Ars dictandi

Ars dictandi

Die Ars dictandi (lat. „Kunst des Schreibens“, auch: Ars dictaminis) bezeichnete im Mittelalter die Fähigkeit eines Schreibers, Briefe und Urkunden abzufassen. Die Texte von Alberich von Montecassino aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts gelten als Grundlage der Gattung. Ab dem 12. Jahrhundert entwickelte sich die Kunst des Schreibens als Epistolographie, als Wissenschaft der Briefkunst, in Bologna zum Zweig der Literaturwissenschaft, inspiriert durch Adalbertus Samaritanus. Seine lateinischen Praecepta Dictaminum gelten als einer der Meilensteine der Literaturgeschichte.

Wichtige Vertreter der Ars dictandi sind Guido Faba, Magister Bernhardus, Boncompagno da Signa und Bene von Florenz

Die Ars dictaminis entwickelt sich in drei Phasen:

1. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstehen in Bologna erste pragmatische Brieflehrbücher mit Mustersammlungen. Zielgruppe waren Kleriker und Laien, die Briefe im bürokratischen Alltag in den italienischen Kommunen und der Kirchenverwaltung verfassen wollten. Adalbertus Samaritanus' Praecepta Dictaminum, Hugo Canonicus Rationes dictandi und die anonymen Rationes dictandi gehören in diese Phase.

2. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts übernimmt eine französische Schule (im Loiretal) die Texte aus Italien und ergänzt sie um theoretische Reflexionen aus der Rhetorik. Die französische Schule führt die Unterweisung im cursus (Rhythmik) in die Ars dictandi ein. Wichtige Texte sind das dictamen Bernardi, der Libellus de Arte Dictandi Rhetorice und die Ars dictadni Aurelianensis.

3. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verbreitet sich die Literaturgattung über ganz Europa, verlagert ihren Schwerpunkt aber wieder nach Norditalien. Sie wird Teil einer systematischen Diskussion der antiken und mittelalterlichen Rhetorik. Vertreter dieser Phase sind Guido Fabas Summa dictaminis und das Candelabrum des Bene von Florenz.

Die Entwicklung seit dem 14. Jahrhundert ist noch nicht systematisch erforscht. Weit verbrietet waren die Werke des Laurentius von Aquileia (um 1300) und dessen Schülers Johannes Bondi v. Aquileia.

Die Bezeichnung wird auch als Titel für neuzeitliche Bücher verwendet, welche dem Leser einen mustergültigen Korrespondenzstil vermittelten. Diese Lehrbücher befassten sich theoretisch wie praktisch mit der Kunst des Briefstils und lösten die bis dahin beliebten Formelbücher ab. Die Ars dictaminis war demnach eine Zwischenstufe der geschriebenen Briefsteller als Anweisung zum mustergültigen Briefstil.

Ars notariae

Die Lehre von der richtigen Erstellung von Urkunden verselbständigte sich mit Rainerius Perusinus im 13. Jahrhundert zur ars notariae, deren einflußreichster Vertreter Rolandinus Passagerius ist.

Der Aufbau einer typischen mittelalterlichen Urkunde gliederte sich demnach verpflichtend in drei Hauptabschnitte, das Protokoll, den Textteil und das Eschatokoll (abschließendes Protokoll).

Das Protokoll einer typischen Herrscherurkunde bestand aus Invocatio (Anrufung „Im Namen...“), Intitulatio (Name und Titel des Briefausstellers mit Devotio: „..., von Gottes Gnaden...“), Inscriptio (Benennung des Adressaten inklusive begrüßender Salutatio) und Arenga (überleitende Phrase). Der anschließende eigentliche Textteil setzte sich zusammen aus der Promulgatio (Absichtserklärung), der Narratio (Schilderung, wie es dazu kam), der Dispositio (der rechtlichen Abwägung), der Sanctio (Belehrung über Folgen einer Übertretung der Auflage) und schließlich der Benennung der Mittel zur Beglaubigung in der Corroboratio. Auf den zentralen Textteil folgten im Eschatokoll die Unterzeichnung der Urkunde durch Absender und ggf. Zeugen in den Subscriptiones sowie das aktuelle Datum.

