Stiftsbibliothek St. Gallen

Stiftsbibliothek St. Gallen
Stiftsbibliothek St. Gallen

Die Stiftsbibliothek St. Gallen ist die Stiftsbibliothek des ehemaligen Benediktinerstifts St. Gallen. Dieses ging hervor aus der Zelle, die der irische Mönch St. Gallus um 612 im Hochtal der Steinach gründete. Die Stiftsbibliothek St. Gallen ist die älteste Bibliothek der Schweiz und eine der grössten und ältesten Klosterbibliotheken der Welt. Sie besitzt 2100 Handschriften, 1650 Inkunabeln (Druckwerke bis 1500) und Frühdrucke (gedruckt zwischen 1501 und 1520) sowie etwa 160000 Bücher. 1983 wurde die Bibliothek zusammen mit dem Stiftsbezirk St.Gallen ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.

Inhaltsverzeichnis

Bedeutung und Geschichte der Stiftsbibliothek

Um den heiligen Gallus und die von ihm gegründete Zelle scharten sich noch zu seinen Lebzeiten Schüler. Auch nach Gallus' Tod - vermutlich um 640/650 - vermochte die Eremitenzelle die Jahrzehnte zu überdauern. 719 übernahm der Alemanne Otmar von St. Gallen die Leitung der Gemeinschaft und baute sie zu einer benediktinischen Reichsabtei aus, die ihre erste wirtschaftliche, religiöse und geistige Blüte im 9. Jahrhundert erlebte. Die für den Gebrauch in Gottesdienst, Schule und Verwaltung benötigten Handschriften stellten die Mönche in ihrem eigenen Skriptorium (Schreibwerkstatt) her, das im Kloster St. Gallen seit der Mitte des 8. Jahrhunderts nachweisbar ist.

Die Zahl der Handschriften im Kloster St. Gallen wuchs ständig. Der älteste, zwischen 850 und 880 entstandene Katalog der Hauptbibliothek verzeichnet, nach Fachgebieten geordnet, mit 294 Eintragungen insgesamt 426 Titel. Dazu kamen noch eine Schul- und eine Kirchenbibliothek sowie private Büchersammlungen.

Durch den Einfall der Ungaren von 926 und die Feuersbrunst von 937 gingen etliche Handschriften verloren. Grössere Verluste konnten allerdings dank der Wiborada verhindert werden. Diese hatte den Ungarneinfall vorhergesehen, so dass die Handschriften auf die Insel Reichenau in Sicherheit gebracht werden konnten. Wiborada selbst wurde von den Ungarn in ihrer Zelle erschlagen. Als erste Frau der Kirchengeschichte wurde sie 1047 vom Papst offiziell heilig gesprochen. Sie gilt heute als Patronin der Bibliotheken und der Bücherfreunde.

Auch die Reformationswirren um 1529 brachten der Bibliothek keine grossen Einbussen, da sich der Reformator und Bürgermeister der Stadt, Joachim von Watt (1484–1551, genannt Vadian) als Humanist des Wertes der Bibliothek bewusst war.

Allerdings wurden im Laufe der Jahrhunderte etliche Handschriften von hochrangigen Würdenträgern weg gebracht. Die bedeutendsten Verluste erlitt die Bibliothek im Toggenburgerkrieg 1712, als die siegreichen Zürcher und Berner Truppen das Kloster besetzten und zahlreiche Handschriften und Drucke nach Zürich und Bern führten. Der daraus entstandene «Kulturgüterstreit» zwischen St. Gallen und Zürich konnte 2006 mit einem Vermittlungsverfahren durch den Bundesrat beigelegt werden.

1805, zwei Jahre nach der Kantonsgründung, wurde die Fürstabtei St. Gallen aufgelöst, die bis zuletzt eines der bedeutendsten, blühendsten und gelehrtesten Klöster des Abendlandes war. Die Stiftsbibliothek sowie das Stiftsarchiv blieben an ihren angestammten Orten erhalten. Der Bestand der Bibliothek ging vollständig in den Besitz des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen über.

