Industrieökonomik

Industrieökonomik

Die Industrieökonomik (auch Industrial Organization oder Industrial Economics) ist ein volkswirtschaftlicher Ansatz, der sich mit den Mechanismen beschäftigt, die auf durch Anbieterkonzentrationen und Marktabgrenzungen gekennzeichneten Märkten wirken. Da sich die moderne Industrieökonomik unter Rückgriff auf die mathematische Spieltheorie immer mehr auch mit den Handlungsmöglichkeiten einzelner Unternehmen befasst, hat die Industrieökonomik auch zunehmend Bedeutung für die Betriebswirtschaftslehre, insbesondere das strategische Management bekommen. Darüber hinaus steht es in enger Verwandtschaft zur Wettbewerbstheorie.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte des Ansatzes

Die Beschäftigung mit Märkten, auf denen nur unvollkommener Wettbewerb herrscht, reicht bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. In den 1950er Jahren war es dann der Ökonom Joe Bain, der auf der Basis umfangreicher empirischer Studien als erster die unterschiedlichen Formen unvollkommenen Wettbewerbs klassifizierte. Ferner beschrieb er Regeln, nach denen Unternehmen, die auf solchen unvollkommenen Märkten etabliert sind, neuen Konkurrenten den Marktzugang erschweren bzw. verwehren können. Den englischen Namen dieses Forschungszweiges (Industrial Organization) prägte Bain durch die Veröffentlichung eines gleichnamigen Buches.

In den 60er und 70er Jahren wurden die Konzepte Bains zum einen weiter ausgearbeitet, insbesondere wurde sein Konzept der Markteintrittsbarrieren um die der Austritts- und der Mobilitätsbarrieren erweitert. Zum anderen wurde begonnen, Konzepte der mathematischen Spieltheorie auf die Industrieökonomik anzuwenden, um damit der wechselseitigen Abhängigkeit von etabliertem Anbieter und potenziellem Newcomer besser gerecht zu werden.

Anfang der 80er Jahre wendete der Ökonom Michael E. Porter die bislang wohlfahrtstheoretisch ausgerichtete Industrieökonomik auf Einzelunternehmen an und begann der Frage nachzugehen, welche Lehren der einzelne Betrieb unter strategischen Gesichtspunkten aus den Erkenntnissen der Industrieökonomik ziehen könne. Er begründete mit diesem Ansatz eine der einflussreichsten Schulen strategischen Managements, den sog. Market-Based View.

Grundzüge des Ansatzes

Die Industrial-Organization Forschung fragt nach dem Einfluss, den die Struktur (die Organisation) einer Branche (von Bain als Industrie bezeichnet) bzw. einer oligopolistischen Gruppe innerhalb einer Branche auf das Verhalten und damit den ökonomischen Erfolg der Mitglieder der Branche bzw. der Gruppe hat. Da die Industrieökonomik den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmungen aus der Marktstruktur heraus erklären will, hat die Herausarbeitung der relevanten Parameter der Marktstruktur und eine dem folgende Klassifizierung möglicher Marktformationen für sie eine besondere Bedeutung. Bain unterscheidet Märkte bzw. Branchen entlang dreier Parameter:

  • dem Grad der Anbieterkonzentration,
  • dem Grad der Produktdifferenzierung und
  • der Höhe der Eintrittsbarrieren der Industrie oder des Marktes.

Anbieterkonzentration

Als Industrie bezeichnet Bain Untergruppen von Unternehmungen innerhalb der wirtschaftlichen Sektoren, die, da ihre Produkte in den Augen der potenziellen Käufer starke Substitute darstellen und eine gemeinsame Gruppe von Käufern ansprechen (sollen), im direkten Wettbewerb miteinander stehen. Die Konzentration der Anbieter innerhalb einer Industrie, operationalisiert als die Anzahl der Wettbewerber und die Größe ihrer individuellen Marktanteile, wird von Bain vornehmlich aus zwei Gründen für wichtig gehalten: Bei einer höheren Anbieterkonzentration steigt der Anreiz für den einzelnen Wettbewerber mit seinen Konkurrenten zu kooperieren, um gemeinsam einen profiterhöhenden 'Industriepreis', der einem monopolistischen Preis entsprechen oder sich zumindest diesem annähern kann, und entsprechende Produktionsmengen festzulegen. Parallel sinkt für den einzelnen Wettbewerber der Anreiz, durch eigenständige Wettbewerbspolitik eine Vergrößerung des eigenen Marktanteils und Gewinns anzustreben, die jeweils nur auf Kosten der Konkurrenten gehen können.

Produktdifferenzierung

Bain betrachtet Produktdifferenzierung vom Standpunkt der (potenziellen) Käufer eines Gutes. Je stärker zwei Güter einem Käufer als unterschiedlich erscheinen, desto weniger stellt das eine ein Substitut für das andere dar und desto geringer wird die Kreuzpreiselastizität der Nachfrage beider Güter sein. So betrachtet steht die Produktdifferenzierung in einem engen Zusammenhang mit Bains Kon­zept der Industrie, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die zu einer Industrie gehörigen Produkte in den Augen der Käufer relativ gute Substitute darstellen. Innerhalb einer Industrie ist es deshalb für die Existenz von Produktdifferenzierung notwendig, dass unterschiedliche Käufergruppen verschiedene konkurrierende Produkte unterschiedlich bewerten. Dann werden, bei gleichen Produktpreisen, bestimmte Käufer das eine Produkt, andere ein Konkurrenzprodukt erwerben und, bei unterschiedlichen Preisen, bestimmte Käufer bereit sein, einen höheren Preis für ein höher geschätztes Produkt zu zahlen, während andere nur aufgrund relativ geringerer Preise zum Kauf zu bewegen sein werden. Bei der Existenz von Produktdifferenzierung verfügt jeder Anbieter aufgrund der unterschiedlichen Präferenzen, die unterschiedliche Käufergruppen den unterschiedlichen Produkten entgegenbringen, über einen mehr oder weniger großen Preisspielraum, innerhalb dessen er den Preis seines Produktes variieren kann, ohne bei Preiserhöhungen alle Kunden zu verlieren bzw. bei Preissenkungen den Konkurrenten die Kunden wegzunehmen.

