Richard Thurnwald

Richard Thurnwald

Richard Thurnwald (* 18. September 1869 in Wien; † 19. Januar 1954 in Berlin[1]) war ein österreichischer Ethnologe.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Richard Thurnwald studierte Jura und spezialisierte sich auf Staatsrecht.

1896 trat er in den Staatsdienst ein und wurde nach Bosnien versetzt, wo er in der Landesregierung tätig wurde. Bosnien stand seit 1878 unter österreichisch-ungarischer Verwaltung. Anschließend wurde er in der Handelskammer von Graz, der Hauptstadt des österreichischen Bundeslandes Steiermark, tätig. Von dort aus unternahm er Reisen nach Italien und Ägypten. 1901 zog Thurnwald nach Berlin und war dort bis 1906 als wissenschaftliche Hilfskraft am Museum für Völkerkunde tätig. 1905 war er Mitbegründer der deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene.[1] Im Auftrag des Museums unternahm er von 1906 bis 1909 eine Forschungsreise, eine ethnologische Feldforschungsarbeit auf Melanesien, Palau, Yap, Ponape, dem Bismarck-Archipel, auf den Salomonen und in Süd-Bougainville. Die Inseln waren allesamt von 1885 bis 1918 deutsche Kolonien im Pazifischen Ozean. 1912 bekam Thurnwald vom Reichskolonialamt den Auftrag, das Sepikgebiet zu erforschen. Als er auf dieser Forschungsreise 1914 vom Beginn des Ersten Weltkrieges überrascht wurde, erlaubten ihm die australischen Truppen, die die Kolonie übernahmen, in die USA auszureisen.[2]

Von 1915 bis 1917 arbeitete Thurnwald in Berkeley. Bei Eintritt der USA in den Krieg musste er 1917 nach Deutschland zurückkehren.[2] Er habilitierte sich in Halle und nahm 1924 eine Lehrtätigkeit in Berlin an. 1925 gründete er die „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie“ (heute: Sociologus). 1930 unterbrach er seine Lehrtätigkeit für eine Forschungsreise seiner Frau, Hilde Thurnwald, die den Auftrag vom International Institute of African Languages and Cultures bekam, den Kulturwandel in den ehemals deutschen Kolonialgebieten, im Tanganyikagebiet zu erforschen. Das International African Institute wurde 1926 in London gegründet und sah u.a. seine Aufgabe in der Missionsarbeit. Von dort aus lud ihn die Yale-Universität zu einer Gastvorlesung ein und infolgedessen erhielt Thurnwald eine Gastprofessur in Harvard. 1932 bekam er vom Australian National Research Council den Auftrag, den Kulturwandel in Bougainville aufzuzeichnen.

Spätestens 1937 war er nach Deutschland zurückgekehrt, wo er eine außerordentliche Professur an der Universität Berlin erhielt. Er war 1943 Gutachter bei Eva Justins Dissertation Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen, einem Beitrag zur nationalsozialistischenZigeunerforschung“.[1]

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Professor an der Freien Universität Berlin.

Forschungsresultate

Ein klassischer Befund Thurnwalds ist die Beobachtung, dass ständig Mangel leidende Bevölkerungsgruppen wohl sparen, aber nicht, um das Ersparte später zu einer systematischen Verbesserung ihrer Lage zu benutzen (um zu investieren), sondern lieber, um es in ausgiebigen Festen zu konsumieren. Dafür führte er den Begriff der „Ventilsitte“ ein.

Ehrungen

Am Oberlauf des Sepik in Papua-Neuguinea erinnert eine Gebirgskette, das Thurnwald-Gebirge, an den Forschungsreisenden Richard Thurnwald.

Hauptwerke

  • Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen. de Gruyter, Berlin [u.a.]
    • Band 1: Repräsentative Lebensbilder von Naturvölkern. 1931
    • Band 2: Werden, Wandel und Gestaltung von Familie, Verwandtschaft und Bünden im Lichte der Völkerforschung. 1932
    • Band 3: Werden, Wandel und Gestaltung der Wirtschaft im Lichte der Völkerforschung. 1932
    • Band 4: Werden, Wandel und Gestaltung von Staat und Kultur im Lichte der Völkerforschung. 1935
    • Band 5: Werden, Wandel und Gestaltung des Rechtes im Lichte der Völkerforschung. 1934
  • (Hg.): Lehrbuch der Völkerkunde. 2., teilw. veränd. Auflage, Enke, Stuttgart 1939 (in 1. Auflage herausgegeben von Konrad Theodor Preuss. Unter Mitwirkung von Fachgenossen)
  • mit Hermann Baumann und Diedrich Westermann: Völkerkunde von Afrika. Mit besonderer Berücksichtigung der kolonialen Aufgabe. Essener Verlagsanstalt, Essen 1940

Literatur

Sekundärliteratur:

  • Hermann Trimborn: Richard Thurnwald. In: Zeitschrift für Ethnologie. Band 79, 1954, S. 254–260
  • Marion Melk-Koch: Auf der Suche nach der menschlichen Gesellschaft: Richard Thurnwald. Reimer, Berlin 1989

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 625.
  2. a b Heinzpeter Znoj: Geschichte der Sozial- und Kulturanthropologie. Vorlesung: Die deutsche Völker- und Rassenkunde während der Nazi-Herrschaft. Universität Bern, Institut für Sozialanthropologie

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