Althochdeutscher Tatian

Althochdeutscher Tatian

Der Althochdeutsche Tatian ist eine Übersetzung der Evangelienharmonie des Tatianus ins Althochdeutsche. Die Übersetzung wurde um das Jahr 830 im Kloster Fulda unter der Leitung von Hrabanus Maurus angefertigt und befindet sich seit dem 10.Jhd. im Kloster St. Gallen.

Inhaltsverzeichnis

Das Werk und seine Überlieferung

Neben dem Althochdeutschen Isidor ist der Althochdeutsche Tatian die zweite große übersetzerische Leistung aus der Zeit Karls des Großen. Der Althochdeutsche Tatian ist zweisprachig: Lateinisch - Althochdeutsch. Das Diatessaron, eine Evangelienharmonie des Syrers Tatianus (um 170 n. Chr.), wurde dabei mit einer Abschrift aus dem Bonifatiuscodex (Cod. Bonifat. I) zu einer Bilingue verbunden.

Neben der einzig erhaltenen Handschrift G, die sich heute in St. Gallen befindet (Cod. Sangall. 56), werden weitere Handschriften vermutet. Darauf deuten Auszüge auf den Rändern der „Altdeutschen Gespräche“ (Paris, Bibl. Nat., Ms. Lat. 7461) und auch Textproben aus „De literis et lingua Getarum siue Gothorum“ (1597) des Bonaventura Vulcanius. Diese Textproben verweisen auf eine Handschrift, deren unvollständige Abschrift heute in der Bodleian Library in Oxford (Ms. Jun. 13) zu finden ist.

Stilistik

Der Althochdeutsche Tatian ist vorwiegend eine Wort-für-Wort-Übersetzung, die als bilingualer Text in zwei Spalten aufgeteilt ist. Links zeigt sich der lateinische Text, rechts die althochdeutsche Übersetzung in der gleichen Zeilen- und Wortfolge.

Diese Wort-für-Wort-Übersetzung wird nur teilweise durch eine freiere Übersetzungstechnik ersetzt. Der deutsche Text erscheint dabei dem lateinischen Text untergeordnet. Darauf deuten die Gliederung der Absätze und die Hervorhebung des lateinischen Textes durch Initialen hin. Die Forschung unterscheidet sechs Schreiber mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Schreibstilen, das lässt die Überlieferung uneinheitlich erscheinen. Überwiegend dominiert der Fuldaer Schreibstil.

Leseprobe

Abschnitt 97
Lukas 15, 11-31: Der verlorene Sohn :

Latein

Ait autem: homo quidam habuit duos filios. 12. Et dixit adolescentior ex illis patri: pater, da mihi portionem substantiae quae me contingit. Et divisit illis substantiam. 13. Et non post multos dies congregatis omnibus adolescentior filius peregre profectus est in regionem longinquam et ibi dissipavit substantiam suam vivendo luxuriose.

Althochdeutsch

Quad tho: sum man habata zuuene suni. Quad tho der iungoro fon then themo fater: fater, gib mir teil thero hehti thiu mir gibure. Her tho teilta thia héht. Nalles after manegen tagon gisamonoten allen ther iungoro sun elilentes fuor in uerra lantscaf inti dar ziuuarf sina héht lebento uirnlustigo.

14. Et postquam omnia consummasset, facta est fames valida in regione illa, et ipse coepit egere. 15. Et abiit et adhaesit uni civium regionis illius, et misit illum in villam suam, ut pasceret porcos. 16. Et cupiebat implere ventrem suum de siliquis quas porci manducabant, et nemo illi dabat.

Inti after thiu her iz al uorlós, uuard hungar strengi in thero lantscefi; her bigonda tho armen. Inti gieng inti zuoclebeta einemo thero burgliuto thero lantscefi, inti santa inan in sin thorf, thaz her fuotriti suuin. Inti girdinota gifullen sina uuamba fon siliquis theo thiu suuin azzun, inti nioman imo ni gab.

Intention des Werkes

1. Hintergrund der Bibelübersetzungen im 8. und 9. Jahrhundert ist die Mehrsprachigkeit im Karolingerreich. Das brachte für die Herrscher jener Zeit die Herausforderung mit sich, christliche Glaubensgrundlagen in einer verständlichen Sprache für alle christlichen Bewohner des Frankenreiches verfügbar zu machen. Diese Tatsache muss im Zusammenhang mit den von Karl dem Großen erlassenen Vorschriften zur Vermittlung von Glaubensinhalten (Admonitio generalis, 789 n. Chr.), den Sachsenkriegen dieser Zeit und der Synode von Frankfurt (794 n.Chr.) gesehen werden. Dadurch kam es um 800 zur Entstehung vieler Übersetzungen von Glaubens- und Gebrauchstexten für das kirchliche Leben. Somit könnte diese Schrift aus dem Kloster Fulda letztendlich dazu beigetragen haben, die Missionierungsabsichten der christlichen Herrscher des Abendlandes zu unterstützen bzw. zu beschleunigen.

2. In der Ausbildung von Klerikern könnte der Althochdeutsche Tatian als Vorstufe für das Studium der einzelnen Evangelien gedient haben. Diejenigen, die des Lateinischen noch wenig oder gar nicht mächtig waren, konnten somit das Original besser verstehen. Für Lateinkundige mag das Original als Kontrolle der Übersetzung gedient haben.

