Kognitive Poetik

Kognitive Poetik

Kognitive Poetik ist ein zeitgenössischer Forschungsansatz der Literaturtheorie. Sie versucht, Literaturrezeption auf allgemeine Prozesse menschlicher Informationsverarbeitung zurückzuführen. Der Name der Forschungsrichtung setzt sich folgerichtig aus 'Kognition' - die menschliche Erkenntnis strukturierenden Mechanismen - und 'Poetik' - Theorien zum Verständnis von Literatur - zusammen. In ihrer Vorgehensweise ist die Kognitive Poetik damit eine Tochterdisziplin des jungen Forschungsfeldes der sozialen Neurowissenschaften, das sich der Untersuchung neuronaler Korrelate sozialer Prozesse und Verhaltensmuster im menschlichen Gehirn widmet.

Das Forschungsfeld der Kognitiven Poetik stellt sich gegenwärtig nicht einheitlich dar. Es lassen sich vielmehr gewisse Spezialisierungsfelder auf Seite der Kognitionsforschung ausmachen; dominierende Ansätze hierbei sind ein (kognitions-)psychologischer, ein linguistischer sowie evolutionsbiologisch orientierter Ansatz. Dennoch ist der Ansatz in Bezug auf gewisse gemeinsame Grundannahmen geeint.

Inhaltsverzeichnis

Grundannahmen

Generelle Gültigkeit menschlicher Kognition

Schematische Darstellung der Kognitiven Poetik

Eine zentraler Grundsatz der Kognitiven Linguistik ist die Verallgemeinerbarkeit der kognitiven Grundleistungen des Menschen, d.h. die das menschliche Erkennen strukturierende Mechanismen, auf alle Arten von zu verarbeitenden Informationen, und damit auch auf die Verarbeitung literarischer Werke.

So werden, im Verlauf einer Textanalyse, Konzepte der Kognitionsforschung auf literarische Werke angewandt. Kognitive Literaturanalyse versucht also, die besondere Wirkung literarischer Stilmittel oder Textformen beim Rezipienten unter Rückgriff auf kognitive Grundmechanismen menschlichen Verstehens (i.e. Informationsverarbeitung) zu erklären.

Kognitionspyschologische Konzepte, die dabei besondere Beachtung finden sind:

Illustration der generellen Gültigkeit menschlicher Kognition

Die Fähigkeit des kognitiven Framings beispielsweise - das Verstehen neuer Umweltinformation durch deren Einbettung in einen kognitiven Interpretationsrahmen (frame) - lässt sich in vielfältigen menschlichen Sinnesleistungen beobachten; so werden beispielsweise Noten im Verhältnis zu einer gewissen Tonart (auditiven frame) interpretiert und als tonal/atonal bewertet, optische Täuschungen unterliegen gewöhnlich einem frame-Konflikt zwischen konkurrierenden Interpretationsrahmen (vgl. Kippfigur), und menschliche Äußerungen im Gesprächsfluss werden generell im Rahmen des bisherigen Gesprächs interpretiert (vgl. "Triff mich hier, heute in einer Woche, mit einem Stock der diese Größe hat" - ohne adäquates Framing kann dem Satz keinerlei Bedeutung zugemessen werden). In Bezug auf literarische Texte schlägt beispielsweise Emmot[1] vor, plötzliche Handlungsumbrüche am Ende einer Short Story als kognitives Re-framing zu betrachten, in dessen Licht vorherigen Handlungselementen eine völlig neue (und schlüssige) Bedeutung zukommt.

Körperliche Verankerung der Kognition

Die Kognitive Poetik berücksichtigt dabei besonders die grundlegende Verankerung menschlicher Kognition in der artspezifischen Körperlichkeit. Diesem Ansatz zufolge hat der Mensch im Laufe seiner evolutionären Entwicklung spezifische Mechanismen herausgebildet, um seine Wahrnehmung von Wirklichkeit zu strukturieren, die vor allem von seinem körperlichen Erleben abhängen.[2] Solche körperlich determinierten Kognitionskonzepte lassen sich in der Folge auch im literarischen Rezeptionsvorgang aufzeigen.

