Psychotechnik

Psychotechnik

Psychotechnik ist ein historischer Begriff für die Anwendung psychologischer Konzepte zur Optimierung von "Mittel und Zweck" in allen Lebensbereichen und bildete einen Teilbereich der angewandten Psychologie. Die Psychotechnik befasste sich als erste psychologische Disziplin mit den betrieblichen Fragen der Berufseignung, Arbeitsplatzzuteilung (Eignung und Auslese) und Arbeitsleistung (Monotonie und Ermüdung, Leistung und Arbeitsgestaltung) oder Werbung. Sie kann als klassischer Vorläufer der heutigen Arbeitspsychologie angesehen werden und fand ihren Niederschlag auch in der Wirtschafts- und Organisationspsychologie.

Die Psychotechnik verbreitete sich rasch in Europa, den USA und auch in der Sowjetunion. Ihre erste Anwendung fand sie in den Kriegsmaschinerien während des ersten Weltkrieges und hatte ihre Blütezeit zwischen den beiden Weltkriegen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Deutschlandlastige Artikel Dieser Artikel oder Absatz stellt die Situation in Deutschland dar. Hilf mit, die Situation in anderen Ländern zu schildern.

Begriff

William Stern führt den Begriff 1903 zum ersten Mal ein, um damit die Anwendung der Psychologie, oder genauer der "psychologischen Einwirkung" in allen Lebensbereichen von der Psychognostik zu unterscheiden. Stern selbst bezieht die Psychotechnik jedoch vorrangig auf pädagogische und therapeutische Einwirkungen.

Hugo Münsterberg griff 1914 den Begriff Psychotechnik auf und fasste ihn zunächst als Oberbegriff für die gesamte angewandte Psychologie: "Jede Sphäre menschlicher Kultur bietet (...) Probleme der Psychotechnik dar." . Dadurch, dass Münsterberg jedoch als erster die angewandte Psychologie programmatisch und planmäßig in den Dienst der Wirtschaft stellte, schränkte sich der zunächst allgemein gehaltene Begriff der Psychotechnik immer mehr auf das wirtschaftliche Gebiet ein.

Auch Walter Moede faßte den Begriff der Psychotechnik im Sinne von 'Psychologie und Wirtschaft' auf. Er schlug schließlich den Begriff "Industrielle Psychotechnik" vor, um damit die Anwendung der Psychologie speziell in Produktionsbetrieben zu bezeichnen. Dabei unterschied er die "Industrielle Objektpsychotechnik" (Anpassung der industriellen Arbeitsbedingungen an den Menschen im Sinne ergonomischer Gestaltung) und "Industrielle Subjektpsychotechnik" (Anpassung des Menschen an die industriellen Arbeitsbedingungen durch Anwendung von Erkenntnissen der Differentiellen Psychologie zur Eignungsdiagnostik, Führung und Weiterbildung).

Selbstverständnis

Nicht nur der Begriff, auch das Selbstverständnis der Psychotechnik wurde entscheidend von Münsterberg geprägt. Und so war nicht nur der Blick auf den Menschen und den Arbeitsprozess, auch der Blick auf den Stellenwert der eigenen Disziplin von sehr technischen Überlegungen dominiert: Die Psychotechnik sollte nur Mittel zum Zweck und "vollkommen von der Vorstellung der wirtschaftlichen Ziele beherrscht" sein (Münsterberg, 1912, zitiert nach Frieling & Sonntag, 1999, S.27). Fragen nach Recht, Unrecht oder Moral sollten sich dem Psychotechniker nicht stellen, er sollte seine Aufgaben wertfrei erfüllen.

