Urkunden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Urkunden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Die Urkunden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind bis zur Entstehung von umfassenden schriftlichen Dokumentationen der Verwaltung (Akten) in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts für die Geschichtswissenschaft zentrale Quellen. Die Spezialwissenschaft, angesiedelt unter den historischen Hilfswissenschaften, die sich mit diesen Quellen beschäftigt, ist die Diplomatik. Die Urkunden liefern Informationen über politische Aktivitäten, über das Recht, über die Verfassung oder das Wirtschaftsleben. Im Laufe der Jahrhunderte sind viele verloren gegangen, so dass die wenigen im Original überlieferten Urkunden besonders gründlich untersucht und interpretiert werden.

In der Geschichtswissenschaft versteht man unter einer Urkunde aus diesem Zeitraum, also ungefähr aus der Zeit vom 3./4. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert eine nach Zeit und Person wechselnden Formen schriftliche Aufzeichnung, die Zeugnis über Vorgänge rechtlicher Natur bietet (Definition in Anlehnung an Harry Breßlau, Handbuch der Urkundenlehre).

Urkunde mit Siegel von 1638

Inhaltsverzeichnis

Beurkundungsvorgang

Im Zusammenhang mit jeder Urkunde stehen folgende Personen(kreise):

  • der Aussteller, der nicht mit dem Urheber des Textes identisch sein muss
  • der Urheber/Verfasser (Diktator) und der Schreiber (Notar)
  • der Empfänger, der nicht mit dem Adressaten und dem von der Urkunde Begünstigten identisch sein muss

Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Urkunden nur auf Betreiben der Empfänger ausgestellt worden ist. Dieser Petent wandte sich – häufig mit Unterstützung einer dem Aussteller nahe stehenden Person (Intervenient) – an den Urkundenaussteller (Herrscher, Stadt, Gericht, Adeliger), der über den Rechtssachverhalt beriet und bestimmte zuständige Personen in seinem Umkreis mit der Ausfertigung der Urkunde beauftragte. Diese Beurkundungsstelle nennt man Kanzlei; die Ähnlichkeit der Merkmale aller in einem bestimmten Zeitraum aus derselben Kanzlei hervorgegangenen Urkunden nennt man Kanzleimäßigkeit. Der Text einer Urkunde heißt Diktat (von lat. dictare = konzipieren), der Verfasser wird daher Diktator genannt. Der Diktator muss nicht mit dem Schreiber identisch sein.

Überlieferungsformen

Die Ausfertigung einer Urkunde, die auf Anordnung oder mit Genehmigung des Ausstellers dem Empfänger ausgehändigt wurde, nennt man das Original (= Autograph, in der älteren Rechtslehre auch: Authenticum). Den Entwurf des Textes einer Urkunde bezeichnet man als Konzept. Andere handschriftliche Texte von Urkunden, die im Sinne dieser Definition nicht als Originale oder Konzepte angesehen werden können, werden als Abschriften bezeichnet und in ihrem Wert abgestuft. (Ob beglaubigte Abschriften als Original gelten können, ist umstritten. Gewöhnlich bezeichnet man sie als sekundäre Stücke.)

Eine Urkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit kann als Original, als Konzept (dann eventuell mit für die Forschung wichtigen Korrekturen, Streichungen etc. versehen), als Kopie bzw. Abschrift oder als Registereintragung (zum Beispiel in Kopialbüchern, Cartularien, Traditionsbüchern) oder im größten Glücksfall in allen diesen Formen überliefert sein.

Urkundenarten

Man kann grob folgende Urkunden aus der Zeit des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (wobei die Grenzen fließend sind) unterscheiden:

1. öffentliche Urkunden, die von einer souveränen Autorität ausgestellt wurden

  • Papsturkunden
  • Kaiser- bzw. Königsurkunden
  • weitere Herrscherurkunden (z. B. von Territorialfürsten)

2. Privaturkunden, d. h. Urkunden von nicht-souveränen Gewalten zum Beispiel

  • Klosterurkunden
  • Urkunden von Adligen ohne eigene Herrschaftsrechte
  • Urkunden von Städten

Nach dem rechtlichen Gehalt der Urkunden können folgende Varianten unterschieden werden:

Die Urkunden können alle möglichen Gegenstände mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtsleben enthalten: Lehnsurkunden, Schenkungsurkunden, Stiftungsurkunden, Kaufverträge, Immunitätsverleihungen, Stadtrechtsverleihungen etc.

