Amalrikaner

Amalrikaner

Die Amalrikaner waren eine Gruppe von Klerikern und Laien in Paris im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts, die sich auf die Lehren des Magisters Amalrich von Bena berief. Sie wurden als Häretiker verurteilt und großenteils hingerichtet.

Inhaltsverzeichnis

Historischer Verlauf

Amalrich von Bena

Als Gründer oder zumindest Inspirator der Gruppe galt Amalrich von Bena (französisch Amaury de Bène). Amalrich war ein Gelehrter, der bis zu seinem Tod (1206) als Magister an der Fakultät der Artes liberales der Pariser Universität unterrichtete. In seinem Unterricht befasste er sich auch mit theologischen Fragen, obwohl er der theologischen Fakultät nicht angehörte. Offenbar scharte er einen Schülerkreis um sich. Trotz seiner unkonventionellen Ansichten blieb er anscheinend bis zu seinem Tod unbehelligt.[1]

Nach Amalrichs Tod lebte sein Gedankengut bei der Schar seiner Anhänger fort. Diese Gruppe, die sich offenbar organisatorisch konsolidierte, wird in den Quellen als Amalrikaner (vulgärlateinisch Amauriani) bezeichnet. Sie bestand größtenteils aus Klerikern, darunter Magister der Universität, doch waren auch einige Laien darunter. Unklar ist, ob eine organisierte Gruppe schon zu Amalrichs Lebzeiten bestand und inwieweit die Ansichten der Amalrikaner der authentischen Lehre Amalrichs entsprachen. Jedenfalls entstand in den Jahren nach seinem Tod der Verdacht, es handle sich um eine Sekte, die Irrlehren vertrete. Darauf bemühten sich die kirchlichen Autoritäten in enger Zusammenarbeit mit den Theologen der Pariser Universität um Aufklärung der Angelegenheit. Zu diesem Zweck wurde eine Theologenkommission gebildet. Im Auftrag des Bischofs von Paris wurde ein Magister der Theologie, Radulf (Rudolf) von Namur, als Spitzel in die Gemeinschaft eingeschleust. Er ließ sich in die Lehren der Amalrikaner einweihen und denunzierte dann die führenden Mitglieder der Gemeinschaft in der Kirchenprovinz von Sens, zu der Paris gehörte. 14 Amalrikaner wurden verhaftet und verhört.[2]

1210 trat in Paris eine Synode unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Sens, Petrus von Corbeil, zusammen. Sie verdammte die Lehren der Amalrikaner als häretisch, verurteilte alle Angeklagten, die Kleriker waren, entkleidete sie ihrer kirchlichen Würden und übergab zehn von ihnen zur Bestrafung der weltlichen Gewalt, dem Gericht des französischen Königs Philipp II. Augustus. Die zehn Amalrikaner wurden am 20. November 1210 auf Befehl des Königs vor dem Stadttor verbrannt. Einige weitere Angeklagte wurden zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt. Die Laien ließ man laufen. Amalrichs Gebeine, die sich seit vier Jahren auf dem Friedhof befanden, wurden ausgegraben und in ungeweihter Erde verscharrt. Die Nachforschungen nach weiterhin verborgenen Anhängern wurden fortgesetzt; so wurde 1211 gegen einen Priester in der Diözese Langres ermittelt, der sich aber durch eine Appellation nach Rom retten konnte. 1212 wurde in Amiens ein Magister namens Godinus als Amalrikaner verbrannt. Die treibende Kraft bei dieser Verfolgung war der Pariser Theologe Robert von Courson, der von Anfang an maßgeblich an den Ermittlungen beteiligt war. Papst Innozenz III. erhob Robert 1212 zum Kardinal und entsandte ihn 1213 als Legaten nach Frankreich. Das Vierte Laterankonzil verurteilte 1215 die Lehren Amalrichs als "pervers", und auch in den 1215 erlassenen Statuten der Pariser Universität wurde ihre Verbreitung verboten.[3] In der Folgezeit scheint es keine Amalrikaner mehr gegeben zu haben, zumindest nicht als organisierte Gruppe. Allerdings behauptet der Kanonist Hostiensis, es habe noch 1215 zur Zeit des Vierten Laterankonzils überlebende Schüler Amalrichs gegeben, deren Namen man verschweigen solle; aus Rücksicht auf diese Personen habe das Konzil bei der Verurteilung der Irrlehre auf nähere Angaben zu deren Inhalt verzichtet.[4]

Lehre

Amalrich hat anscheinend keine Schriften hinterlassen; Angaben des mittelalterlichen Chronisten Martin von Troppau über ein Buch, das er geschrieben haben soll, beruhen auf einem Missverständnis. Amalrikanische Literatur hat es jedoch gegeben, denn im Prozess war von theologischen Schriften in französischer Sprache die Rede. Überliefert ist eine französische Fassung des Vater unser, die den Inhalt dieses Gebets im Sinne der amalrikanischen Theologie etwas abwandelt.[5] Ansonsten sind aber keine Originaltexte der Amalrikaner erhalten geblieben. Daher sind ihre Lehren nur aus Angaben bekannt, die von ihren kirchlichen Gegnern stammen und daher die Aussagen möglicherweise verzerren. Die Hauptquellen sind ein anonym überlieferter Traktat mit dem Titel Contra Amaurianos („Gegen die Amalrikaner“)[6], der wohl um 1210 entstand, und die offizielle Liste der im Pariser Prozess von 1210 verurteilten Lehrmeinungen.

