Kunstharmonium

Kunstharmonium

Beim Kunstharmonium handelt es sich um die höchstwertige Art des Harmoniums, die speziell für den künstlerisch-solistischen Einsatz konzipiert wurde. Wesentliches Kennzeichen des Kunstharmoniums ist eine "Doppelexpression" genannte Winddruckteilung, die es erlaubt, Bass- und Diskanthälfte der Klaviatur in unterschiedlicher Dynamik zu spielen. Die Disposition des Kunstharmoniums ist typenspezifisch und standardisiert, die Windversorgung erfolgt klassischerweise mit Druckwind.

Inhaltsverzeichnis

Ausstattung

Nach den Worten eines seiner wichtigsten Komponisten, Sigfrid Karg-Elert (in: Die Kunst des Registrierens, 1. Teil, Berlin 1911), sollte ein typisches Kunstharmonium folgende technische Ausstattung haben:

  • eine Druckwindanlage, d. h. im Gegensatz zum weiter verbreiteten „Normalharmonium“ arbeitet das Kunstharmonium klassischerweise nicht mit Saugwind, sondern mit dem dynamisch besser nuancierbaren Druckwind (wenngleich nach 1900 auch vereinzelt Saugwind-Kunstharmoniums konstruiert wurden);
  • einen Klaviaturumfang von C–c4, mit Teilung in eine Basshälfte von C–e1 und eine Diskanthälfte von f1–c4, für die es jeweils eigene Register gibt (das „Normalharmonium“ auf Saugwind hat demgegenüber einen Klaviaturumfang von KontraF–f3 mit Teilung bei h0/c1);
  • einen Expressionszug, der den Wind unter Umgehung des ausgleichenden Magazinbalgs direkt zu den Zungen leitet. Dadurch kann man die Lautstärke besser beeinflussen, je nachdem, wie stark man die Schöpfpedale tritt;
  • die „doppelte Expression“, die durch zwei Kniehebel für die Bass- und die Diskanthälfte gesteuert wird (und mit dem zuvor genannten Expressionszug nicht zu verwechseln ist). Die doppelte Expression bewirkt unterschiedliche Öffnungsgrade der beiden Einlassventile zur Zungenkammer und beeinflusst daher ebenfalls die Lautstärke;
  • das Métaphone, eine Vorrichtung, die im hinteren Bereich des Kunstharmoniums Klappen schließt; dadurch wird der Klang der hinteren Spiele (unten Nr. 3 und 4) dunkler und satter;
  • das Prolongement, eine „Tastenfessel“ für die zwölf Tasten der unteren Oktave, welche sie in niedergedrücktem Zustand hält und auf diese Weise Orgelpunkte ermöglicht. Durch eine Vorrichtung zur „Hackenauslösung“ am linken Pedal, Talonnière genannt, kann das Prolongement vorübergehend außer Kraft gesetzt werden, solange sein Registerzug gezogen ist (denn man möchte ja nicht jeden Ton, der in die tiefe Oktave hineinspielt, lange halten);
  • Das Forte-Fixe und das Forte-Expressif, zwei Züge, die die Forteklappe des Kunstharmoniums öffnen; das Forte Fixe öffnet diese unveränderlich weit, das Forte Expressif dagegen in Abhängigkeit vom Winddruck;
  • Das Grand Jeu („Volles Werk“), ein Zug, der die vier ersten Register (unten Nr. 1–4) auf einmal in Aktion setzt;
  • Die Perkussion, eine Vorrichtung, bei der die Zungen des ersten 8’-Registers (unten Nr. 1) mit Hämmerchen angeschlagen werden. Die Perkussion kann daher auch ohne Windzufuhr benutzt werden. Mit Windbetrieb des ersten Registers kann sich durch die Perkussion die Schnelligkeit der (vor allem im Bass etwas trägen) Tonansprache der Zungen steigern; außerdem erleichtert sie das Staccato- und Trillerspiel.
  • Einige Kunstharmonien enthalten außerdem eine integrierte Celesta.

