Geist der Neuzeit

Geist der Neuzeit

Geist der Neuzeit (GdN) ist das 1935 erschienene letzte große Werk des bereits 80-jährigen Ferdinand Tönnies (1855-1936). In ihm unternimmt der Begründer der Soziologie in Deutschland es, den entscheidenden Umbruch vom europäischen Mittelalter zur weltumspannenden Neuzeit soziologisch-begrifflich zu bestimmen und im Einzelnen zu erschließen. Genau genommen ist es der allgemeine, theoretische erste Teil eines zweiteilig geplanten Werkes. Band II sollte exemplarische Einzeluntersuchungen vorlegen; jedoch ist dessen Manuskript im Zuge der Verfolgung Tönnies’ und seiner Schüler durch die Nationalsozialisten verloren gegangen.[1]

Inhaltsverzeichnis

Ziel des Werkes

Der „Geist der Neuzeit“ ist von Tönnies vermutlich schon in den 1880er Jahren ins Auge gefasst worden[2], so dass es sein Grundlagenwerk der „reinen Soziologie“, Gemeinschaft und Gesellschaft (GuG) von 1887, flankiert hätte. GuG hatte die Aufgabe gehabt, das Fach der Soziologie axiomatisch zu fundieren und seinen Erkenntnisgegenstand – die Antwort auf die Frage, warum Menschen einander bejahen[3] – begrifflich unverwechselbar fest zu legen; GdN aber sollte - als „angewandte Soziologie“ - die gewonnenen Begriffe deduktiv auf einen konkreten und zentralen gesellschaftlichen Prozess anwenden, nämlich auf die Entstehung der Moderne.

Lage des Autors

Immer wieder von anderen Arbeitsvorhaben, am nachhaltigsten kurz vor der Niederschrift vom Ersten Weltkrieg aufgehalten, hat Tönnies dies Vorhaben nie ganz aufgegeben und allerdings erst 1935 auf Drängen seiner Schüler[4] mit deren redaktioneller Hilfe seine Vorstudien zu diesem Werk vereinigt.

Inhaltliches Vorgehen

Tönnies geht in sechs Schritten vor:

  1. Der erste Abschnitt (§§ 1-12) ist begrifflich (was sind „Antike“, „Mittelalter“ oder „Neuzeit“?). Nach Tönnies hat die Antike (vergleichend gesehen) ihr eigenes ‚Mittelalter‘ und ihre eigene ‚Neuzeit‘ gehabt.
  2. Zweiter Abschnitt (§§ 13-35): Tönnies sieht den wesentlichen mentalen Unterschied zwischen Mittelalter und Neuzeit darin, dass die mittelalterlich geprägten Menschen alle sozialen Verbände als Einrichtungen begriffen hätten, zu deren Zweck der Einzelne als deren Mittel da sei. Dies habe ihnen erlaubt, einander sozial zu bejahen. In Tönnies’ Begriffen betrachteten sie alle sozialen Kollektive (Samtschaften, soziale Verbände usf. - sogar Geschäftsunternehmen) als „Gemeinschaften“. Diese Weltauffassung sei zunächst nur langsam (evolutionär) geschwunden, währenddessen sich zunächst der Individualismus, die Zeit der „großen Persönlichkeiten“, auszubilden vermochte.
  3. Dritter Abschnitt (§§ 36-51): Revolutionär habe dann die Neuzeit eingesetzt: Nunmehr betrachteten die Menschen sich selber als Zweck, sie hätten immer stärker alle Kollektive als bloße Mittel dafür angesehen, und zwar vor allem im ökonomischen, dann aber auch im politischen und mentalen Gebiet. Auch dies habe ihnen erlaubt, einander zu bejahen, jetzt aber betrachten sie alle Kollektive (bis hin zur Familie) als „Gesellschaften“.
  4. Vierter Abschnitt (§§ 52-57): Über den Fernhandel globalisiert sich der Geist der Neuzeit.
  5. Fünfter Abschnitt (§§ 58-72): Hier entwickelt Tönnies die „bewegenden Kräfte der sozialen Entwicklung“ – die natürlichen, dann die sozialen – erst schlechthin, dann insbesondere für die Neuzeit, zuletzt in ihrer geistigen Ausprägung.
  6. Abschließend (§§ 71-82) prüft Tönnies die Beziehungen zwischen dem wirtschaftlichen, dem politischen und dem geistig-moralischen Leben, hebt Wechselwirkungen hervor und ufert bei der „soziologischen Auffassung der Geschichte“.

Dass eine durchgehend von „gesellschaftlich“ geprägten Auffassungen sozialer Vergesellung (Bejahung) geprägte „Neuzeit“ in wenigen Jahrhunderten ihr Ende nehmen werde, sieht Tönnies voraus. Um seine Schlusssätze zu zitieren, geschrieben unter der nationalsozialistischen Diktatur: Demgegenüber[5] muß der wahre Soziologe um so unbedingter und entschiedener die Partei der Wissenschaft nehmen, welche auch immer ihre Wirkungen seien; auch wenn man nicht nur zugesteht, sondern positiv darauf besteht, daß die Macht der Wissenschaft vorzugsweise dem absteigenden Ast einer sozialen Gesamtentwicklung angehöre, denn auch der Abstieg ist naturnotwendig, also gesetzlich bedingt, und es ist noch kein Grund, die Vermutung aufzugeben, daß er immer die unerläßliche Bedingung eines neuen Aufstiegs und Fortschrittes, also unter Umständen einer neuen großen Kulturepoche sei. Diese Zuversicht ist vielmehr in der Einsicht der allgemeinen Bedingungen menschlicher Entwicklung begründet.