Dass der Stiftsbezirk St. Gallen 1983 von der UNESCO in den Rang eines Weltkulturerbes erhoben wurde, liegt vor allem an der Handschriftensammlung der Stiftsbibliothek. Rund 400 Handschriften von etwa 2100 stammen aus der Zeit vor dem Jahr 1000, also aus der eigentlichen Blütezeit des Klosters St. Gallen. Darunter befindet sich unter anderem das älteste deutsche Buch, der so genannte Abrogans. Die Neumenhandschriften aus dieser Zeit, insbesondere diejenigen aus dem Codex Sangallensis 359, haben für die Restitution des Gregorianischen Chorals grosse Bedeutung. Bekannt ist die Stiftsbibliothek St. Gallen ausserdem für ihre Sammlung frühmittelalterlicher irischer Handschriften, die grösste ihrer Art auf dem europäischen Kontinent. Ein weiteres bedeutendes Dokument jener Zeit, das noch heute in der Stiftsbibliothek aufbewahrt wird, ist der so genannte «Karolingische Klosterplan». Diesen Idealplan eines karolingischen Grossklosters schufen allerdings zwei Reichenauer Mönche 819. Er ist der älteste erhaltene Bauplan Europas aus dem Mittelalter.

Ein für die germanistische Mediävistik bedeutendes Dokument besitzt die Stiftsbibliothek mit der sogenannten Nibelungen-Handschrift B, der ältesten Sammelhandschrift mittelhochdeutscher höfischer Epik. Das um das Jahr 1260 im Alpenraum entstandene Manuskript enthält bekannte Werke wie den Parzival und den Willehalm des Dichters Wolfram von Eschenbach, das Nibelungenlied mit der an das Heldenepos anschliessenden Klage sowie den Karl des Strickers.

Als Besonderheit gilt die ägyptische Mumie der Schepenese, die sich seit 1836 zusammen mit ihren Sarkophagen im Eigentum der Bibliothek befindet. Ihre Lebenszeit wird von ungefähr 650 bis 610 v. Chr. angegeben.

Der Bibliothekssaal

Der Nordwestflügel des Klosterbezirks von aussen. Die Stiftsbibliothek befindet sich im ersten und zweiten Stockwerk

Der Büchersaal der Stiftsbibliothek, kunstvoll geschmückt und in seinen Massen ausgewogen, wird als der schönste nicht-kirchliche Barockraum der Schweiz und als einer der in ihrer Form vollendetsten Bibliotheksbauten der Welt angesehen. Der Saal wurde von 1758 bis 1767 unter den Äbten Cölestin II. Gugger von Staudach und Beda Angehrn erbaut. Über dem mit Säulen flankierten Portal des Barocksaals enthält eine Kartusche die griechische Inschrift ΨYXHΣ IATPEION, was frei übersetzt «Heilstätte der Seele» oder «Seelen-Apotheke» heisst. Der Saal ist in der Form einer fünfjochigen Wandpfeilerhalle angelegt. Auf halber Höhe befindet sich rund um den Saal herum eine Galerie. In der Länge wechseln sich Bücherschränke und Fensternischen wellenförmig ab. Die Pfeiler sind in die Halle eingerückt und an den Ecken mit korinthischen Ziersäulen verstärkt. Zwischen solchen und flachen Pilastern stehen die Bücher in vergitterten Büchergestellen. Einmalig und besonders schützenswert ist der Fussboden aus Tannenholz, in dem vier grosse Sterne und rankenartige Schlingungen in Nussbaumholz eingelassen sind. Der Saal darf nur mit Filzpantoffeln betreten werden, die beim Eingang bereit liegen. Die kunstvollen Inneneinrichtungen aus Holz, die in der klostereigenen Werkstatt hergestellt worden sind, formen den Raum und verleihen ihm seine stille Würde. Die Decke ist mit zahlreichen kunstvollen Stuckaturen und Gewölbebildern ausgestattet. Ein Teil der Bildfolge nimmt Bezug auf die Funktion einer Klosterbibliothek. Die grössten Bilder stellen die vier ersten ökumenischen Konzilien dar (Nizäa 325, Konstantinopel 381, Ephesus 431, Chalcedon 451). In den seitlichen so genannten Seitenkappen sind die Kirchenlehrer sinnbildlich dargestellt. Kleinere Grisaille-Malereien (in Grautönen gehalten) zeigen die Wissenschaftspflege des Klosters. Gemälde der beiden Bauherren Cölestin Gugger (1740–1767) und Beda Angehrn (1767–1796) sind an den Schmalseiten des Saals in Höhe der Galerie angebracht.