Angeblich folgerten die Amalrikaner aus dem allgemein anerkannten Grundsatz der Allgegenwart Gottes, alles sei eines und alles, was ist, sei Gott. Somit sei auch jeder einzelne Mensch Gott. Daher seien Taufe und Buße unnötig; wer die Erkenntnis erlangt habe, dass Gott alles sei, der benötige solche Hilfsmittel zur Erlangung der Gnade nicht mehr, denn es komme nur auf diese Erkenntnis an. Da Gott alles in allem bewirke, verursache er sowohl das Gute als auch das Böse. Ihm sei somit alles, was geschieht, zuzurechnen, und daher gebe es für den, der dies begriffen habe, keine Sünde. Die Erkenntnis dieser Wahrheit sei die wirkliche Auferstehung, eine andere (die künftige Auferstehung der Toten) sei nicht zu erwarten. Wer die Wahrheit erkannt habe, lebe bereits im Paradies, und die Hölle sei nichts anderes als Unwissenheit. Glaube und Hoffnung seien überflüssig, nur das Wissen zähle.

Besonderes Aufsehen erregte die Leugnung der Sünde unter dem Aspekt, dass dann auch Ehebruch erlaubt sei. Den Amalrikanern wurde vorgeworfen, daraus auch praktisch die Konsequenz einer Abschaffung der Sexualmoral gezogen zu haben.[7]

In der Forschung ist umstritten, ob bzw. in welchem Sinne es legitim ist, die Ansichten der Amalrikaner mit dem modernen Begriff „Pantheismus“ zu charakterisieren. Diese Bezeichnung wird in zahlreichen modernen Nachschlagewerken verwendet. Dagegen wendet sich der Philosoph und Philosophiehistoriker Karl Albert. Nach seiner Meinung haben die Amalrikaner nicht die Identität des einzelnen Seienden mit Gott behauptet, sondern nur im Sinne der neuplatonischen Tradition die Einheit des Seienden und die Immanenz Gottes betont. Dies sei nach katholischer Lehre nicht notwendigerweise häretisch, denn auch anerkannte Theologen, die der neuplatonischen Strömung innerhalb der kirchlich akzeptierten Theologie angehörten, hätten derartige Ansichten vertreten. Der Unterschied zwischen dem Seienden als solchem (Gott) und dem Seienden, insoweit es Einzelding ist, sei bei den Amalrikanern nicht verwischt worden. Albert verweist auf eine Stelle im Text der Pariser Verurteilung von 1210, wo einem Amalrikaner die Aussage zugeschrieben wird, er könne nicht verbrannt oder gefoltert werden, „insofern er sei“, denn „darin, dass er sei, sei er Gott“. Dieser Angeklagte behauptete demnach nicht, als einzelner Mensch Gott zu sein, sondern nur, dass er unter dem Aspekt des Seins (in quantum erat, in eo quod erat) Gott sei, so wie alles Seiende als solches Gott sei. Diese Differenzierung wurde jedoch von den Anklägern nicht beachtet.[8]

Literatur

  • Karl Albert: Amalrich von Bena und der mittelalterliche Pantheismus. In: Albert Zimmermann (Hrsg.): Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert. de Gruyter, Berlin u. a. 1976, ISBN 3-11-005986-X, (Miscellanea mediaevalia 10), S. 193–212.
  • Germaine Catherine Capelle: Autour du décret de 1210: III. Amaury de Bène. Étude sur son panthéisme formel. Vrin, Paris 1932 (teilweise überholt; S. 89-111 Zusammenstellung einschlägiger Quellentexte)
  • Ludwig Hödl: Artikel Amalrich von Bena / Amalrikaner. In: Theologische Realenzyklopädie Band 2, Berlin 1978, Sp. 349-356 Google Booksearch

Anmerkungen

  1. Hödl (1978) S. 350.
  2. Hödl (1978) S. 351; Jürgen Miethke: Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozessen des 13. Jahrhunderts, in: Albert Zimmermann (Hrsg.): Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert, Berlin 1976, S. 52-94, hier S. 54f.
  3. Hödl S. 351f., Miethke (1976) S. 55-59.
  4. Capelle S. 94.
  5. Marie-Thérèse d’Alverny: Un fragment du procès des Amauriciens, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 25/26 (1950-51), S. 325-336, hier S. 330.
  6. Mit Vermutung der Zuschreibung an Garnerius von Rochefort ediert von Clemens Baeumker: Contra Amaurianos, ein anonymer, wahrscheinlich dem Garnerius von Rochefort zugehöriger Traktat gegen die Amalrikaner aus dem Anfang des XIII. Jahrhunderts. Mit Nachrichten über die übrigen unedierten Werke des Garnerius, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen 26, 5-6, Aschendorff, Münster 1926.
  7. Capelle S. 100.
  8. Albert (1976) S. 208f.

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