Wichtige Studien

Die Psychotechnik versuchte anhand wissenschaftlicher psychologischer Forschung eine Optimierung wirtschaftlicher/ betrieblicher Prozesse zu erreichen. Wichtige Ergebnisse psychotechnischer Studien sind im folgenden kurz aufgeführt:

  • Beschreibung der Strukturierungs- und Umstrukturierungsvorgänge durch Übung (Blumenfeld, 1928)
  • Mensch-Maschine-Interaktion als dynamische Einheit, Vorschlag für die Entwicklung eines Anlernverfahrens (Lewin & Rupp, 1928)
  • Einführung von Pausen führt zu einer deutlichen Steigerung der Leistung bei gleichzeitig abnehmender Ermüdung (Efimoff & Zibakowa, 1926)
  • Mischarbeit bewirkt gegenüber der lediglich durch Pausen unterbrochenen Locharbeit eine Leistungssteigerung (Krause, 1933)
  • Kraftaufwand bei Bandarbeit geringer als bei freier Arbeit (Düker, 1929)
  • Wirkung der zeitlichen Regelung von Arbeitsvorgängen (Graf, 1930)

Blütezeit und Krise

Den ersten Aufschwung erlebte die Psychotechnik während des ersten Weltkrieges, da "die schnelle Ersetzung und sparsamste Anwendung menschlicher Arbeitskraft" benötigt wurde (Ulich, 2005). Nach Ende des ersten Weltkrieges sollte die Psychotechnik dabei helfen, der Wirtschaft wieder Schwung zu verleihen. In der ersten Dekade nach dem Krieg wurden sowohl an Hochschulen wie auch anderen Institutionen des öffentlichen Lebens (Reichswehr, Reichspost, Städte und Kommunen usw.) psychotechnische Labors und Versuchsstellen eingerichtet. Im Gegensatz zu Deutschland oder den USA war in Großbritannien der Staat stark an der Institutionalisierung der Psychotechnik beteiligt und diese verlief sehr zentralisiert.

Eignungsdiagnostik, Personalauslese und -schulung verdrängten die anderen Anwendungsbereiche der Psychotechnik und führten zu einer Einengung des psychotechnischen Blickwinkels auf die Anpassung des Arbeiters an die (sehr schlechten) Arbeitsbedingungen (Subjektpsychotechnik).

Kurz danach begann bereits die Krise der Psychotechnik. Zum einen mangelte es an einer gemeinsamen theoretischen und methodischen Basis, auf die sich die praktischen Lösungsansätze stützen könnten. Zum anderen führte die Einengung auf die Subjektpsychotechnik zu Unmut bei den Gewerkschaften, da sich die Arbeitenden einer willkürlichen und beliebigen Auswahl und Ausbeutung ausgesetzt sahen.

Am schwersten wog jedoch die ideologische Krise der Psychotechnik: Die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland verbliebenen Psychologen passten ihre Theorien an das faschistische Gedankengut an und nutzen die Psychotechnik um das NS-Regime zu stützen. Dadurch wurde die Psychotechnik vom neuen Regime zwar besonders gefördert, doch war sie wissenschaftlich schon 1933 an ihre Grenzen gestoßen und sollte nach dem Ende des zweiten Weltkrieges – zumindest in ihrer bisherigen Form – an Bedeutung verlieren.

Weitere Entwicklung und Gegenwart

Die Psychotechnik führte schließlich zu einer Überbetonung der wirtschaftlichen und technischen Aspekte des Arbeitsprozesses, an welche der Arbeitende angepasst werden sollte (Subjektpsychotechnik). Dies und der Mangel an gesellschaftspolitischer Verantwortlichkeit und Selbstreflexion, die zumindest in Deutschland zu einer Verschmelzung mit der NS-Ideologie führten, brachte den Begriff der Psychotechnik schließlich in Verruf. Giese setzte schon 1927 dem Begriff der Psychotechnik den der Wirtschaftspsychologie entgegen und betonte, dass die Anpassung des Arbeitsumfeldes an den Arbeitenden (Objektpsychotechnik) den Schwerpunkt psychologischer Arbeit im Wirtschaftsleben ausmachen muss.

Heutzutage ist die Psychotechnik selbst nur noch von wissenschaftshistorischer Bedeutung. Sie legte jedoch den Grundstein für die auch heute wichtigen Forschungsfelder der Arbeitswissenschaft bzw. der Arbeitspsychologie, in denen sich noch immer viele Erkenntnisse und Theorien der Psychotechnik wiederfinden. So vertritt Georges Friedmann 1952 den Standpunkt, ohne die Psychotechnik wären die beängstigenden Probleme der Entmenschlichung nicht ins Zentrum der wissenschaftlichen Forschung gerückt.

