Kulturrelativismus

Kulturrelativismus

Der Kulturrelativismus steht im Gegensatz zum ethischen, aber auch zum soziologischen Universalismus, der die Existenz einer allumfassenden Ethik bzw. einer allanwendbaren soziologischen Theorie postuliert, und im Gegensatz zum Ethnozentrismus, der die eigene Kultur als maßgeblich betrachtet und alle anderen Kulturen im Hinblick auf die eigene Weltanschauung einstuft und beurteilt, sowie auch zur Ethnomethodologie. Der Kulturrelativismus ist ein wichtiger Bestandteil des Multikulturalismus.

Der Kulturrelativismus entstand als Reaktion auf das naturalistische Denken des 19. Jahrhunderts. Der Kulturrelativismus betont den Pluralismus der Kulturen und postuliert, dass Kulturen nicht verglichen oder aus dem Blickwinkel einer anderen Kultur bewertet werden könnten. Bestimmte innerkulturelle Verhaltensformen müssten immer im Licht des dazugehörigen Sozial-, Wertesystems und Kulturverständnisses gesehen werden. Dementsprechend können kulturelle Phänomene nur in ihrem eigenen Kontext verstanden, beurteilt und betrachtet werden (emische Sichtweise).

Zugleich entsteht dadurch das Problem, dass im Kulturrelativismus Werte wie Menschenrechte nicht universell gelten.

Wichtige Vertreter des Kulturrelativismus sind Julius Evola, Franz Boas, Ruth Benedict, Margaret Mead und Ray Birdwhistell.

Melford Spiro unterscheidet zwischen drei Arten des Kulturrelativismus: dem deskriptiven, dem normativen und dem epistemologischen. Franz Boas, der den Kulturrelativismus zur zentralen Prämisse kulturwissenschaftlicher Forschung machte, ordnet Spiro der deskriptiven Form zu.

Kulturrelativistische Argumentation

Der Umgang mit Konzepten wie „Menschenrechte“ und „Marktwirtschaft“ zeigt beispielsweise in China, dass die in diesen Kulturraum eingebrachten Konzepte nicht völlig abgelehnt, aber mit semiotischen Techniken der Rechtfertigungsethik kulturrelativistisch interpretiert werden können:

  • Semantisch: Die Existenz von Menschenrechten wird anerkannt, aber als Zeichen ist der Begriff „Menschenrechte“ auf unterschiedliche Designate gerichtet: Im „Westen“ beispielsweise auf das Recht eines Individuums, sein Recht einzuklagen, im „Osten“ beispielsweise auf das Recht der Masse, nicht durch Rechtsbeanspruchung eines Individuums in ihrer Stabilität gefährdet zu werden.
  • Pragmatisch: Die Beziehung des Zeichens „Menschenrechte“ zum Interpreten wird zur Differenzierung genutzt. Das ermöglicht zum Beispiel chinesischen Regierenden, nach jahrelanger Ablehnung von „Menschenrechten“ nun selbst Menschenrechte in Anspruch zu nehmen, aber „mit chinesischer Prägung“ („Zhongguo tese de“).
  • Syntaktisch: Das Beispiel aus der Pragmatik ist auch gleichzeitig ein Beispiel für die Steuerung der Beziehung zwischen den Zeichen durch wiederholte syntaktische Verknüpfung von Zeichen. Beobachtet wird hier, dass das zum Designat zeigende Zeichen sehr häufig zusammen mit einem bestimmten als sein Attribut dienenden Zeichen auftritt. So tritt auch das Zeichen „Marktwirtschaft“ im modernen Chinesisch sehr oft mit dem Zeichen „mit chinesischer Prägung“ auf, mit dem Ziel der Programmierung seiner pragmatischen Beziehung. Diese Beziehung besteht in der Bedeutung des Zeichens für seinen Interpreten, die hier mit syntaktischen Mitteln beeinflusst wird.

Interessant bei der – oft unbewussten – Anwendung der Semiotik zur Konstruktion einer kulturrelativistischen Argumentation ist insbesondere, wenn sie in der Diskussion zwischen Vertretern aus unterschiedlichen „Kulturkreisen“ wirksam eingesetzt wird und dadurch auf Gemeinsamkeiten in der Diskussionskultur der Menschen hinweist.

Kulturrelativismus in der Kritik

In die Kritik ist der Kulturrelativismus geraten, weil er u.a. verlangt, z.B. aus dem islamischen Kulturkreis stammenden Menschen das Recht zuzugestehen, die Menschenrechte nicht beachten zu müssen, weil diese ein Produkt der westlichen Kultur seien, und daher auch von Muslimen begangene Menschenrechtsverletzungen nicht angeprangert werden dürften, weil dies „rassistisch“, „ethnozentrisch“ und „eurozentrisch“ sei.

Diese Haltung wird wiederum von anderen aus der islamischen Kultur stammenden Menschen angeprangert (z.B. Bassam Tibi). Diese führen zum Beispiel an, es sei gerade rassistisch, Menschen aufgrund der ihnen per Herkunft zugeschriebenen Kultur den Anspruch auf Menschenrechte verweigern zu wollen.

Im chinesischen Kulturraum prägte der Kulturkritiker Bo Yang das Bild vom „Sojasoßenfass“, in das von außerhalb Chinas kommende kulturelle Einflüsse solange eingelegt würden, bis sie einen einheitlichen chinesischen Geschmack angenommen und ihren ursprünglichen Kern verloren haben. Er illustrierte damit die aus seiner Sicht chinesische Weise der Assimilation von aus anderen Kulturen übernommenen Konzepten.

Auf philosophischer Ebene wird gegen den Kulturrelativismus eingewandt, dass die „Selbstanwendung“ den Anspruch des Kulturrelativismus auf allgemeine Anerkennung ad absurdum führe: Schließlich sei der Kulturrelativismus selbst eine Norm, die nur innerhalb einer bestimmten Kultur anerkannt werde, oder, genauer, nur innerhalb bestimmter Strömungen der „westlichen“ Kultur. Von seinen eigenen Prinzipien her müsse der Kulturrelativismus die Allgemeingültigkeit einer solchen Norm ablehnen. Von seinen eigenen Prinzipien her könne der Kulturrelativismus keinen Anspruch auf allgemeine Anerkennung erheben. In der jüngeren Ethnologie wurde dem Kulturrelativismus deshalb vorgeworfen, selbst ein Ethnozentrismus zu sein.

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