André Müller sen.

André Müller sen.

André Müller sen., Pseudonym von Willi Fetz, (* 8. März 1925 in Köln) ist ein deutscher Dichter, Publizist, Theaterkritiker und Theaterpraktiker, Dozent für Dramaturgie.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Der gelernte Tischler verfiel nach eigenen Worten Mitte der 1950er-Jahre dem Theater Bertolt Brechts. Von Brecht emanzipierte er sich gemeinsam mit Peter Hacks, mit dem ihn seit den fünfziger Jahren eine enge Freundschaft verband. Viele Jahre arbeitete André Müller sen. als dramaturgischer Berater, so für Hansgünther Heyme in dessen Kölner Zeit und für Benno Besson.

André Müller sen. war als Theaterkritiker und Redakteur mehrerer Kulturzeitschriften tätig, bis er selbst mit Stücken, Erzählungen, Satiren, Romanen, Anekdoten und Kinderbüchern hervortrat. Er war 1957 Gründer und später Vorsitzender des Arbeitskreises Bertolt Brecht (abb).

33 Jahre, von 1973 bis 2006, unterrichtete André Müller sen. an der Otto-Falckenberg-Schule, der Fachakademie für darstellende Kunst in München.

André Müller sen. ist mit der Fachjournalistin Anja Weintz verheiratet. Er lebt in Köln und Zülpich-Juntersdorf.

Werk

André Müller sen. ist ein im Westen wie im Osten heftig umstrittener Autor. Sein streckenweise radikaler Realismus und sein klassisches Kunstideal provozierten in beiden Systemen. Ein konstantes Thema im Schaffen von Müller ist seine Auseinandersetzung mit der Kochkunst.

Shakespeare

André Müller sen. ist ein bekannter Shakespeare-Spezialist. Es gilt als sein besonderes Verdienst, mit einer unakademischen Herangehensweise die Inhalte der Shakespeare-Stücke der elisabethanischen und der jakobäischen Zeit völlig neu erschlossen zu haben, sowohl für die inhaltliche Interpretation Shakespeares als auch für die Praxis des Theaters.

Müllers Methode ist es, die seiner Meinung nach im Text verschlüsselten gesellschaftlichen Hintergründe verständlich zu machen. Damit legt er übersehene, unterbewertete, vergessene oder auch zugeschüttete Bedeutungsschichten frei, was zu verblüffenden Einsichten in die Welt Shakespeares, seiner Figuren, aber auch des künstlerischen Schaffensprozesses führt. Müller betont: „Die aufgezeigten Vorgänge und ihre Bedeutung können nur die Grundlage bilden, auf der die Poesie ihre eigentümliche Schönheit entfalten muss“. Sein hermeneutisches Shakespeare-Verständnis ist autorzentriert und geprägt durch den Einfluss der marxistischen Literaturwissenschaft sowie durch Brechts Shakespeare-Rezeption.

Peter Hacks schrieb hierzu: „Der Vorteil von André Müllers Methode liegt in ihrer Beweiskraft. Er spricht nicht: soundso interpretiere ich den Hamlet, er spricht: das und das steht drin. Sorgfalt, die Tugend der Dummköpfe, erweist sich bei diesem denkenden Mann als ein Hilfsmittel von unschätzbarem Wert. Es kommt an den Tag, dass Shakespeare selber Ideen hatte und deren der Ausleger vielleicht so sehr nicht bedarf.“

Diese Sicherheit des Urteils löste erhebliches Befremden aus. Der zentrale deutsche Bibliothekseinkauf empfahl 2005 seinen Mitgliedern in einer Stellungnahme, das Buch nicht zu erwerben: „Die Schwäche der Beweisführung liegt in ihrer Einseitigkeit, die alle anderen möglichen Zugänge zu Shakespeares Spätwerk in heftiger Polemik gegen 'die Literaturwissenschaft' für ungültig erklärt und Müllers These nicht nur fragwürdig, sondern in ihrer verbissenen Redundanz auch zu einer mühseligen, zähen Lektüre macht.“ André Müller sen. dazu: "Ein wunderbares Beispiel! Man widerlegt nicht, man unterdrückt." In der Shakespeareforschung bleiben Müllers Interpretationen umstritten, da sie Shakespeares Text nicht beim Wort nehmen, sondern sich in der Beweisführung ausschließlich auf deutsche Übersetzungen stützen. Als problematisch wird außerdem die Fokussierung auf politische Aspekte in den Dramen empfunden.