Literatur

  • Stern, W.L. (1903/1904). Angewandte Psychologie. In: W.L. Stern (Hrsg.), Beiträge zur Psychologie der Aussage Leipzig: Ambrosius Barth.
  • Münsterberg, H. (1912). Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur Angewandten Experimentalpsychologie. Leipzig: Barth.
  • Münsterberg, H. (1914). Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig: Barth.
  • Moede, W. (1930). Lehrbuch der Psychotechnik. Berlin: Springer.
  • Giese, F. (1927). Methoden der Wirtschaftspsychologie. In: E. Abderhalden (Hrsg.), Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden Berlin: Urban & Schwarzenberg.
  • Frieling, E & Sonntag, K (1999).Lehrbuch der Arbeitspsychologie. Göttingen: Huber. ISBN 3456829329.
  • Ulich, E. (2005). Arbeitspsychologie. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. ISBN 3791024426

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Psychotechnik — Psy|cho|tẹch|nik 〈f. 20; unz.〉 Anwendung der Psychologie u. ihrer Methoden auf den Arbeitsprozess * * * Psychotẹchnik,   1902 von W. Stern geprägte, heute ungebräuchliche Bezeichnung für die Anwendung psychologischer Erkenntnisse und… …   Universal-Lexikon

  • Psychotechnik — Psy|cho|tẹch|nik 〈f.; Gen.: ; Pl.: unz.〉 Anwendung der Psychologie u. ihrer Methoden auf die Bereiche des prakt. Lebens …   Lexikalische Deutsches Wörterbuch

  • Fritz Giese — Wilhelm Oskar Fritz Giese (* 21. Mai 1890 in Charlottenburg; † 12. Juli 1935 in Stuttgart (nach anderen Angaben Berlin) war ein deutscher Psychologe, der sich insbesondere mit der Psychotechnik befasste. Daneben hat er als einer der ersten die… …   Deutsch Wikipedia

  • Moede — Walther Moede (* 3. September 1888 in Sorau, Niederlausitz; † 30. Mai 1958 in Berlin) war ein deutscher Arbeitspsychologe und Hochschullehrer. Er war einer der Begründer der Wirtschaftspsychologie und Psychotechnik. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2… …   Deutsch Wikipedia

  • Walter Moede — Walther Moede (* 3. September 1888 in Sorau, Niederlausitz; † 30. Mai 1958 in Berlin) war ein deutscher Arbeitspsychologe und Hochschullehrer. Er war einer der Begründer der Wirtschaftspsychologie und Psychotechnik. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2… …   Deutsch Wikipedia

  • Walther Moede — (* 3. September 1888 in Sorau, Niederlausitz; † 30. Mai 1958 in Berlin) war ein deutscher Arbeitspsychologe und Hochschullehrer. Er war einer der Begründer der Wirtschaftspsychologie und Psychotechnik. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Schriften …   Deutsch Wikipedia

  • Franziska Baumgarten — (* 27. September 1889 in Łódź; † 1. März 1970 in Bern) war eine Schweizer Arbeitspsychologin und Universitätslehrerin. Leben und Wirken Baumgarten studierte sowohl in der Schweiz als auch an ausländischen Universitäten Psychologie. Nach der… …   Deutsch Wikipedia

  • Franziska Baumgarten-Tramer — (* 27. September 1889 in Łódź; † 1. März 1970 in Bern) war eine Schweizer Arbeitspsychologin und Universitätslehrerin. Leben und Wirken Baumgarten studierte sowohl in der Schweiz als auch an ausländischen Universitäten Psychologie. Nach der… …   Deutsch Wikipedia

  • Arbeitsklima — Betriebsklima ist die subjektiv erlebte und wahrgenommene längerfristige Qualität des Zusammenwirkens, der Zusammenarbeit der Beschäftigten eines Wirtschafts oder Verwaltungsbetriebes. Das Betriebsklima hat für die Motivation der Beschäftigten… …   Deutsch Wikipedia

  • Hugo Münsterberg — (* 1. Juni 1863 in Danzig; † 16. Dezember 1916 in Cambridge, Massachusetts) war ein deutsch amerikanischer Psychologe und Philosoph. Zusammen mit William Stern, Walter Dill Scott und Jean Maurice Lahy war e …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”