Literatur

  • Franz J. Worstbrock, Monika Klaes u. Jutta Bütten: Repertorium der Artes Dictandi des Mittelalters, Bd. 1: Von den Anfängen bis um 1200, München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 66). Digitalisiat der BSB
  • F. J. Worstbrock: Die Anfänge der mittelalterlichen Ars dictandi. In: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, ISSN 0071-9706, S. 1–42.
  • H. M. Schaller: Ars dictaminis, Ars dictandi. In: Lexikon des Mittelalters, Band 1, S. 1034–1039.
  • Peter-Johannes Schuler: Formelbuch und Ars dictandi. Kaum genutzte Quellen zur politischen und sozialen Geschichte. In: Helmut Jäger u. a. (Hrsg.): Civitatum communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag. Böhlau, Köln u. a. 1984, ISBN 3-412-05884-X, (Städteforschung Reihe A: Darstellungen 21), S. 374–389.
  • Kurt Smolak: Einleitung. In: Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Lateinisch und deutsch. Herausgegeben von Werner Welzig. Band 8: De conscribendis epistolis. = Anleitung zum Briefschreiben. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980, ISBN 3-534-05949-2, S. IX–LXXXVI.
  • Helmut Weinacht: Lieben Freunde! Ewr lateynischer Brief ist uns kleglich zu hören! Wie sich der deutsche Brief von der lateinischen Urkunde löste. In: Die Korrespondenz 5, 1973, S. 6–8.

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Ars dictandi — Ars dictaminis L’ars dictaminis ou ars dictandi est, au Moyen Âge, au sein de la rhétorique, la théorie de la composition des textes en prose (à la différence de l’ars versificatoria), selon des modèles éprouvés. Le terme ars dictaminis insiste… …   Wikipédia en Français

  • ars dictandi — ars dic·tàn·di loc.s.f.inv., lat. TS ret. nel Medioevo, complesso delle regole e degli esempi per scrivere lettere o documenti in un latino corretto ed elegante {{line}} {{/line}} ETIMO: lat. mediev. ars dictandi propr. tecnica del comporre …   Dizionario italiano

  • Ars Dictandi — Ars Dic|tan|di [ dik...] die; <aus lat. ars dictandi »Kunst des Aufzeichnens«> die Kunst, regelrichtig u. nach den Theorien der gültigen rhetorischen Lehrbücher zu schreiben (Rhetorik der Antike u. des Mittelalters) …   Das große Fremdwörterbuch

  • ars dictandi —    (loc.s.f.) L ars dictandi (conosciuta anche come Summae o Ra tiones dictaminum), rappresentava nel basso periodo medievale una sor­ta di guida alla retorica ad uso scolastico, contenente teorie e modelli di stile oratorio, anche inerenti all… …   Dizionario di retorica par stefano arduini & matteo damiani

  • ars dictandi — {{hw}}{{ars dictandi}}{{/hw}}locuz. sost. f. inv. Nel Medioevo, complesso di regole ed esempi per scrivere lettere in latino …   Enciclopedia di italiano

  • ARS — ist der Name folgender Städte in Frankreich: Ars (Charente) im Département Charente Ars (Creuse) im Département Creuse Ars en Ré im Département Charente Maritime Ars Laquenexy im Département Moselle Ars les Favets im Département Puy de Dôme Ars… …   Deutsch Wikipedia

  • Ars dictaminis — Die Ars dictandi (lat. „Kunst des Schreibens“, auch: Ars dictaminis) bezeichnete im Mittelalter die Fähigkeit eines Schreibers, Briefe und Urkunden abzufassen. Ab dem 12. Jahrhundert entwickelte sich die Kunst des Schreibens als Epistolographie,… …   Deutsch Wikipedia

  • Ars dictaminis — The ars dictaminis was the medieval description of the art of prose composition, and more specifically of the writing of letters (dictamen). It is closely linked to the ars dictandi, covering the composition of documents other than letters. The… …   Wikipedia

  • Ars dictaminis — L’ars dictaminis ou ars dictandi est, au Moyen Âge, au sein de la rhétorique, la théorie de la composition des textes en prose (à la différence de l’ars versificatoria), selon des modèles éprouvés. Le terme ars dictaminis insiste sur la… …   Wikipédia en Français

  • AR-S — Ars ist der Name folgender Städte in Frankreich: Ars (Charente) im Département Charente Ars (Creuse) im Département Creuse Ars en Ré im Département Charente Maritime Ars Laquenexy im Département Moselle Ars les Favets im Département Puy de Dôme… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”