Jirgl

Jirgl
August 2007

Reinhard Jirgl (* 16. Januar 1953 in Ost-Berlin) ist ein deutscher Schriftsteller.

Inhaltsverzeichnis

Zum Leben

Seine Kindheit verbrachte Reinhard Jirgl in der Altmark bei den Großeltern, bis er im Alter von elf Jahren zu den Eltern nach Berlin zurückkehrte. Er besuchte die Oberschule bis zur 10. Klasse und wurde als Elektromechaniker ausgebildet. Von 1969 an stand Jirgl im Arbeitsleben und besuchte überdies Kurse am Abendgymnasium. Von 1971 bis 1975 studierte er Elektronik an der Humboldt-Universität in Berlin. Sein Studium schloss er als Hochschulingenieur ab, um danach bei der Adlershofer Akademie zu arbeiten. 1978 wechselte er als Beleuchtungstechniker an die Berliner Volksbühne. Seit 1996 lebt Jirgl als freier Schriftsteller in Berlin. Er ist Mitglied im PEN-Zentrum der BRD.

Zum Werk

Jirgl gehörte zu jener jüngeren Autorengeneration in der DDR, die während der 1980er Jahre vermehrt experimentelle Formen aufgriff; heute darf er als einer der wichtigsten und avanciertesten deutschen Autoren gelten.

Der Beginn seiner Autorschaft, die sich zunächst in einem Schreiben „für die Schublade“ ausbildete, führte ihn 1978 an die Volksbühne nach Ostberlin, wo er Zeit zum Schreiben fand und durch Heiner Müller maßgeblich gefördert wurde. Im Gespräch benannte Jirgl u.a. Michel Foucault, Georges Bataille, Ernst Jünger und Carl Schmitt als wichtige Einflussgrößen einer „intellektuellen Gegenexistenz“ in der DDR, die sich in seiner Literatur niederschlug; auch an Louis-Ferdinand Céline ist zu denken.

Jirgls erstes Romanskript wurde 1985 vom Aufbau-Verlag aus ideologischen Gründen abgelehnt, 1990 dann aber doch verlegt. Dieser Mutter Vater Roman, der die späte Kriegszeit und die Nachkriegsjahre mit Blick auf die Aufbaugeneration der DDR aufgreift, enthält bereits die zentralen Themen, Motive und Eigenarten, die auch Jirgls weiteres Schaffen prägen. Formal dominieren innerer Monolog, psycho-narration und traumartige Sequenzen, die Bombenkriegserinnerung, Gewaltphantasien und Beziehungsnöte zu beklemmenden Bildern verweben. Ein „gleitendes Ich“ (Jirgl) als schwer greifbare, perspektivisch wechselnde, nahezu amoralische Reflexionsinstanz prägt auch die späteren Prosatexte. Seine bereits in den 1980er Jahren in der DDR entstandene, erst 2002 publizierte Genealogie des Tötens. Trilogie, vereinigt heterogene Textblöcke, die auch mit theatralischen Elementen und Medienmix – Anlehnung an die griechische Tragödie sowie Libretto-Inszenierung mit Tonband – arbeiten.

Jirgls Roman Abschied von den Feinden (München 1995), dessen Manuskript 1993 mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet wurde, brachte ihm den öffentlichen Durchbruch; der Text verbindet traumatisierte Familien- und Beziehungserfahrungen zweier verfeindeter Brüder mit Versatzstücken von DDR-Existenzen zu einem diffizilen narrativen Geflecht, in dem sich die Erzählsituationen und Fiktionalitätsebenen überlagern. Die scheinbaren Parallelwelten von BRD und DDR sowie ihr plötzliches Wiederaufeinandertreffen nach der sog. Wende bilden die Folie für die Figurenkonstellationen Jirgls, an die auch Hundsnächte (München 1997) anknüpft: Hier vegetiert einer der Brüder in einer Ruine im Niemandsland des ehemaligen innerdeutschen Todesstreifens und produziert unablässig Schrift, ein „Sinnbild des Schreibens“ (Helmut Böttiger).

Ist in Jirgls Texten letztlich stets die Unmöglichkeit dargelegt, den eigenen Vergangenheiten zu entrinnen, handelt Die atlantische Mauer (München 2000) von der Suche nach einer Tabula rasa, Aus- und Aufbruchsversuchen von DDR- und BRD-Biographien in die Neue Welt; der in die USA übergreifende Text markiert nach Ansicht einiger Kritiker einen Übergang im Schreibprojekt des Autors, doch ist auch dieser Roman im Kern allein der deutschen Befindlichkeit gewidmet. Die folgenden Arbeiten wenden sich dementsprechend folgerichtig in Raum und Zeit zurück nach Alteuropa, den deutschen Traumata zu: Die Unvollendeten (München 2003) nimmt in gebrochenen Perspektiven die Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland in den Blick, während sein jüngster Roman Abtrünnig (München 2005) nach bewährter Manier eine DDR- und eine BRD-Biographie im gegenwärtigen Berlin parallellaufen lässt.