Dramatik

1973 debütierte André Müller sen. mit der Komödie Das letzte Paradies in Göttingen. Das Stück wurde später vom Bayerischen Rundfunk verfilmt.

Besonderen Erfolg hatte Müllers zeitgenössische Neufassung von Daphnis und Chloe nach Clairville / Cordier und Jacques Offenbach, uraufgeführt bei den Dresdner Musikfestspielen 1985.

Epik

Der Roman Am Rubikon. Die schaudervollen Vorkommnisse in der Kommune V erzählt die psychologische Genesis der RAF: Eine sich politisch gebende Zweckgemeinschaft linker, aber weitestgehend selbstbezüglich lebender Studenten wird durch einen sich verstellenden Aufsteiger sowie durch einen in ihrer Mitte lebenden Polizeispitzel zunehmend radikalisiert und manipuliert. Die Studenten stehen den Anforderungen der Realität hilflos gegenüber und fallen auf jeden weiteren Schachzug der beiden Opponenten herein, bis aus der dichter werdenden Mischung aus antikommunistischer und linksradikaler Gesinnung heraus die Gründung der RAF am Ende unausweichlich, und der Rubikon überschritten wird. Der packend und mit viel Witz geschriebene Roman, der offensichtlich mit Insider-Kenntnissen spielt und in dem etliche der Haupt-Akteure der Zeit zu erkennen sind, wurde bereits 1975 abgeschlossen und sollte zunächst in der DDR erscheinen, wo er aber verboten wurde, weil er nicht "solidarisch" mit der Neuen Linken umgeht. Westdeutsche Verlage lehnten das Buch ab, da der Autor unterstellt, die Behörden hätten ein eigenes Interesse an der Erstarkung des Terrorismus gehabt. Das Buch war erst 1987 bei Pahl-Rugenstein in Köln für kurze Zeit in einer Kleinauflage erhältlich und wurde 2008 neu aufgelegt.

1985 erschien Die Partei der Knoblauchfreunde, eine satirische Auseinandersetzung mit den Verfahrensweisen in marxistischen Parteien, im Verlag Loipfing Press.

2007 erschien der Schlüsselroman Anne Willing, oder: Die Wende vor der Wende, eine umfassende Darstellung der Entwicklung der DDR in den späten sechziger Jahren und frühen siebziger Jahren. Gerüchteweise soll die Hauptfigur identisch sein mit der Dichterin Gisela Steineckert, nach Angabe des Autors ist diese Behauptung aber eine reine Erfindung: Gisela Steineckert habe seines Wissens zu keiner Zeit gegen den Bestand der DDR konspiriert.

Anekdoten

André Müller sen. ist ein anerkannter Meister der anekdotischen Erzählung. Seine Brecht-Anekdoten (1980, Neuauflage 2006) und Marx-Anekdoten (1977) sind weithin bekannt. Viele Sekundärtexte beziehen sich auf im Umlauf befindliche Anekdoten aus Müllers Sammlungen, meist ohne es zu merken.

Freundschaft mit Peter Hacks

André Müller sen. kann als der engste Freund des Dichters Peter Hacks bezeichnet werden. Seit den späten fünfziger Jahren bestand ein ununterbrochener Briefwechsel und persönlicher Austausch. Die wechselseitige Einflussnahme von Hacks und Müller ist vielfältig nachweisbar. Von Müller ist bekannt, dass er eine Sammlung von Hacks-Anekdoten verfertigt hat, die nur im Privatdruck erschien. Der Briefwechsel von Hacks und Müller aus den Jahren 1989 / 1990 erschien 2001 unter dem Titel Nur daß wir ein bisschen klärer sind in Berlin. 2008 erschienen die Gespräche mit Hacks (1963 - 2003) in Berlin.

Veröffentlichungen

Dramen

Zumeist als Bühnenmanuskripte (BM) beim Drei Masken Verlag, München.

  • Das letzte Paradies. Komödie in acht Bildern (BM 1970; Separatdruck Berlin 1973);
  • Friedrich Ludwig Jahn. Ein Festspiel. Satirische Komödie (BM 1973);
  • 1945. Eine Szenenfolge (BM 1984);
  • Daphnis und Chloe. Operette für Schauspieler, nach dem Libretto von Clairville und Cordier und der Musik von Jacques Offenbach (BM 1985, UA 1985);
  • Mobuto. Komödie in drei Akten (BM 1991);
  • Felix, der Pinguin. Ein Märchen für Kinder (BM 1992, Separatdruck 1979);
  • Die Epikuräer von Köln. Lustspiel (1994).