Bedeutung des Werkes

Der Althochdeutsche Tatian ist eines der großen althochdeutschen Werke, neben dem Werk Notkers von St. Gallen und Otfrids von Weißenburg. Die sprachgeschichtliche Bedeutung liegt darin, dass hier zum ersten Mal ein einheitlicher deutscher Text dokumentiert ist und Einblicke in sprachhistorische Entwicklungen und den althochdeutschen Wortschatz gibt. Zudem beeinflusste der Althochdeutsche Tatian den Heliand (besonders im Hinblick auf die Stoffauswahl).

Siehe auch

Literatur

  • Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Reclam, Stuttgart 2005 (UB 9485). ISBN 3-15-009485-2
  • Deutsches Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearb. Aufl. (Hrsg.) Bruno Berger u. Heinz Rupp. Bd. 1. Bern, München: Francke Verlag 1968, S. 84f.
  • Ernst Hellgardt: Althochdeutscher Tatian. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. (Hrsg.) Walther Killy. Bd. 2. Gütersloh, München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1991, S. 307 f. ISBN 3-570-04672-9
  • D. Kartschoke: Tatian, ahd. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München: Lexma Verlag 1997. S. 490. ISBN 3-89659-908-9
  • Hans Jürgen Koch (Hrsg.): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Mittelalter I. Reclam, Stuttgart 2006 (UB 9601). ISBN 3-15-009601-4
  • Meineke/Schwerdt: Einführung in das Althochdeutsche. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2001. S. ISBN 3-8252-2167-9
  • Stefan Sonderegger: Sprachgeschichtliche Aspekte der europäischen Christianisierung. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2.2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. (Hrsg.) Werner Besch [u.a.]. Bd. 2. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2000, S. 1030 – 1061. ISBN 3-11-015882-5
  • Klaus-Gunther WesselingTatian der Syrer. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 11, Herzberg 1996, ISBN 3-88309-064-6, Sp. 552–571.

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Tatian — (lat. Tatianus) war ein christlicher Apologet des 2. Jahrhunderts ostsyrischer Herkunft, daher auch Tatian der Assyrer genannt. Inhaltsverzeichnis 1 Leben und Wirken 2 Literatur 3 Weblinks …   Deutsch Wikipedia

  • Althochdeutscher Isidor — Der Althochdeutsche Isidor ist eine Übersetzung von Schriften des Isidor von Sevilla, die gegen Ende des 8. Jahrhunderts in Lothringen entstanden sind. Der Name des Übersetzers ist nicht bekannt. Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung und Aufbau 2… …   Deutsch Wikipedia

  • Althochdeutsche Dichtung — Zur althochdeutschen Literatur werden alle deutschsprachigen Textzeugnisse gerechnet, die zwischen um 780 und 1050 entstanden. Dazu gehören im engeren Sinn Textzeugnisse in alemannischer, bairischer und fränkischer Schreibsprache. Obwohl die… …   Deutsch Wikipedia

  • Althochdeutsche Literatur — Zur althochdeutschen Literatur werden alle Textzeugnisse gerechnet, die im hochdeutschen Sprachraum um 780 und 1050 entstanden. Dazu gehören im engeren Sinn Texte in alemannischer, bairischer und fränkischer Schreibsprache. Obwohl die… …   Deutsch Wikipedia

  • Evangelienharmonie — Eine Evangelienharmonie (lat. harmonia evangelica, harmonia evangeliorum) versucht unter Berücksichtigung aller Daten über das Leben und Wirken Jesu, die in den vier kanonischen Evangelien genannt werden, eine einheitliche Lebens und… …   Deutsch Wikipedia

  • Codex Sangallensis — Als Codex Sangallensis werden Manuskripte der Sammlung Codices Sangallenses bezeichnet, die in der Stiftsbibliothek St. Gallen aufbewahrt werden. Sie werden durch die Angabe ihrer Signatur oder durch einen in der Wissenschaft üblichen Beinamen… …   Deutsch Wikipedia

  • Deutsche Sprachgeschichte — Die historische Entwicklung des deutschen Sprachraumes Das deutsche Sprachgebiet um 19 …   Deutsch Wikipedia

  • Gruß — Jemandem einen Gruß entbieten: ihn grüßen. Seit eh und je beginnt und endet jede menschliche Begegnung mit einem Gruß, und allein aus den Gruß Sitten läßt sich darum eine ganze Kulturgeschichte ablesen. Die frühesten Formen des Grußes sind… …   Das Wörterbuch der Idiome

  • Monseer Fragmente — handgeschriebene Replik des rekonstruierten Originaltextes von Matthäus Kapitel 13 Vers 15 bis 24 Die Mondseer Fragmente (früher auch Monseer Fragmente oder Wiener Fragmente, auf Englisch monsee fragments) sind eine Sammlung von christlichen… …   Deutsch Wikipedia

  • Geschichte der Bibelübersetzung — Die Bibel ist das meistübersetzte Buch der Geschichte. Sie hat großen Einfluss auf die Moralvorstellungen der Kulturen des Abendlandes genommen, und über diese auf die Moralvorstellungen der ganzen Welt. Als Heilige Schrift der Juden und Christen …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”