Handlungsforschung

Handlungsforschung

Die in den Sozialwissenschaften gebräuchlichen Begriffe Handlungs-, Aktions-, und Tatforschung sind synonyme Übersetzungen des von Kurt Lewin geprägten Begriffs action research[1][2]. Er wollte als Kritik an einer rein experimentellen Sozialpsychologie eine Wissenschaft begründen, deren Hypothesen praxisnah sind und deren Implikationen zu Veränderungen im Sinne einer Problemlösung führen.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Die Tatforschung hat sich, obwohl ursprünglich ausschließlich in der Sozialpsychologie angesiedelt, über mehrere Generationen von Forschern in eine Vielzahl von Bereichen ausgefächert. Sie taucht heute insbesondere innerhalb interdisziplinärer Projekte in den Sozialwissenschaften auf. Innerhalb der Psychologie selbst findet sie kaum noch Anwendung.

Die erste Generation von Tatforschern

Der Gründungsvater der Tatforschung Kurt Lewin begründete diesen Ansatz als action research im Jahr 1944 als er einen Lehrstuhl am Massachusetts Institute of Technology inne hatte. Zum ersten Mal in der Literatur taucht sein Konzept in einem Artikel aus dem Jahr 1946 mit dem Titel Action Research and Minority Problems auf. Darin beschreibt er action research als vergleichende Forschung, die sich mit den Effekten zahlreicher Formen von sozialer Intervention sowie der Erforschung sozialer Veränderung widmet. Dabei beschrieb er die Methodik als eine sich immer wieder wiederholende Spirale von 3 Schritten: Planung, Handlung (also soziale Intervention) und Reflexion über die Resultate der Handlung.

Die zweite Generation von Tatforschern

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre verlieh eine zweite Generation von Tatforschern in Großbritannien und schließlich Australien der Tatforschung einen wesentlich kritischen Impetus, der in ganz Europa zunehmend Befürworter fand. Tatforschende stellten dabei in den Vordergrund, dass sozialwissenschaftliche Forschung immer schon normativ sei und die Forschenden im Bewusstsein ihrer sozialen Bedingtheiten ihre Arbeit als emanzipatorisch und politisch begreifen müssen.[3] In Deutschland griffen vor allem Pädagogen, Soziologen und Psychologen die Ansätze auf, um eine Alternative zu Forschungsstandards wie Objektivität und Neutralität innerhalb der Sozialwissenschaften zu generieren[4], waren diese doch länderübergreifend immer stärker in die Kritik geraten. Einerseits wurde eine zunehmende Loslösung und Abkopplung der Sozialwissenschaften von der sozialen Realität des Forschungsfeldes bemängelt.[5] Tatforscher beobachteten also, dass sich die Sozialwissenschaften paradoxerweise von ihrem eigenen Gegenstand distanzierten. Andererseits beobachteten sie, dass die Sozialwissenschaften durch den Anspruch auf Neutralität ein implizites Bündnis mit den sozialen Mächten und Definitionshoheiten eingingen, das gesellschaftliche Strukturen nicht verändere, sondern affirmiere und reproduziere.[6]

Die dritte Generation von Tatforschern

Eine dritte Generation von Tatforschern prägten schließlich Sozialarbeiter, Theologen und Pädagogen im Geiste sozialer Bewegungen in Lateinamerika und Afrika, die auch im englischsprachigen Ausland sowie besonders in Skandinavien immer stärker an Bedeutung gewann: participatory action research. Der durch Praktiker wie Paulo Freire, Orlando Fals Borda, Rajesh Tandon, Anisur Rahman und Marja-Liisa Swantz entwickelte Ansatz setzt auf eine Verbindung von Wissenschaft und sozialem Engagement. Fals-Borda schreibt dazu: "Man muss (theoretisches) Studium und (praktische) Aktion miteinander verbinden, um gegen die Bedingungen der Abhängigkeit und der Ausbeutung zu arbeiten, die uns mit allen ihren degradierenden Konsequenzen und Unterdrückungsmechanismen charakterisiert und bestimmt hat. Dies zeigt sich deutlich an unserer Kultur der Imitation und der Armut und am Mangel an sozialer und ökonomischer Partizipation, der unser Volk kennzeichnet."[7] Die Partizipation der Forschenden an sozialen Projekten war dementsprechend namensgebend für den Ansatz des participatory action research. Er sollte ein Bewusstsein sozialer Veränderbarkeit entwickeln, das Freire conscientizacao nannte.[8][9] Indem die Menschen verstehen, inwiefern ihre sozialen Praktiken durch materielle, soziale und historische Umstände begründet sind, so die Hoffnung, bekommen sie eine neue Perspektive auf mögliche Wege der Transformation der jeweiligen Umstände, die sie durch ihr tägliches Handeln produzieren und reproduzieren.

