Austerlitz (Sebald)

Austerlitz (Sebald)

Austerlitz ist ein zwischen Roman, Biografie und Ästhetik changierendes Werk von W. G. Sebald, das 2001 als Letztes vor dem Tod des Autors erschienen ist. Inhaltlich zentral ist der Lebensweg des jüdischen Wissenschaftlers Jacques Austerlitz, der erst nach seiner akademischen Laufbahn seine Herkunft entdeckt und mit der Erforschung seines Schicksals beginnt.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Frank Meislers Denkmal über den Kindertransport vor der Liverpool Street station

Der in England lebende Ich-Erzähler begegnet 1967 bei einem Aufenthalt im Wartesaal der Antwerpener Centraalstation (Belgien) dem dort in der Öffentlichkeit mit Skizzen und einem Fotoapparat arbeitenden Kunsthistoriker Jacques Austerlitz. Der baugeschichtlich interessierte Ich-Erzähler spricht Austerlitz an, und die beiden kommen in ein erstes von vielen Gesprächen, die sich – mit einer 1975 beginnenden Pause von nahezu 20 Jahren – über einen Zeitraum von 30 Jahren hinziehen, in denen sie sich sowohl zufällig als auch nach Verabredung in Antwerpen, Lüttich, Zeebrugge, London und Paris treffen.

Inhalt der Gespräche sind zunächst und immer wieder die von Austerlitz fachkundig en passant analysierten Beispiele für den „Baustil der kapitalistischen Ära“ – von der Antwerpener Centraalstation über den Brüsseler Justizpalast bis hin zu der von François Mitterrand initiierten neuen französischen Nationalbibliothek, deren „Familienähnlichkeiten“ Austerlitz untersucht. Obgleich er zunächst nichts über seine Person und sein Leben preisgibt, entwickelt sich zwischen ihm und dem Ich-Erzähler ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Aber erst sehr spät offenbart ihm Austerlitz seine inzwischen entdeckte Herkunft und Schicksalsspur, die er akribisch aus den sichtbaren Zeugnissen herauszulesen sucht.

Einen Schwerpunkt der Analysen bilden Bahnhöfe, die Austerlitz zwar schon früh als „Glücks- und Unglücksorte zugleich empfand“, deren Bedeutung für seinen Lebensweg aber ihm erst in einem Erinnerungsblitz Anfang der 1990er Jahre in der Londoner Liverpool Street Station aufgeht: In diesem Bahnhof war er im Sommer 1939 im Alter von viereinhalb Jahren in England angekommen und seinen Pflegeeltern übergeben worden. Seine bisher von ihm Zeit seines Lebens aufwendig verdrängte Herkunft lässt Austerlitz nun nicht mehr los: Nach einem ersten psychischen Zusammenbruch und parallel zu einem Klinikaufenthalt beginnt er, seine Biografie im Rahmen der europäischen Geschichte zu rekonstruieren und die um ein halbes Jahrhundert gealterte Freundin seiner Mutter in Prag und die Schicksalsorte seiner Kindheit aufzusuchen.

Er findet heraus, dass es seiner jüdischen Mutter 1939 gelungen war, ihn mit einem Kindertransport aus Prag nach England in Sicherheit zu bringen, wo er bei einem von ihm stets als fremd empfundenen Predigerpaar in Wales und in einem Internat aufwächst. Seine Mutter wird im Dezember 1942 nach Theresienstadt, das Austerlitz später besucht, und von dort 1944 zur Ermordung in den Osten gebracht. Sein jüdischer Vater, der sich zunächst nach Frankreich retten konnte, wird schließlich dort in einem Lager an den Pyrenäen interniert, wo sich bisher alle weiteren Hinweise verlieren.

Austerlitz beschließt dennoch, auch die Spur seines Vaters zu verfolgen. Er übergibt seinem Schüler und Ich-Erzähler die Schlüssel zu seinem Haus in London und damit den Zugang zu seiner großen Sammlung von Fotografien, mit denen er stets seine kunst- und kulturkritischen Beobachtungen und die späte Rekonstruktion seines Lebens dokumentiert hat. Dieses Vermächtnis nutzt der Ich-Erzähler, um nach dem endgültigen Verschwinden von Austerlitz den Bericht ihrer dreißigjährigen Freundschaft mit einer Auswahl von etwa 80 Fotos und Zeichnungen zu belegen.

Erzählweise

Die Erzählung erhebt sich aus den an Appositionen und Nebensätzen reichen Satzgefügen, die sich als Assoziationsketten der Figuren über ihre Themen ziehen. Diese komplexe Struktur bildet die abgewogene Spontaneität der Gespräche nach, deren Bericht dieser Roman ist. Ein erstes auffälliges Merkmal ist, dass der Ich-Erzähler meist nur die Erörterungen des Austerlitz-Erzählers wiedergibt, der wiederum an vielen Stellen seine Gesprächspartner zitiert. Etwa zwanzig Mal wiederholt der Autor die Formel „ … sagte mir (…), sagte Austerlitz“, – und der Leser darf ergänzen: „berichtet der Ich-Erzähler“. Die Realitätswahrnehmung der Figuren wird bis in die dritte Dimension des Berichtens durchdekliniert: Der „Ich-Ich-Ich-Erzähler“ verschiebt die Quellen der Information über die wirkliche Konstruktion der Welt in eine Dimension extremen Hörensagens.

