Sainte Marie-Madeleine (Vézelay)

Sainte Marie-Madeleine (Vézelay)
Die Basilika Sainte-Madeleine (2003)

Die Basilika Sainte-Marie-Madeleine ist eine romanische Kirche in Vézelay in Burgund. Hügel und Kirche von Vézelay zählen seit 1979 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Seit 1998 ist die Kirche auch als Teil des Weltkulturerbe „Jakobsweg in Frankreich“ ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Mittelschiff von Sainte-Madeleine (2003)
Wandaufbau nach einer Zeichnung von Viollet-Le-Duc, 1856.
Tympanon des Hauptportals mit Weltgerichtsszene

Die heutige Basilika Sainte-Marie-Madeleine ist nicht die erste Kirche an diesem Ort. Im Jahre 1120 wurde der ursprüngliche Bau durch Feuer zerstört. Sofort begann man mit der Errichtung des heutigen Hauptschiffs. Schon 1140 waren die Arbeiten beendet. Erst danach (1145-50) folgte die Vorhalle, der sog. Narthex.

Nach erneutem Brand wurden 1185–1215 der Chor und das Querschiff in bereits frühgotischem Stil errichtet. Noch später (1260) folgten der Südwestturm (St. Michel) mit einer 15 m hohen hölzernen Spitze und die hochgotische Westfassade. Der Nordturm wurde nicht weiter aufgebaut. 1819 brannte die Turmspitze ab.

Architektur

Das Langhaus selber wurde von 1120-1140 errichtet. Von den übrigen Gebäuden der einstigen Klosteranlage hat sich fast nichts erhalten, nachdem nach der Revolution ab 1796 bis auf die Kirche alles eingeebnet wurde. Wieder einmal ist es – neben Prosper Merimée – Viollet-le-Duc zu verdanken, dass wenigstens diese Abteikirche vom drohenden Verfall gerettet wurde. Nur bei der Fassade hätte er stärker auf die Rekonstruktion des Originals drängen müssen. Es war seine erste Rettungsaktion mittelalterlicher Denkmäler in Frankreich. Er war damals gerade erst 26 Jahre alt.

Heute ist Sainte-Marie-Madeleine von Vézelay einer der bedeutendsten Sakralbauten der Romanik des 12. Jahrhunderts.

Vézelay gehört neben Santiago de Compostela und Rom zu den bedeutendsten und berühmtesten Wallfahrtsheiligtümern des Abendlandes. Seit dem 11. Jahrhundert wird hier die Büßerin Maria Magdalena verehrt, deren Gebeine sich hier befinden sollen – eine Tendenzlüge, wie sich später herausstellte, aber eine sehr erfolgreiche. Der Pilgerstrom, der jetzt einsetzte, machte den Neubau der Kirche notwendig und ermöglichte ihn auch finanziell (vergl. Chartres). Mit der Behauptung, wichtige Reliquien zu besitzen, haben im Mittelalter viele Städte ihre glanzvolle Existenz begründet – im deutschen Rheinland beispielsweise vor allen Dingen Köln. Mit der Entzauberung dieses Mythos 1267 setzte dann auch der rasche Niedergang von Vézelay ein. Daran sieht man, wie lebenswichtig solche Lügen für die Wallfahrtsstädte waren.

„Kurz nach Fertigstellung des Langhauses erlebte Vézelay den Höhepunkt seiner Geschichte: Ostern 1146 ruft Bernhard von Clairvaux auf Geheiß Papst Eugens III. vor einer riesigen Menschenmenge, die die Kirche nicht fassen kann und sich daher auf dem Hang südlich der Kirche versammelt hat, im Beisein von König Ludwig VII., der Königin Eleonore von Aquitanien und der Großen des Reiches zum Zweiten Kreuzzug auf. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, 1190, treffen sich in Vézelay die Könige Philippe-Auguste und Richard Löwenherz mit ihren Armeen zum Dritten Kreuzzug nach Palästina [...] Vézelay wird nicht nur Sammelort der Pilger, sondern auch der Ritter aus ganz Europa. 1166 flüchtet hier Thomas Becket vor der Verfolgung des englischen Königs, der hl. Franziskus gründet hier 1217 seine erste Niederlassung in Frankreich.“