Diese Ausrichtung sozialwissenschaftlicher Forschung hat zur Folge, dass aus dem Verhältnis von Forschenden und Beforschten eine auf gemeinsame Aktion und Reflexion ausgerichtete Arbeitsbeziehung zwischen Forschern und zu Co-Forschern ausgebildeten Subjekten entsteht. Eine Arbeitsbeziehung, die den bereits von Lewin konzipierten zyklischen Forschungsverlauf folgt: Die Projektplanung geht in konkrete Handlung über, die gemeinsam beobachtet und ausgewertet wird und schließlich zu einer erneuten Planung führt, die weitere Aktionen anstößt. Ziel des Forschungsprozesses ist Realitätshaltigkeit und Transparenz, Praxisrelevanz und Interaktion; eher sekundär, falls überhaupt, wird die Generalisierbarkeit von Ergebnissen angestrebt.[10]

Kritik

Der Tatforscher Heinz Moser fragt Ende der 70er Jahre, was nun jedoch der konkrete Inhalt solcher gemeinschaftlicher Aktions-Reflexions-Prozesse ist und welchen Dilemmata sie sich eventuell gegenübersehen. Er schreibt "Vielfach bleibt es bei kargen Hinweisen auf 'Emanzipation', 'gesellschaftliche Veränderung', 'Appell an die Humanisierung der Menschheit'. Die Subjekt-Werdung, von der Aktionsforscher nicht aufhören können zu sprechen, scheint letztlich aber eine Abstraktion zu sein: Eine Abstraktion von konkreten historisch-gesellschaftlichen Prozessen, in denen solche Subjekt-Werdung stattfinden kann."[11] Diese Abstraktion würde nur unzureichend in die soziale Praxis übersetzt werden, so dass der Aktions-Reflexions-Prozess auf die Handlungen im Hier und Jetzt reduziert werde und die Gefahr eines verschwiegenen Induktivismus bestehe, der auf eine scheinbare Unmittelbarkeit setzt, welche vergißt, daß alle unsere Erfahrungen durch Erwartungshorizonte vorstrukturiert sind. Aus diesem Grund sieht sich der Ansatz trotz vielfältiger Verweise auf neomarxistische, kommunitaristische oder menschenrechtliche Theorien mit dem Vorwurf einer Untertheoretisierung konfrontiert[12][13], die, zugespitzt, in der Kritik mündet, dass gewissen Ideologien gefolgt werde, die nicht explizit gemacht würden und die Reflexion somit auf einen pragmatischen Zielabgleich reduziert werde.[14] Dies kann wiederum in beiden Phasen, der Aktion und der Reflexion, zu Abhängigkeiten gegenüber dem Forscher führen, der implizit die Federführung übernimmt und so kein gemeinsam verfügbares Wissen schafft, das von den Teilnehmenden selbständig genutzt werden könnte.

Ziele, Verfahren und Problematik

Ziel der Aktionsforschung ist es, an konkreten Problemen aus der Praxis anzusetzen und direktes soziales Handeln zu ermöglichen. Die Beziehung zwischen Forscher und Betroffenen zeichnet sich durch symmetrische Kommunikationsstrukturen aus: Denn eine Forschung, die nichts anderes als Bücher hervorbringe, nütze dem Individuum nicht.[15]

Der Aktionsforschung wird gelegentlich mangelnde Wissenschaftlichkeit vorgeworfen. Die Begründung dafür liegt im Anliegen der Aktionsforschung. Sobald der Forscher versucht, die Handlungen von Personen in politischer oder moralischer Absicht aktiv zu beeinflussen, verschwindet der Unterschied zwischen Wissenschaft und Ideologie.[16]

Aktionsforschung in Pädagogik und Didaktik

Besonders geeignet für den Ansatz der Aktionsforschung sind die Pädagogik und die Didaktik und hier besonders die Methodik: durch die intensive Zuwendung zum Forschungsgegenstand „Unterricht“ wird die Praxisrelevanz der Ergebnisse im Vergleich zu hermeneutischen Verfahren stark erhöht. Allerdings wird dieser Forschungsansatz nur von wenigen Wissenschaftlern gewählt, weil er sehr zeit- und arbeitsintensiv ist [17].

