Horizontale Kollaboration

Horizontale Kollaboration

Horizontale Kollaboration tauchte als Sonderform des Begriffs Kollaboration im Zweiten Weltkrieg nach dem 6. Juni 1944, dem Beginn der Befreiung Frankreichs, auf. Er bezog sich auf französische Frauen, denen der Vorwurf gemacht wurde, sich während der deutschen Besatzungszeit (1940-1944) mit deutschen Soldaten auf sexuelle Verhältnisse eingelassen zu haben. Nach dem Krieg konnte er sich auch auf die sexuellen Beziehungen von französischen Frauen zu deutschen Männern beziehen, die als Kriegsgefangene z. B. bei französischen Bauern arbeiteten.
Inzwischen gehört der Begriff in der in Nord- und Westeuropa erfolgenden Aufarbeitung deutscher Besatzungsfolgen zum Vokabular in der entsprechenden Literatur.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Beginn der Aufarbeitung nach 50 Jahren

Das mit „horizontaler Kollaboration“ Umschriebene war für Jahrzehnte nicht nur aus der französischen Öffentlichkeit, sondern ähnlich in allen von der Wehrmacht besetzten Teilen Europas mit der Tabuierung aller daran Beteiligten – der Täter wie der Opfer – verschwunden, wie es in Osteuropa weiterhin der Fall ist. Erst seit den 1990er Jahren setzte wie überall auch in Frankreich eine inzwischen landesweite Aufarbeitung ein, so dass der französische Außenminister Bernard Kouchner auf diplomatischer Ebene sich in Berlin seit 2008 bemüht, den inzwischen alt gewordenen „enfants de Boches“ (= „Deutschenkinder“) Anerkennung widerfahren zu lassen. Sie können jetzt auf Antrag die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen.[1]

Kollektivrache an Frauen und Besatzungskindern

Marc Bergère (Universität von Rennes 2) stellt fest, dass es keinen sozialen Determinismus gab, der bei über 20.000 Frauen mehr oder weniger spontan „horizontale Kollaboration“ diagnostizierte und zum Scheren ihrer Haare führte. Entscheidend sei die Nähe zum Besatzer gewesen. Dabei sei es nicht in erster Linie um sexuelle Kontakte mit den Deutschen gegangen, sondern es genügte, Büroangestellte, Haushaltshilfe, Köchin, Wäscherin oder im Hotel- und Restaurationsgewerbe oder Gesundheitsdienst tätig gewesen zu sein, um sich dem Verdacht der „Germanisierung“ ausgesetzt zu haben. Dahinter habe das in der „Libération“ nach dem 6. Juni 1944 zum Zuge kommende Wiederaufleben und Verherrlichen männlicher Werte und männlicher Ordnung gestanden.[2]

Besonders problematisch war die Situation für solche Frauen, die wirklich ein Verhältnis mit einem Deutschen und aus dieser Beziehung Kinder hatten. Jean-Paul Picaper schätzt die Zahl dieser Kinder auf 200.000.[3] Sie waren stigmatisiert wie ihre Mütter und galten als „enfants maudits“ (= „verdammte Kinder“) ähnlich wie die Kinder deutscher Soldaten in Norwegen (siehe Tyskerbarn) und Dänemark[4]. Die Mütter, die man abwertend als tyskertøser (etwa: „Deutschenflittchen”) bezeichnete, wurden einem öffentlichen Schauspiel, das oft Festcharakter hatte, ausgesetzt,[5] konnten nach dem Scheren der Haare zusätzlich beschmiert, entkleidet und zur Verhöhnung auf der Straße der Menge ausgesetzt werden.[6]
Für Picaper zeigt sich in diesen Vorgängen, dass in Krisenzeiten die Frau ihre „erotische Selbstbestimmung“ verliere und ihr Körper „Nationaleigentum“ werde. Wähle sie den „falschen Sexualpartner“, werde nach der Befreiung von der Besatzungsmacht von den Befreiten ihr Körper behandelt, als handle es sich um Gemeineigentum, und die Rache an ihm vollzogen. Diese Rache sei archaischen Ursprungs, zeige sich in der Geschichte in entsprechenden Situationen immer wieder[7] und sei mit Samson auch biblisch überliefert, der mit dem Verlust seiner Haare auch seine Individualkraft verloren habe. Das Scheren der französischen Frauen habe sie aus der nationalen Gemeinschaft ausstoßen, aus der bürgerlichen Gesellschaft vertreiben und sie „entweiblichen“ sollen.[8] Von daher konnten die von ihnen geborenen Kinder nur als „verflucht“ gelten, denn eigentlich hätten sie nur Kinder von französischen Männern gebären dürfen und sollten jetzt, geächtet und „entweiblicht“, nie mehr gebären.