Am Bau beteiligt waren Peter Thumb, Vater und Sohn, aus Bezau in Vorarlberg als Baumeister; die Stuckaturen stammen von den Brüdern Johann Georg und Matthias Gigl aus Wessobrunn, die Deckengemälde von Joseph Wannenmacher aus Tomerdingen; die Holzarbeiten wurden von Klosterbruder Gabriel Loser aus Wasserburg bei Lindau und seinen Mitarbeitern hergestellt.

Die Stiftsbibliothek heute

Heute dient die Stiftsbibliothek St. Gallen einerseits als Museum mit jährlich wechselnden Ausstellungen, in denen sie Stücke ihrer Manuskript- und Inkunabelbestände zeigt, andererseits ist sie weiterhin aktive Leihbibliothek, die allen Interessierten zur Benutzung frei steht. Als Fachbibliothek mit Schwerpunkt Mediävistik, Codicologie und Paläographie wird sie von Forscherinnen und Forschern aus der ganzen Welt genutzt. Sie besitzt rund 170000 Bücher und andere Medien, von denen die nach 1900 erschienenen Dokumente ausgeliehen werden können. Zudem können die älteren gedruckten Bücher im Lesesaal benutzt werden. Die Handschriften und Inkunabeln hingegen können nicht ausgeliehen werden und auch die Einsichtnahme im Lesesaal ist nur in Ausnahmefällen möglich. Um die Lektüre und Betrachtung der Handschriften dennoch einer breiteren Nutzerschaft zu ermöglichen, werden die mittelalterlichen und eine Auswahl von frühneuzeitlichen Codices seit 2002 im Rahmen des Projekts «Codices Electronici Sangallenses» (CESG) digitalisiert und seit 2007 durch eine virtuelle Bibliothek zur Verfügung gestellt. Am 4. November 2010 waren 398 digitalisierte Handschriften verfügbar.

Trivia

Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann, Neffe des ehemaligen Stiftsbibliothekars Johannes Duft, verbrachte als Knabe einen Sommer bei seinem Onkel in der Bibliothek. Diese Zeit hat der Autor in seiner Novelle Fräulein Stark (2001) literarisch verarbeitet.

Siehe auch

Literatur

  • Johannes Duft: Stiftsbibliothek Sankt Gallen. Geschichte, Barocksaal, Manuskripte. 9. Auflage. Verlag am Klosterhof, St. Gallen 1992, ISBN 978-3-906616-17-9.
  • Beat Matthias von Scarpatetti: Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. Codices 547–669. Hagiographica, Historica, Geographica 8.–18. Jahrhundert. Harrassowitz, Wiesbaden 2003, ISBN 978-3-447-04716-6.
  • Beat Matthias von Scarpatetti: Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. Codices 1726–1984 (14.–19. Jahrhundert). Beschreibendes Verzeichnis. Verlag am Klosterhof, St. Gallen 1983, ISBN 978-3-906616-02-5.
  • Karl Schmuki, Peter Ochsenbein, Cornel Dora: Cimelia Sangallensia. Hundert Kostbarkeiten aus der Stiftsbibliothek St. Gallen. Verlag am Klosterhof, St. Gallen 2000, ISBN 978-3-906616-50-6.
  • Ernst Tremp, Johannes Huber, Karl Schmuki: Stiftsbibliothek St. Gallen. Ein Rundgang durch Geschichte, Räumlichkeiten und Sammlungen. Verlag am Klosterhof, St. Gallen 2003, ISBN 978-3-906616-84-1.

Weblinks

 Commons: Stiftsbibliothek St. Gallen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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