Quellen

  1. Lewin, K. 1948. Tat-Forschung und Minderheitenprobleme. In K. Lewin (Ed.), Die Lösung sozialer Konflikte (pp. 278-298). Bad-Neuheim: Christian-Verlag.
  2. Lewin, K. 1952. Group Decision and Social Change. In T. M. Newcomb & E.E. Hartley (Eds.), Readings in social psychology (pp. 459-473). New York: Holt
  3. Stangl, W. 1997. Handlungsforschung. Zuletzt abgerufen am 30. Juli 2008: http://www.stangl-taller.at/ARBEITSBLAETTER/FORSCHUNGSMETHODEN/Handlungsforschung.shtml
  4. Schneider, U. 1980. Sozialwissenschaftliche Methodenkrise und Handlungsforschung. Frankfurt/Main: Campus
  5. Greenwook, D., & Levin, M. 2005. Reform of the social sciences, and of universities through action research. In N. Denzin & Y. Lincoln (Eds.), Handbook of qualitative research (3rd ed., pp. 43-64). Thousand Oaks, CA: Sage.
  6. Kemmis, S., & McTaggart, R. 2005. Participatory action research: Communicative action and the public sphere. In N. Denzin & Y. Lincoln (Eds.), Handbook of qualitative research (3rd ed., pp. 559-603). Thousand Oaks, CA: Sage.
  7. Fals Borda, O. 1978. Über das Problem, wie man die Realität erforscht, um sie zu verändern. In H. Moser & H. Ornauer (Eds.), Internationale Aspekte der Aktionsforschung (pp. 78-112). München: Kösel.
  8. Freire, P. 1982. Creating alternative research methods: Learning to do it by doing it. In B. Hall, A. Gillette, & R. Tandon (Eds.), Creating knowledge: A monopoly? (pp. 29-37). New Delhi: Society for Participatory Research in Asia.
  9. Freire, P. 1996/1973. Pedagogy of the oppressed. London: Penguin
  10. Whyte, W. F., Greenwood, D. F., & Lazes, P. 1991. Participatory action research: Through practice to science in social research. In W. F. Whyte (Ed.), Participatory action research (pp. 19-55). Newbury Park, CA: Sage.
  11. Moser, H. 1978. Einige Aspekte der Aktionsforschung im internationalen Vergleich. In H. Moser & H. Ornauer (Eds.), Internationale Aspekte der Aktionsforschung (pp. 173-189). München: Kösel
  12. Markard, M. 1993. Methodik subjektwissenschaftlicher Forschung. Jenseits des Streits um qualitative und quantitative Methoden. Berlin: Argument
  13. Kapoor, I. 2002: The devil’s in the theory: A critical assessment of Robert Chambers’ work on participatory development. In Third World Quarterly, 23(1), 101-117
  14. Habermas, J. 1978. Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln. In J. Habermas (Ed.), Theorie und Praxis. Frankfurt/Main: Suhrkamp
  15. siehe Kurt Lewin, 1953, S.280
  16. vgl. Schnell - Hill - Esser 1999; S. 88.
  17. Ein Beispiel ist Jean-Pol Martin, der zwischen 1981 und 2000 ausschließlich am Projekt (Lernen durch Lehren) gearbeitet hat. Jean-Pol Martin (1998): Das Projekt 'Lernen durch Lehren' - fachdidaktische Forschung im Spannungsfeld von Theorie und selbsterlebter Praxis. In: Liedtke, M. (Hg.): Gymnasium: neue Formen des Unterrichts und der Erziehung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, S.151-166. Bei Martin handelt es sich allerdings um einen Sonderfall, denn er lässt nicht Praktiker ihren Unterricht dokumentieren, so wie traditionnelle Aktionsforscher es als "kritische Freunde" tun, sondern er erforscht seine eigene Praxis als Lehrer, ist also sowohl Subjekt als auch Objekt seiner eigenen Forschung. Die Frage stellt sich, ob dieselbe Person in der Lage ist, sich selbst mit der notwendigen Distanz als Gegenstand zu beobachten und wissenschaftlich zu erforschen?

Literatur

  • Burns, D. 2007. Systemic Action Research: A strategy for whole system change. Bristol: Policy Press.
  • Herbert Altrichter, Peter Posch: Lehrer erforschen ihren Unterricht - Eine Einführung in die Methoden der Aktionsforschung. Dritte Auflage. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. ISBN 3-7815-0933-8. 1998

Weblinks


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