Wirkung

Da Tönnies seit 1933 im Deutschen Reich wissenschaftlich eigentlich gar nicht mehr publizieren konnte, war es ein besonderer Glücksfall, dass ein Antiquar und Kleinverleger wie Hans Buske[6] in Leipzig es wagte, das Buch des von den Nazis entlassenen Professors Tönnies zu veröffentlichen. Wirkungsgeschichtlich war dies aber auch ein Unglück, dass gerade diese bedeutende Studie Tönnies’ 1935 von den wenigsten Bibliotheken angeschafft wurde, fast völlig unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschien und nicht rezensiert wurde. Erst 1971 schloss die eingehende Studie von Georg Jacoby zur „modernen Gesellschaft“ diese Rezeptionslücke. Seit 1998 steht der „Geist der Neuzeit“ nunmehr im Rahmen der kritischen Gesamtausgabe der Wissenschaft zur Verfügung.

Anmerkungen

  1. Vgl. den Editorischen Bericht in Band 22 der Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, 1998, S. 520.
  2. a.a.O., S. 518.
  3. Die „gegenseitige Bejahung“ war für Tönnies deswegen erklärungsbedürftig, weil er die gegenseitige Verneinung, den „Kampf Aller gegen Alle“ des Thomas Hobbes, als den Naturzustand des Menschen ansah.
  4. Ernst Jurkat, Georg Jacoby, Heinrich Striefler; großes Verdienst kommt auch seiner letzten wissenschaftlichen Privatsekretärin Else Brenke zu – a.a.O, S. 519.
  5. d.i. gegenüber der eigentliche[n] Gesinnung aller konservativen und reaktionären Geister – a.a.O., S. 218
  6. a.a.O., S. 577

Kritische Ausgabe

  • Ferdinand Tönnies, Gesamtausgabe Band 22. 1932-1936. Geist der Neuzeit • Schriften • Rezensionen, hgg. v. Lars Clausen, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1998, S. 3-223, 518-520.

Literatur

  • Eduard Georg Jacoby: Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, Enke, Stuttgart 1971

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно решить контрольную?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Philosophie der Neuzeit — Die Philosophie der Neuzeit (17. und 18. Jahrhundert) ist ein Abschnitt der Philosophiegeschichte, der einerseits vom neuen naturwissenschaftlichen Weltbild (seit Nicolaus Copernicus und Galilei) und den dazugehörigen mathematischen Methoden… …   Deutsch Wikipedia

  • Hansebund der Neuzeit — Dieser Artikel befasst sich mit den Hansetagen der Neuzeit. Für die historischen Hansetage, siehe Hanse. Hansetage 2005 vor dem Rathaus von Tartu Städte, welche in der Vergangenheit dem Bund der Kaufmannsstädte – der Hanse – angehörten,… …   Deutsch Wikipedia

  • Hansetage der Neuzeit — Hansetage 2005 vor dem Rathaus von Tartu Städte, welche in der Vergangenheit dem Bund der Kaufmannsstädte – der Hanse – angehörten, begründeten im Jahre 1980 in der niederländischen Stadt Zwolle die seither weltweit größte freiwillige… …   Deutsch Wikipedia

  • Geist — (griechisch πνεῦμα pneuma,[1] griechisch νοῦς nous[2] und auch griechisch ψυχή psyche,[3] lat. spiritus,[4] mens[5] …   Deutsch Wikipedia

  • Antijudaismus in der Neuzeit — Antijudaismus ist jene vom Christentum geprägte Judenfeindlichkeit, die seit dem Entstehen der Kirche im 2. Jahrhundert das ganze Mittelalter durchzog, sich aber seit der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg differenzierte. Er entwickelte… …   Deutsch Wikipedia

  • Montesquieu: »Vom Geist der Gesetze« —   Als Landedelmann und Parlamentsrat in Bordeaux konnte sich der gebildete Jurist mit historischem Interesse Charles de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu einen weiteren Wirkungsbereich vorstellen als den, den der absolutistische Staat …   Universal-Lexikon

  • Deutschland in der Neuzeit — Dieser Artikel befasst sich mit der Geschichte Deutschlands in der Neuzeit. Er umfasst die Zeit von etwa 1500 bis 1918. Inhaltsverzeichnis 1 Frühe Neuzeit: Herrschaft Maximilians I. und Karls V. 1.1 Reformen im Reich 1.2 …   Deutsch Wikipedia

  • Neuzeit — Weltkarte aus der Ptolemäus Ausgabe von 1548 Die Neuzeit ist dem gängigen geschichtlichen Gliederungsschema zufolge nach Altertum und Mittelalter die dritte der historischen Großepochen und reicht bis in die Gegenwart. In der… …   Deutsch Wikipedia

  • Geist — Geist: Das westgerm. Wort mhd., ahd. geist, niederl. geest, engl. ghost gehört zu einer Wurzel *g̑heis »erregt, aufgebracht sein, schaudern«, vgl. aus dem germ. Sprachbereich got. us gaisjan »erschrecken« und aisl. geiskafullr »voller Entsetzen«… …   Das Herkunftswörterbuch

  • Der Ursprung des Kunstwerkes — ist eine Abhandlung des Philosophen Martin Heidegger aus den Jahren 1935 36, in welcher er sich mit der Frage auseinandersetzt, was die Kunst als Kunst ausmacht. Was die Kunst ist, soll also nicht durch wissenschaftliche Disziplinen wie etwa die… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”