Klaus Bußmann: Burgund, Köln 1977, S. 171

Die Vorkirche

Vézelay hat nicht nur eine Vorhalle wie Pontigny, sondern eine Vorkirche, die im Anschluss an das Langhaus 1140-1152 errichtet wurde. Ihr verdanken die Tympana und die Kapitelle ihren hervorragenden Erhaltungszustand. Eine solche Vorkirche hatte u.a. die Funktion, zuzeiten großer Pilgerströme als nächtliches Refugium zu dienen. Liturgisch gesehen war dieser Raum eine Reinigungs- und Durchgangsstation vom Profanen zum Sakralen, ein Ort für die Zeremonien vor der eigentlichen Taufe und auch für Exorzismen.

„Welche Aufgabe erfüllte der Narthex? Mit Sicherheit eine liturgische Aufgabe, wenn auch andere Verwendungsmöglichkeiten nicht auszuschließen sind: zum Beispiel nächtliches Refugium zuzeiten großer Pilgerströme zu sein, oder eine Kirche der ‚Katechumenen‘, der Taufbewerber, oder eine ‚Kirche der Büßer‘, die zeitweilig von der Feier der Sakramente ausgeschlossen waren. Gewiss feierte man in diesem Vorraum Exorzismen, Wiederversöhnung der Büßer und Zeremonien, die der Taufe vorausgingen, aber diese Riten für sich allein genommen können nicht einen so ansehnlichen Vorbau für die Kirche rechtfertigen.
Die Dokumente des 12. Jahrhunderts nennen den Narthex, der an die eigentliche Mönchskirche angrenzt ‚Galiläa‘; um dieses Wort zu verstehen, muss man die Liturgie der damaligen Zeit kennen. Eine große Prozession ging den damaligen Gottesdiensten voraus, sie vollzog symbolisch den Weg der Apostel nach, die sich nach Galiläa begaben, wo sie den Auferstandenen sehen sollten. Die Station vor dem eigentlichen Gottesdienst umfasste auch einen Reinigungsritus; er wurde in der ‚Galiläa‘ gefeiert. ‚Ich werde euch nach Galiläa vorausgehen‘, dieses Wort Christi an Maria Magdalena wird so gedeutet, dass Galiläa ‚eine Stätte des Durchgangs ist; denn der Erlöser hat den Durchgang vom Leiden zur Auferstehung, vom Tod zum Leben vollzogen‘.“

Hugues Delautre und Jacqueline Gréal: La Madeleine de Vézelay. Führer und Pläne, Lyon 1985, S. 9

Die Atmosphäre des Innenraumes ist mit Worten kaum zu beschreiben. Der Gegensatz zwischen dem dunkleren Hauptschiff und dem ca. 60 Jahre jüngeren, hellen Chor fällt sofort ins Auge. Vézelay ist weltberühmt für die Kapitelle der Säulen, die in damals unerreichter Kunstfertigkeit biblische Geschichten veranschaulichen.

Die Kapitelle

Die Kapitelle von Vézelay stammen generell aus der Zeit zwischen 1125 und 1140. Von den 99 Kapitellen im Kirchenschiff sind nur wenige im 19. Jh. durch getreue Nachbildungen der Originale ersetzt worden.

Die historisch älteste Form eines Kapitells in der Kunstgeschichte des Mittelalters hatte noch Pflanzen als Motiv in der Tradition der antiken korinthischen Kapitelle. Die späteren Themen waren dann u.a. davon bestimmt, dass viele Kirchen auf Pilgerstraßen lagen oder an den Strecken der Kreuzzüge. In beiden Fällen war der Gedanke an den Tod, an Raub und Versklavung, an Krankheiten etc. allgegenwärtig gewesen und wurde in den Darstellungen der Kapitelle bearbeitet im Sinne einer Mahnung, sich davon nicht schrecken zu lassen. Die figürlichen Kapitelle entlehnen den größten Teil ihrer Themen Texten des Alten und Neuen Testamentes und der Vita der Heiligen. Man findet auch eine Anzahl moralisierender Themen, wie die Bestrafung der Laster, darüber hinaus allegorische Darstellungen und Szenen aus der griechisch-lateinischen Mythologie.