Glaubwürdigkeit / Beglaubigungsmittel

In Mitteleuropa erhielten die Urkunden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit seit dem 12. Jahrhundert durch das Siegel Glaubwürdigkeit. In Südeuropa war dagegen die Unterschrift eines öffentlichen Notars das vorrangige Beglaubigungsmittel. Die eigenhändige Unterschrift ist in Urkunden der Päpste, in Urkunden der merowingischen Könige und in Herrscherurkunden seit dem 15. Jahrhundert ein übliches Beglaubigungsmittel.

Aus dem Mittelalter ist eine erstaunliche hohe Zahl an Urkundenfälschungen überliefert, die aber häufig zu großen Teilen auf gültigen Urkunden beruhen. Die Diplomatik widmet sich besonders der Identifizierung von Urkundenfälschung und den in ihnen enthaltenen echten und unechten Textbestandteile (sog. discrimen veri ac falsi). Urkundenkritik ist aber auch schon im Mittelalter betrieben worden.

Urkundenformeln

Zur Sicherung der Glaubwürdigkeit waren Urkunden – vor allem im Mittelalter – auch an feste Formen (Urkundenformeln) gebunden (v. althochdeutsch urchundi → Erkenntnis).

Eine Kaiserurkunde hatte in etwa folgenden Aufbau:

I. (Eingangs-)Protokoll:

  1. Invocatio (Anrufung Gottes als Zeichen (Chrismon) und/oder als Text, zum Beispiel „In nomine sanctae et individuae trinitatis…“)
  2. Intitulatio (meist mit Devotionsformel; Nennung des Ausstellers, zum Beispiel Cvnradus dei gracia romanorum rex secvundus)
  3. Inscriptio, oft mit Salutatio (Nennung des Empfängers, oft mit Grußformel; Kommt nur in Briefen und Papsturkunden vor)

II. Text oder auch Kontext (= Kern der Urkunde; bringt also den eigentlichen Inhalt)

  1. Arenga (rhetorisch gehaltene Begründung des folgenden Haupttextes)
  2. Promulgatio (Willenserklärung an den Empfänger; etwa: „notum sit…“)
  3. Narratio (Erzählung des Tatbestandes, der Rechtsgrundlage für die beurkundeten Vorgänge)
  4. Dispositio (eigentlicher Rechtsakt)
  5. Sanctio oder Poenformel (Strafandrohung bei Übertretung der dispositio, häufig hohe Geldstrafe)
  6. Corroboratio (Siegelbefehl, Zeugenreihe)

III. Schlussprotokoll oder Eschatokoll

  1. Subscriptio (Unterschriften, Monogramm, Scriptumformel, Bene valete, so genannte Rota mit Devise des betreffenden Papstes, Bulle an Hanf- oder Seidenschnur). Dazu gehört auch die Rekognitionszeile (Rekognitionszeichen des Notars/Kanzlers in Vertretung des Erzkanzlers (bei Urkunden für deutsche Empfänger der Reichserzkanzler, der Erzbischof von Mainz; in Italien der Erzkanzler für Italien, der Erzbischof von Köln; für den burgundischen Reichsteil der Erzbischof von Trier)
  2. Datierung nach Jahreszahl, Indiktion, Herrscherjahren und anderen spezifischen Kanzleibräuchen, mit Ortsangabe und Tagesdatum
  3. Apprecatio (Segenswunsch)

Weblinks

Literatur

  • Harry Bresslau: Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, 3 Bde., 2. Aufl. (ND Berlin 1968–1969), Leipzig u.a. 1911–1960.
  • Thomas Vogtherr: Urkundenlehre, Hannover 2008 (Hahnsche Historische Hilfswissenschaften 3)
  • Hans-Werner Goetz: Proseminar Geschichte: Mittelalter, 3. Aufl., UTB 1719, Stuttgart 2006.

Editionen

Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser werden im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica (MGH) seit dem 19. Jahrhundert in der Diplomata-Reihe (abgekürzt als MGH-DD) herausgegeben.


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