Kritik und Selbstkritik

Kritik und Selbstkritik

Kritik und Selbstkritik bezeichnet eine während des Stalinismus auf Parteiversammlungen und ähnlichen Zusammenkünften gepflegte Praxis ritualisierter gegenseitiger Kontrolle.

Das System von Kritik und Selbstkritik wurde in der Sowjetunion der 1920er Jahre geschaffen. Vor allem Parteimitglieder waren angehalten, in regelmäßigen Abständen zu Sitzungen der „Kritik und Selbstkritik“ zusammenzukommen, deren Ergebnisse protokolliert wurden und auch zu Sanktionen führen konnten (Rückversetzung in den Status des Parteikandidaten, Pflicht zur gesellschaftlichen Arbeit, berufliche Nachteile). Berthold Unfried sieht dieses der öffentlichen Beichte verwandte Ritual als Konzept gegenseitiger Überwachung unter Gleichen.[1] Oft waren die Anklagen und Selbstbezichtigungen allerdings Inszenierungen von Seiten einer höheren Instanz.

Der Schriftsteller und Historiker Wolfgang Leonhard schildert seine erste Kritik und Selbstkritik rückblickend folgendermaßen:

„Harmlose, nebensächliche, völlig unpolitische Aussprüche wurden ins Riesenhafte vergrößert und verzerrt, so daß charakterliche Eigenschaften und politische Konzeptionen erkennbar schienen. Danach wurden diese (nie formulierten) politischen Konzeptionen mit (ebenfalls nie ausgeführten) politischen Handlungen gleichgesetzt und schließlich die grauenhaften Konsequenzen vor Augen geführt.“

Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1974 [Org. 1955], S. 184.

In den sowjetischen Selbstkritikkampagnen von 1928 und 1937 wurden auch die Nicht-Parteimitglieder aufgerufen, sich an den Bezichtigungsritualen zu beteiligen. Mit dem Ende des Stalinismus um die Mitte der 1950er-Jahre kam das effiziente, aber psychisch äußerst belastende Instrument sozialer Kontrolle außer Gebrauch. Es wurde aber im Maoismus und zum Teil auch in den westlichen K-Gruppen der 1970er Jahre weiter gepflegt.

Kritik und Selbstkritik lautet auch das 27. Kapitel des Werkes Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung.

Einzelnachweise

  1. Berthold Unfried: „Ich bekenne…“ Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2006, ISBN 3-593-37869-8

Literatur

  • Klaus-Georg Riegel: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus. (= Herkunft und Zukunft; Bd. 7). Styria, Graz u. a. 1985, ISBN 3-222-11601-6
  • Berthold Unfried: „Ich bekenne…“ Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik. (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft; Bd. 31). Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2006, ISBN 3-593-37869-8
  • Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1955, ISBN 3-462-01463-3.

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