Die eigentliche „Geschichte“ entfaltet sich im Allgemeinen auf den drei Seiten des Kapitellrumpfes und liest sich meistens von links nach rechts.

Die Kapitelle geben in naiver Erzählfreude ihre Inhalte dem Betrachter preis. Die Szenen sind nicht immer zu verstehen, denn die Thematik und die symbolischen Anspielungen sind häufig nicht nur für den modernen Betrachter ohne Interpretationshilfe nicht zu entschlüsseln. Auch der mittelalterliche Gläubige war auf diese Hilfe angewiesen, soweit die Darstellungen nicht schon durch beigefügte Beschriftungen sich verständlich machten, die aber leider heute durchweg verschwunden sind.

Leitthemen der Kapitelle von Vézelay sind die Darstellungen des Guten und des Bösen in vielfältigen Beispielen.

Judaskapitell

So gibt es zwei Darstellungen des Judas. Die eine zeigt ihn beim Suizid mit dem Strick um den Hals; mit geöffnetem Mund und herausgewürgter Zunge. Daneben sieht man Jesus, wie er den toten Judas auf seinem Rücken trägt, gleichsam wie der gute Hirt, der das verlorene Schaf rettet.

Das berühmteste Kapitell in Vézelay ist Die mystische Mühle, die vom Cluny-Meister geschaffen wurde. Diese Szene ist eine wunderbare Darstellung des mittelalterlichen bildhaft-symbolischen Denkens, das uns heute so schwer verständlich ist und teilweise absurd erscheint. Ein Mann im kurzen Gewand mit Schuhen an den Füßen schüttet Korn in eine Mühle, während ein barfüßiger anderer, bekleidet mit einer weißen Toga, das Mehl auffängt. Was heißt das?

In der ersten Gestalt muss man Moses sehen; im Korn, das er in die Mühle schüttet, das Gesetz des Alten Testamentes, das er von Gott am Berg Sinai erhalten hat. In der Mühle, die das Korn mahlt, wird symbolisch Christus dargestellt (das Rad ist mit einem Kreuz bezeichnet). In dem Menschen, der das Korn auffängt, wird der Apostel Paulus gezeigt, und im Mehl selbst das Gesetz des Neuen Bundes, die neue Gerechtigkeit. Das Gesetz des Moses enthielt zwar die Wahrheit, aber es war eine verborgene Wahrheit, so verborgen wie das Mehl im Korn. Erst durch das Opfer Christi am Kreuz ist es in dieses Mehl verwandelt worden, das man in sich aufnehmen kann, indem man es zu Brot weiterverarbeitet: und das ist das neue Gesetzt des Evangeliums Jesu Christi, das der hl. Paulus durch Gottes Auftrag annahm, um es weiter zu verbreiten.

Mit solchen Bildern wurde jahrhundertelang dem einfachen Volk das Evangelium vermittelt, indem die Priester beispielsweise die bekannten Bilder des alltäglichen Lebens, hier Vorgänge der Landwirtschaft christlich umdeuteten. Aber die Bibel selber arbeitet ja auch schon mit solchen Mitteln.

Einzigartig ist auch der architektur- und standortbedingte Einfall von Sonnenlicht in die Kirche. Je nach Sonnenstand und Jahreszeit werden ganz bestimmte Punkte ausgeleuchtet. Äußerst ästhetisch wirkt auch der Farbwechsel in den Gurtbögen, die das Gewölbe tragen. Dieser „Schichtwechsel“ war bereits 100 Jahre zuvor mit der um 1020 begonnenen Abteikirche von Tournus in die burgundische Architektur eingeführt worden.

Vézelay ist dennoch ein sehr eigenständiges Bauwerk. Viele andere Kirchen Burgunds (z.B. Paray-le-Monial, St.Lazare in Autun), sind in ihrem Baustil geprägt von der Kirche des mächtigen Klosters Cluny, was sich dort u.a. in einem dreiteiligen Wandaufbau (Arkaden, Triforium, Fenster) oder der starken Betonung der Vertikalen zeigt.