Illustration der körperlichen Verankerung sowie kognitiver Leistungen

In diesem Sinne lässt sich beispielsweise die Figur-Grund-Unterscheidung als eine zentrale kognitive Fertigkeit betrachten, die der Mensch im Laufe seiner körperlichen Phylogenese entwickelt hat (zweifellos zu einem frühen evolutionären Zeitpunkt, da er diese Fähigkeit mit zahllosen Schwesterspezies teilt). Die spezifische Körperlichkeit des Homo sapiens, seine Situiertheit in einer physischen Umgebung voller beweglicher und starrer Objekte, die es erfolgreich zu manipulieren gilt, führte demnach zur Ausbildung der (primär visuellen) Unterscheidung zwischen Vordergrundobjekten (Figur) und einem starren Hintergrund (Grund). Diese Fertigkeit hat im Laufe der Evolution im Menschen eine besondere Entwicklungsstufe erreicht (vgl. tarnendes Mimikry betreibende Falter, welche von hochspezialisierten Raubvögeln nicht als separate Objekte identifiziert werden können, während dem Menschen diese Unterscheidung ohne Schwierigkeiten gelingt). In Bezug auf Literaturrezeption ermöglicht diese kognitive Fähigkeit dem Menschen beispielsweise Protagonisten in größeren Textteilen als separate Handlungsträger zu identifizieren, eine Haupt- von einer Hintergrundhandlung zu unterscheiden oder die Isolierung bestimmter semantischer Felder vorzunehmen.

Interdisziplinarität

Die Kognitive Poetik ist, per Definition, interdisziplinär angelegt. Die geisteswissenschaftliche Literaturforschung steht dabei im Austausch mit zahlreiche Schwesterdisziplinen aus den Naturwissenschaften:

Spezialisierungsfelder

Evolutionsbiologischer Ansatz

In der deutschen Forschung tritt vor allem Karl Eibl für eine kritisch-rationale, empirisch ausgerichtete Literaturwissenschaft ein: In Aufsätzen und der Monographie Die Entstehung der Poesie (1995) erklärt Eibl die Grundlagen menschlichen Kunstverhaltens mit evolutionsbiologischen und ethologischen Argumenten. In Animal poeta (2004) und Kultur als Zwischenwelt (2009) erweiterte Eibl seinen Ansatz mit Argumenten der Soziobiologie und der Evolutionären Psychologie.

Kognitionslinguistischer Ansatz

In diesem Feld finden sich vor allem Arbeiten, die Konzepte und Ansätze der Kognitiven Linguistik auf die Kognitive Poetik übertragen. Besondere Bedeutung wird dabei dem sogenannten "Kognitiven Blending" (nach Fauconnier und Turner) zugemessen, das jedoch bislang nicht durch neurokognitive Evidenz zu belegen ist.

Produktionsästhetischer Ansatz

In der deutschen Literatur hat sich vor allem der Lyriker Durs Grünbein mit den Beziehungen zwischen Gehirn und schöpferisch-schriftstellerischen Tätigkeit beschäftigt. In den Gedichtbänden Schädelbasislektion (1991), Gehirn und Denken (2000) oder in Der cartesische Taucher. Drei Meditationen (2008), aber auch in Gesprächen mit Neurowissenschaftlern[3] reflektiert Grünbein über das Verhältnis zwischen Kognition und Kunst.

Kritik

Methodologisch ist die Kognitive Poetik zum jetzigen Zeitpunkt eine reine Korrelationswissenschaft. Danach werden gewisse narratologisch-poetologische Phänomene mit kognitiven-neuronalen Mustern in Verbindung gesetzt; eine schlichte Korrelation zweier Datensätze jedoch liefert weder eine Erklärung der beobachteten Phänomene noch weiterreichende oder übertragbare Erkenntnisse. Die Argumentation, man erforsche auf diesem Wege die neuronale Funktions- und Arbeitsweise des Gehirns, verschiebt die Frage nach funktionalen Erklärungsmustern dieser Phänomene auf andere Forschungsfelder, speziell die Neurowissenschaften.

Quellen

  1. Emmott, Catherine (2003) "A cognitive poetic analysis of 'twists in the tale' and other plot reversals in narrative texts." Ed. Steen, Gerard. Cognitive Poetics in Practice. London: Routledge.
  2. Vgl. "Wenn wir ganz andere neuronale Adaptionsprozesse durchlaufen hätten - wie etwa der Octopus - hätten wir auch ein anderes Weltbild." Ernst Pöppel, Neurowissenschaftlter. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-18074412.html
  3. Bsp. mit Ernst Pöppel im Spiegel, vgl. dazu auch "Zu Durs Grünbeins Poetik"

Weiterführende Literatur

  • Eibl, Karl. Die Entstehung der Poesie. Frankfurt 1995
  • Eibl, Karl. Animal poeta. Bausteine zur biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004
  • Eibl, Karl. Kultur als Zwischenwelt: Eine evolutionsbiologische Perspektive. Frankfurt 2009
  • Stockwell, Peter. Cognitive Poetics: An Introduction. London: Routledge 2002

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