- Mäeutik
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Als Mäeutik (auch: Maieutik; von altgriechisch μαιευτική maieutikē ‚Hebammenkunst‘)[1] bezeichnete Sokrates in Anspielung auf den Beruf seiner Mutter seine Kunst der Gesprächsführung. Platon legte seine Philosophie ganz überwiegend in der literarischen Form Sokratischer Gespräche nieder.
Inhaltsverzeichnis
Mäeutik als Dialogtechnik des Sokrates
Die Mäeutik beruht auf der Grundannahme, dass die Wahrheit in der angeborenen Vernunft jedes Menschen bereitliegt und nur ans Licht gebracht („entbunden“) werden muss. Der Kern des Sokratischen Gesprächs ist es, durch gezielte Fragen – die so genannten sokratischen Fragen – die Beteiligten in den Dialog einzubeziehen, so dass sie selbst zu Erkenntnissen gelangen. Die Mäeutik verfährt in zwei Schritten:
- In der Elenktik (griech. „Kunst der Überführung“) erschüttert Sokrates den Standpunkt seines Gesprächspartners und überführt ihn in die Aporie, wodurch beim Schüler die Bereitschaft zum Lernen und zur Suche nach der Erkenntnis geweckt werden soll.
- In der Protreptik (griech. „Kunst der Hinwendung“) führt Sokrates den Gesprächspartner dann durch weiteres Fragen zu einer richtigen Meinung – allerdings noch nicht zur Erkenntnis, da diese sich nur in der Schau der Ideen zeigt.
Ziel der Mäeutik ist bei Sokrates/Platon εὐ ζῆν (eu zen), „richtig/gut/wahr zu leben“.
Mäeutik als Unterrichtsmethode
Die Sokratische Methode der Gesprächsführung wurde seit dem 18. Jahrhundert zum Vorbild einer Unterrichtsmethode genommen, die Erotematik genannt wurde, heute zumeist als fragend-entwickelnd bezeichnet wird und insbesondere den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht nachhaltig geprägt hat. Der Mathematiker Karl Weierstraß schrieb einen Aufsatz über die Sokratische Methode[2], der Fachdidaktiker Martin Wagenschein nannte seinen Ansatz sokratisch.
Leonard Nelson propagierte die Sokratische Methode als Sokratisches Gespräch (auch neosokratisch genannt) sowohl als Unterrichtsmethode als auch als Ansatz für eine Wiederbelebung der Philosophie.
Mäeutik in der Verhaltenstherapie
In der kognitiven Verhaltenstherapie nach Albert Ellis, der sogenannten Rational-Emotiven-Therapie (RET), wird die Technik des sokratischen Dialoges angewendet. Es wird dabei davon ausgegangen, dass irrationale Grundannahmen des Klienten Ursache seiner psychischen Störung sind. Mit Hilfe der sokratischen Gesprächstechnik versucht der Therapeut, diese Grundannahmen zu identifizieren und schrittweise zu verändern. Die sokratische Gesprächstechnik wird in der Verhaltenstherapie inzwischen weit über die Rational-Emotive-Therapie hinaus angewendet.
Mäeutik als Pflegemodell
Ursprünglich bezeichnete der Terminus Mäeutik die Kunst der Hebammen, die Geburtshilfe. Doch Sokrates bezog seine Auffassung von Mäeutik auf andere Geburten: Ihm ging es darum, im Gespräch die Wahrheit ans Licht zu bringen. Der Einsatz der Mäeutik in der Pflege bedeutet sozusagen den dritten Bedeutungswechsel des alten griechischen Wortes. Im Pflegekontext geht es darum, biographische Hintergründe bestimmten Verhaltens zu entdecken, zu verstehen und damit für eine Entspannung der Situation in der Pflegeeinrichtung zu sorgen.
Das mäeutische Pflegemodell wurde in den 1990er Jahren in den Niederlanden von Cora van der Kooij für die Zielgruppe dementer alter Menschen entwickelt. Das Ziel war wissenschaftliche Erkenntnisse anzuwenden und Erfahrungswissen umzusetzen. Das Modell beruht daher auf gängigen Konzepten wie Validation, Basale Stimulation, Realitätsorientierung und dergleichen. Das Pflegemodell Mäeutik ermöglicht Pflegepersonen theoretische und praktischen Kenntnisse mit Hilfe sinnvoller Methodik im Team anzuwenden.