Bücher

  • Kreuzzug gegen Brecht. Die Kampagne in der Bundesrepublik 1961 / 62, Berlin: Aufbau 1962, 128 S.;
  • Der Regisseur Benno Besson. Gespräche, Notate, Aufführungsphotos, Berlin: Henschel 1967, 116 S.;
  • Geschichten vom Herrn B., 99 Brecht-Anekdoten, Frankfurt am Main: Insel-Verlag 1967, zusammen mit Gerd Semmer;
  • Geschichten vom Herrn B., 100 neue Brecht-Anekdoten, München: Kindler 1968, zusammen mit Gerd Semmer;
  • Lesarten zu Shakespeare, Berlin: Aufbau 1969;
  • Anekdotisches Spectaculum, München: Kindler 1970;
  • Der Schauspieler Fred Düren, Berlin: Henschel 1972;
  • Das letzte Paradies. Komödie, Berlin: Eulenspiegel 1973, 85 S., mit Illustrationen von Hans Ticha;
  • Halten Sie den Kopf hin!. Marx-Anekdoten, Berlin: Eulenspiegel 1977, 99 S.;
  • Über das Unglück, geistreich zu sein, oder 450 Anekdoten über geistreiche Philosophen, Künstler, Könige, Päpste und Politiker, Berlin: Eulenspiegel 1978, 232 S., mit Illustrationen von Peter Laube;
  • Dalli, der Haifisch, Berlin: Kinderbuchverlag 1978, mit Illustrationen von Klaus Ensikat;
  • Felix, der Pinguin, Berlin: Kinderbuchverlag 1979, mit Illustrationen von Erika Klein;
  • Shakespeare ohne Geheimnis, Leipzig: Philipp Reclam jun. 1980, mit einem Vorwort von Peter Hacks, Neuauflage: Berlin: Eulenspiegel Verlag 2006
  • Geschichten von Herrn B.. Gesammelte Brecht-Anekdoten, Leipzig: Philipp Reclam jun. 1977, 82 S., zusammen mit Gerd Semmer, Neuauflage: Berlin: Eulenspiegel Verlag 2006
  • Die Partei der Knoblauchfreunde, Stuttgart: Loipfing-Press 1985, 120 S., mit Illustrationen von Eckard Alker;
  • Die Rosenschule, Berlin: Kinderbuchverlag 1987, mit Illustrationen von Andreas J. Mueller;
  • Am Rubikon. Die schaudervollen Vorkommnisse in der Kommune V, Köln: Pahl Rugenstein 1987, 412 S., mit einem Essay von Armin Stolper und einem Streitbrief von Peter Hacks; Verbesserte Neuauflage: Mainz: Verlag Andre Thiele 2008, ISBN 978-3-940884-03-9
  • Nur daß wir ein bisschen klärer sind. Der Briefwechsel mit Peter Hacks 1989 / 90, Berlin: Eulenspiegel 2001;
  • Shakespeare verstehen. Das Geheimnis seiner späten Tragödien, Berlin: Eulenspiegel Verlag 2004
  • Anne Willing. Die Wende vor der Wende, Berlin: Das Neue Berlin 2007, 464 S., ISBN 978-3-360-01296-8
  • Gespräche mit Hacks 1963-2003, Berlin: Eulenspiegel Verlag 2008, 465 S., ISBN 978-3-359-01687-8.

Zitate

  • „Ach!“, sagte mein goldgefiederter Gast, „es heißt schon ein widerwärtiges Schicksal bestehen müssen, wenn man zum Dasein in einem Lande verurteilt ist, in dem die Kochkunst die Steinzeit nie wirklich überwunden hat und sich nun bereits den Abscheulichkeiten der Großküchenkultur zuwendet.“ (Fasanenland)
  • LOLOTTE: Die modernen Vampire saugen kein Blut mehr, sie saugen den Menschen das Hirn aus. (Die Epikuräer von Köln)
  • Aber gerade das ist es, was den Herodot so spannend macht, daß ihn die Menschen noch zweieinhalb Jahrtausende später mit nie erlahmender Lust lesen, während die fünfzigtausend Werke, in denen nachgewiesen wird, wie es wirklich war, so langweilig sind, daß meistens nur die Freunde und Geliebten der Verfasser sie überhaupt zur Kenntnis nehmen. (Am Rubikon)
  • Hamlets berühmter Todestrieb ist nichts anderes als die Lust, endlich dort zu sein, wo ihm Theorie und Praxis keine Kopfschmerzen mehr bereiten können. (Shakespeare ohne Geheimnis)

Weblinks


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