Grundsätzlich gilt Jirgls Interesse zuvorderst der Offenlegung jenes „homo homini lupus“, das sich hinter Sätzen, Wörtern und Zeichen verbirgt: den Machtverhältnissen, die etwa psychiatrische Befunde erlauben und hervorbringen. Die radikale Skepsis des Autors lässt Ausflüchte nicht zu, sie wendet sich fast solipsistisch einer kreatürlichen Leiblichkeit als ontologisch letzter Instanz zu und attackiert allfällige kollektivistische oder individualistische Sinn- bzw. Erlösungsversprechen.

Seinen sprachmächtigen Texten gelingt es, durch ihre Bildkraft zu fesseln und zugleich durch kalt sezierende Intellektualität zu verstören. Auch im poststrukturalistischen Duktus macht Jirgls Schreiben ernst mit Foucaults Vorstellung von der Subversivität der Literatur: Mittels einer unkonventionellen, teilweise „lautmalerischen“ Rechtschreibung und einer eigenen Zeichen-Nomenklatur versucht der Autor, den Text als Körper sichtbar zu modellieren, wodurch gleichzeitig jedoch dessen Zeichencharakter selbstreflexiv offengelegt wird. Von der Kritik wird an Jirgls Romanen bisweilen nicht zu Unrecht ein Überfrachten der Figurenrede mit essayistischen Exkursen bemängelt, seine Sprachkraft indes nicht in Zweifel gezogen.

Stipendien und Preise

Autograph

Werke

  • Mutter Vater Roman. Aufbau, Berlin 1990
  • Uberich. Protokollkomödie in den Tod. Frankfurt am Main 1990
  • Im offenen Meer. Schichtungsroman. Luchterhand, Hamburg 1991
  • Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotalitärer Mentalität. [Zusammen mit Andrzej Madela.] Koblenz 1993.
  • Das obszöne Gebet. Totenbuch. Frankfurt am Main 1993
  • Abschied von den Feinden. Hanser, München 1995
  • Hundsnächte. Roman. Hanser, München 1997
  • Die atlantische Mauer. Roman. Hanser, München 2000 ISBN 3-446-19118-6
  • Genealogie des Tötens. Trilogie. Hanser, München 2002 ISBN 3446201718
  • Gewitterlicht. Mit dem Essay „Das poetische Vermögen des alphanumerischen Codes in der Prosa“. Hannover 2002 ISBN 3-934818-43-9
  • Die Unvollendeten. Roman. Hanser, München 2003 ISBN 3446202714
  • Gewitterlicht. Hörbuch. Gesprochen von Reinhard Jirgl. 2005 ISBN 3-934818-20-X
  • Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit. Hanser, München 2005 ISBN 3-446206-58-2
  • Land und Beute. Aufsätze aus den Jahren 1996 bis 2006. Hanser (Edition Akzente) München 2008 ISBN 978-3-446-23009-5
  • Die Stille. Roman. Hanser 2009 ISBN 978-3-446-23266-2

Sekundärliteratur und Gespräche mit Jirgl

  • Friedrich Christian Delius: So viel Spannung war nie. Laudatio [Döblin-Preis]. In: Sprache im technischen Zeitalter 1993, Nr. 126, S. 179-198.
  • Erk Grimm: Alptraum Berlin: Zu den Romanen R. Jirgls. In: Monatshefte 86 (1994), S. 186-200.
  • Christine Cosentino: Ostdeutsche Autoren Mitte der neunziger Jahre: Volker Braun, B. Burmeister und Reinhard Jirgl. In: The Germanic Review 1996, Nr. 71, S. 177-194.
  • Erk Grimm: Reinhard Jirgl. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), 55. Nachlieferg. (1. Januar 1997).
  • Werner Jung: „Material muß gekühlt werden“. Gespräch. In: NDL 1998, Nr. 3, S. 56-70.
  • Helmut Böttiger: Der 13. Beleuchter. Reinhard Jirgl. Ein Porträt. In: Schreibheft 2000, Nr. 54, S. 101-108
  • [Jan Böttcher:] „Genauigkeit ist immer noch ein Kriterium für Wirklichkeit“. Gespräch mit Reinhard Jirgl. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 3 (2000), S. 180-191. ISSN 0949-5371
  • Helmut Böttiger: Laudatio auf Reinhard Jirgl. In: Joseph-Breitbach-Preis. Mainz 2000.
  • Ulrich von Loyen: Inszenierte Unmöglichkeit. Gespräch mit Reinhard Jirgl. In: kassandra. literaturen (Dresden), 1 (2000), S. 7-14.
  • Uwe Pralle: Die Fliege und die Spinne. Reinhard Jirgl im Gespräch mit Uwe Pralle. In: Schreibheft 2000, Nr. 54. S. 109-113.

Weblinks


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