Das, was über die offiziellen und offiziösen Deutungen der Architektur- und Gesellschaftsgeschichte hinausgeht, wird von den Figuren nur im Erzählen weitergegeben und nur im Zuhören lebendig. Denn in der von den Figuren erlebten Wirklichkeit ist die historische Bewegung kaum mehr zu entziffern: „Die Geschichten, die an den ungezählten Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben, (werden) von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt.“ Wegen der Austerlitz und den Erzähler bestimmenden grundsätzlichen Skepsis der Geschichte und ihren Verlautbarungen gegenüber kann sich Wahrheit nur als „stille Post“ behaupten.

Dem Eindruck des Verlustes an realer Substanz arbeiten die etwa 80 Fotos und Zeichnungen entgegen, die der Erzählung ihre Erdung und Realitätsinfusion geben. In dieser Schere von Bericht-Berichten und fotografischen Belegen öffnet sich der Raum für die „Denkversuche“ des Jacques Austerlitz, die seinen Schüler so faszinieren.

Eine zweite kompositorische Strategie knüpft die in den Einzelthemen und durch die Dauer von etwa 30 Jahren erzählter Zeit so weit auseinanderliegenden Abschnitte zusammen: Ohne auch nur einen Ansatz zu einem small-talk setzen die beiden Hauptfiguren, setzt Austerlitz nach jeder Unterbrechung seinen Monolog fort – selbst nach ihrer 20-jährigen Kommunikationspause: „So hat Austerlitz auch an diesem Abend in der Bar des Great Eastern Hotel, ohne auch nur ein Wort zu verlieren über unser nach solch langer Zeit rein zufällig erfolgtes Zusammentreffen, das Gespräch mehr oder weniger dort wieder aufgenommen, wo es einst abgebrochen war.“ Diese Eindampfung auf den thematischen Kern des Romans, der Verzicht auf alle Umwege und Beifügungen zum roten Faden bewirkt eine außergewöhnliche Intensität des Textes.

Eine dritte Strategie entfaltet sich auf der textlichen Ebene, indem einzelne Motive (z. B. das Verlieren, Vergehen und Auslöschen oder das Festhalten und Erinnern) sich durch das Werk ziehen und ihm seine Kohärenz geben.

Deutung

Das Werk ist ein Roman: Es vereinigt Gefundenes und Erfundenes. Es ist eine Biografie: Es rekonstruiert die lange, verstörende Selbstaufklärung des Jacques Austerlitz und dokumentiert sie mit einer Vielzahl von Daten und Bildquellen. Und es ist ein Beitrag zu einer Theorie sinnlicher Wahrnehmung, eine Ästhetik. Indem das Werk das eine im anderen vorführt, überschreitet es gewohnte Grenzen und wird Gegenstand von Fachdebatten.

Eines ihrer Themen ist die „Metaphysik der Geschichte“, wie der Ich-Erzähler an einer Stelle Austerlitz’ Methode bezeichnet. Gemeint ist ein intellektuelles Verfahren, das die architektonischen Gebilde in den sozialen Kontext ihrer Entstehung stellt (z. B. klingen Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters an), dann das durch ihre Größe und Anlage vorbestimmte Verhalten ihrer Betrachter und Nutzer analysiert und die damit verbundenen Assoziationen, Gefühle und Träume protokolliert. Diese die Sozialgeschichte der Gegenstände und die von ihnen ausgelösten individuellen Gefühlsreaktionen integrierende Ästhetik wird an mehr als einem Dutzend Objektkomplexen bzw. ihren Fotos oder Zeichnungen vorgeführt.

Die Figur des seiner Familie und seiner Zeit entrissenen Juden Austerlitz ergänzt diesen Prozess der Erkenntnis um die Dimension des Holocausts, die die Objekte im Kontext der Verfolgung und Ermordung reinterpretiert. So gewinnen die Bahnhöfe, aber auch die neue französische Nationalbibliothek in Paris einen zusätzlichen Bedeutungsraum. Diese Themenverschiebung weg von der ausschließlich kunsthistorischen Betrachtung akzentuiert ein Weltverständnis als Leidensgeschichte, die die Schmerzensspuren aufspürt, die sich „in unzähligen feinen Linien durch die Geschichte ziehen“.

Sebald stellt sich hiermit in den Kontext eines von Brecht, Walter Benjamin und anderen geführten kulturpolitischen Diskurses, der die engen Verständnisgrenzen der „Res Gestae“ nicht nur in der historischen sondern auch in der sinnlichen Erkenntnis transzendiert: „Unsere Beschäftigung mit der Geschichte (…) sei eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starrten, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt.“ Sebald tritt hier auch in eine Wahlverwandtschaft zu Peter Weiss, dessen Werk Die Ästhetik des Widerstands das gemeinsame Bemühen im Titel führt.

Literatur

  • Lothar Bluhm: Herkunft, Identität, Realität. Erinnerungsarbeit in der zeitgenössischen deutschen Literatur. In: Ulrich Breuer, Beatrice Sandberg (Hrsg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München 2006, S. 69–80.
  • Anne Fleischhauer: Heimsuchungen - Figurationen des Traumatischen in W. G. Sebalds Austerlitz. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium der Universität Hamburg. Hamburg 2009.
  • Christoph Parry: Die zwei Leben des Herrn Austerlitz. Biographisches Schreiben als nichtlineare Historiographie bei W.G. Sebald. In: Edgar Platen, Martin Todtenhaupt (Hrsg.): Grenzen – Grenzüberschreitungen – Grenzauflösungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte […]. München 2004, S. 113–130.
  • Wolf Wucherpfennig: W.G. Sebalds Roman Austerlitz. Persönliche und gesellschaftliche Erinnerungsarbeit. In: Wolfram Mauser, Joachim Pfeiffer (Hrsg.): Erinnern. Würzburg 2004, S. 151–163.

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