Die Register des Kunstharmoniums sind genau festgelegt. Sie werden in den entsprechenden Kompositionen oder Bearbeitungen durch Ziffern ausgedrückt, und zwar wie folgt:

(1) Cor Anglais (Englischhorn) 8’ im Bass, Flûte (Flöte) 8’ im Diskant; das Hauptregister („Grundspiel“) mit einem direkten, klaren Klang;

(2) Bourdon 16’ im Bass, Clarinette 16’ im Diskant, mit rundem, weichem Klang;

(3) Clairon 4’ im Bass, Fifre 4’ im Diskant, mit nasalem, kräftigem Klang;

(4) Basson 8’ im Bass, Hautbois 8’ im Diskant, mit markantem Klang, ebenso wie (3) im hinteren Bereich des Harmoniums;

(5) Harpe éolienne (Aeolsharfe) 2’ im Bass, ein schwebendes Register; Musette 16’ im Diskant, mit schalmeiartigem Klang;

(6) Voix céleste 16’ im Diskant, eine schwebende Stimme für mystische Effekte;

(7) Baryton 32’ im Diskant, eine tiefliegende nasale Stimme, nur bei größeren Instrumenten vorhanden;

(8) Aeolsharfe 8’ im Diskant, ebenfalls nur bei größeren Instrumenten.

Im allgemeinen sind in Kompositionen für das Kunstharmonium die Stimmen in der Tonhöhe notiert, in der sie gespielt werden sollen, nicht in der sie klingen. Eine scheinbar hochliegende Melodie mit Bezeichnung (2) klingt also, da ein 16’-Register gefordert ist, eine Oktave tiefer. (Bei der Wiedergabe auf einem Harmonium oder einer Orgel ohne 16’ müsste man dann eine Oktave nach unten transponieren.)

Geschichte

Alexandre François Debain (1809–1877) ließ sich 1842 das klassische französische Druckwindharmonium patentieren. Seine Weiterentwicklung zum eigentlichen Kunstharmonium (französisch harmonium d'artiste oder harmonium d'art) ist dem französischen Instrumentenbauer Victor Mustel (1815–1890) zu verdanken, der sich 1853 die geteilte Expression patentieren ließ. Seine Entwicklung dieses Instruments sollte eine Reihe von Beschränkungen aufheben, die mit den bis dahin gebräuchlichen Harmonien verbunden waren. Außerdem sollte ein einheitlicher Typ geschaffen werden, der es erlaubte, auch anspruchsvolle Kompositionen bei einer einigermaßen einheitlichen Handhabung zu spielen. Typische mit dem Harmonium verbundene negative Eigenschaften, wie etwa das Leiern, der unstetige Ton und die ungenügende dynamische Differenzierung sollten mit dem Kunstharmonium beseitigt werden.

Aufgrund seines hohen Preises und der großen Kunstfertigkeit, die zu seinem Spiel benötigt wurde, entwickelte sich das Kunstharmonium (im Gegensatz zum Saugwindharmonium) jedoch nie zu einem Masseninstrument. Hinzukam, dass nur relativ wenige bedeutende Komponisten wie etwa César Franck, Alexandre Guilmant, Georges Bizet und Sigfrid Karg-Elert speziell für das Kunstharmonium komponierten. Andererseits bringt jedoch gerade das Kunstharmonium die spezifischen Vorteile des Instrumentes Harmonium, d. h. seinen ganzen klanglichen und dynamischen Reichtum, in besonderer Weise zur Geltung. Darum ist auch neuerdings in Fachkreisen das Kunstharmonium wieder ein geschätztes Instrument.

Literatur

  • Friederike Beyer: Das Kunstharmonium, in: Christan Ahrens, Gregor Klinke (Hgg.): Das Harmonium in Deutschland. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2001, [ISBN 3-923639-48-1], S. 133-159.
  • Michel König: Arnold Schönbergs Herzgewächse op. 20. Neue Erkenntnisse zur Aufführungspraxis, in: Helmut C. Jacobs, Ralf Kaupenjohann (Hgg.): Brennpunkte III. Aufsätze, Gespräche, Meinungen und Sachinformationen zum Themenbereich Akkordeon. Bochum: Augemus Musikverlag 2006, [ISBN 978-3-924272-09-8], S. 78-93.

Weblinks


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