Mithilfe der Instrumente der Mäeutik werden Pflegepersonen dazu hingeführt, ihr gefühlsmäßiges Wissen zu nutzen, indem sie sich dessen bewusst werden, lernen, sich auszudrücken und im strukturierten Teamgespräch darüber zu reflektieren. Die Instrumente der Mäeutik sind der Beobachtungsbogen, die Pflegekarte und die bewohnerbezogene Besprechung. Der Beobachtungsbogen besteht aus einer umfangreichen Fragensammlung zur Biographie und den Gewohnheiten des alten Menschen, zu seiner Persönlichkeit, zur Phase der Demenz, in der er sich befindet und zu den Kontaktmöglichkeiten. Der Beobachtungsbogen soll den Pflegepersonen vor allem in den ersten sechs Monaten helfen, sich in die Erlebenswelt des Individuums einzuleben. Die Pflegekarte fasst pflegerelevante Informationen in übersichtlicher Form für den alltäglichen Gebrauch zusammen. Die bewohnerbezogene Besprechung ist eine strukturierte Besprechung des interdisziplinären Teams, die in vereinbarten Zeitabständen abgehalten wird.“
Das mäeutische Pflegemodell stellt die pflegebedürftigen Menschen, die Mitarbeiter und die Beziehung in den Mittelpunkt. Es basiert (nach Kitwood) auf der Annahme, dass alle Menschen verletzlich sind mit ihren Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen, dies ist der entscheidende Paradigmenwechsel. Der professionelle Helfer: Gesund, kompetent, im besten Fall freundlich steht dem Behandelten: Dement, mit zahlreichen Ausfällen, gegenüber. Der entscheidende Schritt ist die Überwindung dieser dualen Welt, indem Pflegepersonen sowohl sich selbst als auch den Patienten als Menschen wahrnehmen. Auf dieser Basis ist professionelle Pflege möglich. Als erste Einrichtung in Westösterreich führte die Caritas Socialis (CS) dieses Pflegemodell ein. Durch gemeinsame Forschungsarbeit mit der Gründerin Cora van der Coiij (IZMOS), Universität Klagenfurt (IFF) und Caritas Socialis wurde dieses Modell weiterentwickelt für den Hospiz Bereich. Hospizkultur und Mäeutik sind am Beginn des 21. Jahrhunderts zukunftsweisende Pflegemodelle für chronisch kranke, sterbende Menschen.
Poststrukturalistische Kritik
Für die Kritik des Poststrukturalismus an der abendländischen Philosophiegeschichte ist die Mäeutik ein Musterbeispiel für den Logozentrismus. Roland Barthes hält die sokratische Mäeutik allein für ein Prinzip, „den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen“.
Siehe auch
Literatur
- Dieter Birnbacher, Dieter Krohn (Hrsg.): Das sokratische Gespräch. Stuttgart 2002, ISBN 3-15-018230-1
- Detlef Horster: Das Sokratische Gespräch in Theorie und Praxis. Opladen 1994, ISBN 3-8100-1152-5
- Roland Barthes: Die Lust am Text. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1974, ISBN 3-518-01378-5 (Originaltitel: Le plaisir du texte. Paris 1973)
- Michael Hanke: Der maieutische Dialog. Aachen 1986, ISBN 3-922868-26-6.
- Michael Landmann: Elenktik und Maieutik. Drei Abhandlungen zur antiken Psychologie. Bouvier, Bonn 1950.
- H.Stavemann: Sokratische Gesprächsführung in Therapie und Beratung. Psychologie Verlagsunion 2003, ISBN 3-621-27496-0
- Christina Hallwirth-Spörk (Hrsg.), Andreas Heller, Karin Weiler: Hospizkultur und Mäeutik: Offen sein für Leben und Sterben. Lambertus-Verlag 2008, ISBN 978-3-7841-1879-6
- •Christine Hallwirth-Spörk (Hrsg.), Merkmale der sokratische Methode im mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell von Cora van der Kooij, Zorgtalentproducties, Apeldoorn 2006
Weblinks
Wiktionary: Mäeutik – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen- http://www.philosophisch-politische-akademie.de/gsp.html Gesellschaft für sokratisches Philosophieren
- http://www.learn-line.nrw.de/angebote/praktphilo/didaktik/sokra_gespraech.pdf Birnbacher: Das Sokratische Gespräch - eine philosophische Standortbestimmung (PDF-Datei; 40 kB)
- http://www.sowi-online.de/methoden/lexikon/sokratisches_gespraech_popp.htm Das sokratische Gespräch. Artikel von Susanne Popp im sowi-online-Methodenlexikon
Einzelnachweise
- ↑ Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. G. Freytag Verlag/Hölder-Pichler-Tempsky, München/Wien 1965.
- ↑ Mathematische Werke, Berlin 1903, III, Appendix, 315–329.
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