- Ethnosoziologie
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Der Begriff Ethnosoziologie wurde von Ludwig Gumplowicz eingeführt und von Richard Thurnwald verwandt, um Ethnologie und Soziologie enger aneinander zu schließen. Unter den deutschen Ethnosoziologen sind etwa Wilhelm Emil Mühlmann (Heidelberg), Horst Reimann (Augsburg) und Georg Elwert (Berlin) besonders hervorgetreten. In den USA werden ethnosoziologische Stoffe als Cultural Anthropology, im UK als Social Anthropology bearbeitet (hervorzuheben hier die Manchester School um Max Gluckman). Im Deutschen bezeichnet Kulturanthropologie hingegen eine Fortentwicklung der Volkskunde ("Europäischen Ethnologie").
Die Ethnosoziologie befasst sich mit den sozialen Aspekten, den Beziehungen der Menschen sowie ihrer Begründung und Organisation in den verschiedenen Gesellschaften. Bis zum Ende 1960er Jahre beschäftigte sich die Ethnosoziologie fast ausschließlich mit der Analyse von Verwandtschaft (Kinship), Verwandtschaftssystemen und Verwandtschaftsterminologie. Es wurde angenommen, dass soziale Strukturen, Rechtsvorstellungen und alle Formen der Sozialorganisation in nicht-industrialisierten Gesellschaften primär durch Verwandtschaftsbeziehungen bestimmt seien. Damit geriet die Ethnosoziologie unter den Verdacht des Ethno- und des Androzentrismus. US-amerikanische Ansätze unterstellten ihr, Vorstellungen von Verwandtschaft, die sich mit der Industrialisierung in Europa herausgebildet hätten, wie z.B. die Kernfamilie, unkritisch zu nichtindustriellen Gesellschaften künstlich zu kontrastieren. Auch sei der matrilinearen Abstammung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden bzw. es seien matrilineare Systeme mit den Begrifflichkeiten und Analysekonzepten patrilinearer Systeme untersucht worden (vgl. Keesing 1975). Diese Ansätze wurden wiederum kritisiert.
Seit den 1970er Jahren verlagerte sich der Fokus der ethnosoziologischen Forschung auf das Individuum und die wirtschaftlichen, rechtlichen und kognitiven Bedingungen sozialer Systeme. Es entstanden Studien zu Personen, zu Geschlechterbeziehungen und sozialen Geschlechtsrollen, zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, zu Macht, Staatsorganisation und Organisation sozialer Prozesse. In angrenzenden Bereichen entwickelten sich Forschungen zu den gesellschaftstypischen Denkweisen und Wissensbeständen, ihrer Tradierung und Verbreitung (siehe: Kognitive Ethnologie), sowie auch zur Organisation der indigenen Heil- und Behandlungssysteme (siehe auch: Ethnomedizin).
Literatur
- Reimann, Horst (Hrsg.): Soziologie und Ethnologie. Zur Interaktion zwischen zwei Disziplinen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986
- Elwert, G./Alber, E. (Hrsg.): Sociologicus. Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie. Journal for Empirical Social Anthropology. Berlin: Duncker & Humblot
- Barnard, Alan / Good, Anthony: Research Practices in the Study of Kinship. London: Academic Press 1984
- Panof, Michel/ Perrin, Michel: Taschenbuch der Ethnologie. Berlin 1982
- Keesing, Roger: Kin Groups and Social Structure. New York 1975
- Kraus, Wolfgang: Zum Begriff der Deszendenz. Ein selektiver Überblick. Zeitschrift Anthropos vol. 92.1997. S. 139-163
Siehe auch
Kategorien:- Spezielle Soziologie
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