aufforderung zur Rückkehr weitere zwei Monate erfolglos vergangen sein, kann Scheidungsklage erhoben werden.

Geisteskrankheit

Als letzten besonderen Scheidungsgrund nennt Art. 165 tZGB die Geisteskrankheit (akıl hastalığı). Falls ein Ehepartner an einer Geisteskrankheit erkrankt, kann der andere Partner die Scheidung beantragen. Damit die Geisteskrankheit jedoch einen Scheidungsgrund darstellt, muss sie unheilbar sein, was durch medizinische Gutachter attestiert werden muss. Die Geisteskrankheit ist wie der unehrenhafte Lebenswandel ein relativer Scheidungsgrund (nispi boşanma nedeni), d. h. es muss zusätzlich geprüft werden, ob die Weiterführung der Ehe vom gesunden Partner noch erwartet werden kann.

Vor der Zivilrechtsreform im Jahr 2002 musste die Geisteskrankheit seit mindestens drei Jahren vorliegen.

Literatur

  • Christian Rumpf: Einführung in das türkische Recht. C. H. Beck, München 2004, ISBN 978-3-406-51293-3, S. 140–157.

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