In Vézelay ist das anders: Der Wandaufbau ist zweigeschossig, und insgesamt wird eher die Horizontale betont. Vézelay muss deshalb durch das Fehlen unmittelbarer Vorbilder als eigenständige Erfindung der dort tätigen Bauhütte eingestuft und gewürdigt werden. Es mag überraschen, dass von der so eindrucksvollen Architektur des Langhauses ihrerseits nur eine vergleichsweise geringe Wirkung auf die burgundische Architektur ausging. Als unmittelbare Nachfolgebauten gelten neben der Kirche in Anzy-le-Duc auch St. Lazare im benachbarten Avallon. Der Grund für die geringe Resonanz ist einleuchtend: der neue Stil der Gotik war moderner als Vézelay.

Literatur

  • Arno Borst: Religiöse und geistige Bewegungen im Hochmittelalter. In: Propyläen Weltgeschichte, Bd. V, S. 489-563. Frankfurt 1986.
  • Wolfgang Braunfels: Abendländische Klosterbaukunst. Köln.
  • Klaus Bußmann: Burgund. Köln. (DuMont Kunst-Reiseführer)
  • Diemer, Peter: Stil und Ikonographie von Ste.-Madeleine, Vézelay. Dissertation. Heidelberg 1975
  • Peter Dinzelbacher: Himmel, Hölle, Heilige. Visionen und Kunst im Mittelalter. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002.
  • Droste, Thorsten / Hans-Joachim Budeit: Burgund. München 1998. (Farbband)
  • Droste, Thorsten: Burgund. Kernland des europäischen Mittelalters. München 1995.
  • Droste, Thorsten: Romanische Kunst in Frankreich. Köln 1993. (DuMont Kunst-Reiseführer)
  • Georges Duby: Das Europa der Mönche und Ritter, 980-1140. 1984.
  • Duby, Georges: Die Kunst des Mittelalters. 3 Bde. 1985.
  • Duby, Georges: Europa im Mittelalter. 1982.
  • Durliat, Marcel: Romanische Kunst. Freiburg-Basel-Wien 1983. (aufwändiger Text-Bildband)
  • Eibl-Eibesfeldt, Irenäus / Christa Sütterlin: Im Banne der Angst. Zur Natur- und Kunstgeschichte menschlicher Abwehrsymbolik. Zürich 1992. (verhaltenstheoretische Deutung einzelner Gesten auf Kapitellen etc. - gegen kunsthistorische Deutung gesetzt)
  • Josef Engemann: Deutung und Bedeutung frühchristlicher Bildwerke. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997.
  • Gudrun Gleba: Klosterleben im Mittelalter. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004.
  • Grégoire, R. / L. Moulin / R. Oursel: Die Kultur der Klöster. 1995.
  • Holtz, Leonard: Geschichte des christlichen Ordenslebens. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001.
  • Jankrift, Kay Peter: Brände, Stürme, Hungersnöte. Katastrophen in der mittelalterlichen Lebenswelt. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003.
  • Kaiser, Reinhold: Die Burgunder. Stuttgart 2005.
  • Knowles, David: Geschichte des christlichen Mönchtums. Benediktiner, Zisterzienser, Kartäuser [1969]. München 1969.
  • Langer, Otto: Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004.
  • Lauth, Sibylle: Kunstdenkmäler in Burgund. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004.
  • Lecouteux, Claude: Das Reich der Nachtdämonen. Angst und Aberglaube im Mittelalter. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001.
  • Oursel, Raymond: Romanisches Frankreich. Bd. 1: 11. Jh. / Bd. 2: 12. Jh. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991/1993.
  • Propyläen Kunstgeschichte, Bd. V: Das Mittelalter I. Hrsg. von Hermann Fillitz, Berlin [1969] 1990.
  • Rupprecht, Bernhard: Romanische Skulptur in Frankreich. Aufnahmen von Max und Albert Hirmer. München 2. Auflage 1995.

Weblinks

47.4663888888893.74861111111117Koordinaten: 47° 27′ 59″ N, 3° 44′ 55″ O


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