Auf deutscher Seite folgt Klaus Theweleit im Vorwort zu Ebba D. Drolshagens Buch „Nicht ungeschoren davonkommen“ (1998) auf der Grundlage der in seinen Untersuchungen von 1977/78 über Männerphantasien in Nationalismus und Faschismus zusammengetragenen Ergebnisse einem ähnlichen Gedankengang zur „Nationalisierung“ des Frauenkörpers in Krisenzeiten.

Lyrik, Chanson, Comic und Film

Paul Eluard schrieb 1944 sein um Verstehen ringendes Gedicht „Comprenne qui voudra“ (= „Verstehe, wer da will“). Georges Brassens widmete auf seinem Album von 1964 „Les copains d’abord“ einer Geschorenen ein Lied: „La tondue“.
Das Scheren von Frauen war zweimal in bemerkenswerten französischen Filmen zu sehen, lange bevor die öffentliche Aufarbeitung begann: zum ersten Mal 1959 in ausführlicher Darstellung in Hiroshima, mon amour von Alain Resnais nach dem Drehbuch von Marguerite Duras und 1967 in der Schlussszene von Claude BerrisDer alte Mann und das Kind“ („Le Vieil homme et l'enfant“).
2009 ist das Thema im Comic angekommen und erfährt eine auf zwei Bände angelegte Umsetzung unter dem Titel „L'Enfant Maudit“ mit „Les Tondues“ als erstem Band.[9]

  • Film: Feindeskind. Mein Vater war ein deutscher Soldat. Dokumentation Susanne Freitag & Claudia Döbber. Sender Phoenix, 9. Januar 2010

Einzelnachweise

  1. Anerkennung der Kinder deutscher Soldaten durch Berlin. Vgl. auch AFP: Französische Wehrmachtskinder begrüßen Doppelnationalität
  2. Marc Bergère, Tous les milieux sociaux ont été visés, S. 56 f. in: Historia, Nr. 693, Paris, September 2004, S. 56-60.
  3. Die „vergessenen Kinder“. (nicht mehr online verfügbar) Nach Ebba D. Drolshagen (2005, S. 9) liegt die Anzahl deutscher Wehrmachtskinder europaweit zwischen einer und zwei Millionen.
  4. Vgl. Verena Stössinger
  5. Dazu konnte es zu Beginn des Krieges auch in Deutschland kommen, wenn sich deutsche Frauen mit den ersten Kriegsgefangenen oder „Fremdarbeitern“ einließen: Festzug in Ludwigsburg am 7. Juli 1941. Durch ein Rundschreiben Martin Bormanns vom 13. Oktober 1941 wurden dem Schranken gesetzt. Da man außenpolitischen Schaden besonders bei verbündeten und befreundeten Ländern, die Fremdarbeiter für das Reich stellten, vermeiden wollte, war jegliche Form der öffentlichen Anprangerung von Volksgenossen und Volksgenossinnen, „die sich im Verkehr mit Ausländern würdelos benehmen“, ab diesem Zeitpunkt verboten. Darunter fielen „die Anprangerung in der Presse, das Abschneiden der Haare, die Zurschaustellung am Pranger, das Herumführen solcher Personen mit entsprechenden Schildern.
  6. Siehe hierzu Robert Capa: Chartres, August 1944
  7. Vgl. hierzu auch die von Franquisten geschorene Geliebte María von Robert Jordan in Hemingways Wem die Stunde schlägt.
  8. Jean-Paul Picaper, Humiliées par les ‚chasseurs de scalps‘, S. 67, in: Historia, Nr. 693, Paris, September 2004, S. 64-67.
  9. Vgl. Horizontale Kollaboration im Comic

Literatur

  • Ebba D. Drolshagen, Wehrmachtskinder. Auf der Suche nach dem nie gekannten Vater, Droemer Knaur München 2005; ISBN 3-426-27357-8.
  • Ebba D. Drolshagen, Nicht ungeschoren davonkommen. Das Schicksal der Frauen in den besetzten Ländern, die Wehrmachtssoldaten liebten. Mit einem Vorwort von Klaus Theweleit. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1998; ISBN 3455112625.
  • Alain Brossat, Les tondues. Un carnaval moche. Paris 1992. (= erstes Buch, das in Frankreich zum Thema "Horizontale Kollaboration" erschien)
  • Christine Künzel, Gaby Temme (Hg.),Täterinnen und/oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen, LIT Verlag Münster-Hamburg-Berlin-Wien-London-Zürich 2007; ISBN 978-3-8258-8968-5.
  • Jean-Paul Picaper, Ludwig Norz: Die Kinder der Schande. Das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich. Piper München-Zürich 2005. ISBN 3-492-04697-5
  • Fabrice Virgili, La France „virile“. Des femmes tondues à la Libération (nouvelle édition), Payot & Rivages Paris 2004; ISBN 2-228-89857-0.

Siehe auch


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