Eintrittsbarrieren

Zentrales Element der Marktstruktur-Analyse der Industrieökonomik sind die Eintrittsbarrieren. Das Konzept der Eintrittsbarrieren unterscheidet zwischen Unternehmungen, die bereits in einer Industrie etabliert sind und den Markt mit ihren Produkten beliefern (etablierte Anbieter) und solchen Unternehmungen, die nicht in der Industrie etabliert sind, dies aber durch den Bau einer neuen Fabrik und Nutzung ihrer Produktionskapazität für ein Angebot auf dem Markt versuchen könnten (potenzielle Anbieter). Unternehmungen, die sich durch den Erwerb einer bereits existierenden Fabrik in eine Industrie 'einkaufen', zählt Bain explizit nicht zu den potenziellen Anbietern, da damit nicht die Produktionskapazität der Industrie verändert wird.

Die Höhe einer Eintrittsbarriere bezieht sich auf das Ausmaß, in dem etablierte Anbieter auf lange Sicht ihre Angebotspreise über das durch die minimalen durchschnittlichen Kosten gegebene Wettbewerbsniveau heben können, ohne das potenzielle Anbieter zum Eintritt in die Industrie angeregt werden, den Eintrittssperrenpreis. Der Tatsache, dass in der Regel weder die Gruppe der etablierten noch die Gruppe der potenziellen Anbieter homogen ist, trägt Bain durch eine weitere Unterscheidung Rechnung: Er differenziert zwischen unmittelbaren und generellen Eintrittsbedingungen. Die unmittelbaren Eintrittsbedingungen beziehen sich auf den prozentualen Überschuss des Angebotspreises über den minimalen Durchschnittskosten, den der durch die Eintrittsbarrieren am stärksten geschützte etablierte Anbieter verlangen kann, ohne den Eintritt der am wenigsten benachteiligten potenziellen Anbieter hervorzurufen. Die generellen Eintrittsbedingungen beziehen sich auf die Folge der Werte der unmittelbaren Eintrittsbedingungen, die entstehen würde, wenn sich die potenziellen Anbieter – in der Reihenfolge steigender Benachteiligung durch die Eintrittsbarrieren – nacheinander in der Industrie etablieren würden.

Klassischerweise werden drei Gruppen von Eintrittsbarrieren genannt:

  1. Vorteile etablierter Anbieter aufgrund von Skalenerträgen,
  2. Vorteile aufgrund absoluter Kostenvorteile und
  3. Vorteile, die etablierte Anbieter aufgrund von Produktdifferenzierung genießen.

Spieltheoretische Ansätze

Die moderne industrieökonomische Literatur (siehe beispielsweise Tirole oder Pfähler/Wiese) ist in der Hauptsache eine Anwendung der nichtkooperativen Spieltheorie auf die von Bain behandelten Fragen. Die grundlegenden spieltheoretischen Modelle der Industrieökonomik stammen von Antoine-Augustin Cournot (Cournot-Oligopol) und Joseph Bertrand (Bertrand-Wettbewerb). Diese werden sowohl als Stufenspiele (einmalige Aktionswahl) als auch als wiederholte Spiele (mehrmalige Aktionswahl) behandelt.

Häufig betrachtet man zweiperiodige Modelle. Beispielsweise wählen die Unternehmen auf der ersten Stufe ein Forschungs- und Entwicklungsbudget, das (mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten) die Kosten reduziert. Der sich anschließende Mengen- oder Preiswettbewerb wird von den neuen Kostenstrukturen beeinflusst. In ähnlicher Weise behandelt man Produktdifferenzierung (z.B. Hotelling-Produktraum), Werbemaßnahmen, Qualitätswettbewerb oder Kompatibilitätswettbewerb.

Literatur

Ältere Werke entsprechend dem Struktur-Verhalten-Ergebnis-Ansatz:

  • Bain, J.S., Barries to new competition, Cambridge (Mass.) 1956
  • Bain, J.S., Industrial organization, 2nd. Ed., New York 1968

Lehrbücher mit spieltheoretischem Ansatz:

  • Tirole, Jean: The Theory of Industrial Organization, Cambridge, MA, 1988
  • Wilhelm Pfähler/Harald Wiese: Unternehmensstrategien im Wettbewerb - Eine spieltheoretische Analyse, Spinger Verlag, Heidelberg, zweite Auflage 2006, ISBN 3-540-28000-6.

Verbindung von Industrieökonomik und strategischem Management:

  • Caves, R./Porter, Michael E., From entry barriers to mobility barriers: Conjectural decisions and contrived deterrence to new competition, in: Quarterly Journal of Economics, 91/1977, S. 241-261.
  • Porter, Michael E., The contributions of industrial organization to strategic management, in: Academy of Management Review, 6/1981, S. 609-620.

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