Sestiere

Sestiere

Ein Sestiere (Plural: sestieri) ist ein Stadtteil des historischen Zentrums von Venedig. Das Wort ist von sesto abgeleitet, Sechstel, und weist darauf hin, dass Venedig in sechs Teile gegliedert ist. Weniger bekannt ist, dass Ascoli Piceno und Rapallo ähnlich aufgeteilt sind, und dass Genua in Sechstel gegliedert war. In Leonessa in Latium wird die Variante sesti verwendet. Darüber hinaus übertrug die Republik Venedig Teile dieses Raumordnungsprinzips auf ihre Kolonien, besonders umfassend auf das Kreta des 13. Jahrhunderts.

Die sechs Sestieri im Historischen Zentrum Venedigs
    Cannaregio
    Castello
    Dorsoduro
    San Marco
    San Polo
    Santa Croce

Inhaltsverzeichnis

Geographische Lage

Im Norden des historischen Zentrums Venedigs befindet sich Cannaregio, wo sich auch das Ghetto befindet. Diesem schließt sich süd- und südwestwärts Santa Croce an. Richtung Canal Grande liegt San Polo, wo sich auch der Rialtomarkt und damit das einstige ökonomische Zentrum befand. Ganz im Süden liegt Dorsoduro. Auf der anderen Seite des Canal Grande liegt San Marco, wo sich das politische und geistliche Zentrum mit dem Markusplatz, dem Dogenpalast und dem Markusdom befindet. Den Osten bildet Castello, wo sich das Arsenal befindet.

Geschichte

Die Sestieri links des Canal Grande (Cannaregio, Castello und San Marco) werden als de citra, die rechts davon liegenden (Dorsoduro, Santa Croce und San Polo) als de ultra bezeichnet. Die Sestieri de citra sind auch heute noch der politische, wirtschaftliche und religiöse Schwerpunkt der Stadt. Mehr als 36.000 der heute rund 60.000 Einwohner des historischen Zentrums leben links des Canal Grande, also überwiegend im nördlichen und östlichen Teil der Stadt.

Die Sestieri spielten spätestens seit dem 12. Jahrhundert neben den rund 70 Kirchengemeinden (Contrade) eine bedeutende Rolle in der Machtausübung innerhalb des venezianischen Stadtgebiets. Dabei ging diese Aufteilung vermutlich auf ältere Traditionen zurück.

Entstehung

Die Aufteilung der Stadt in Sechstel (sexterii oder confinia) mit administrativen Funktionen ist wahrscheinlich im Gefolge des Krieges gegen Byzanz entstanden, nachdem Kaiser Manuel I. sämtliche Venezianer in Konstantinopel 1171 hatte verhaften und ihre Waren konfiszieren lassen. So diente die Einteilung der Stadt in Sechstel zunächst der Rekrutierung von Schiffsmannschaften für den Rachefeldzug, die wiederum die führenden Männer des jeweiligen Stadtteils beaufsichtigten. Diese sechs Capi dei Sestieri bildeten den Kleinen Rat, saßen in den höchsten Ratsgremien und bildeten einen Kernbestand der engeren Regierung.

Von den Sexterii befanden sich je drei de supra und de citra des Canal Grande, also jenseits und diesseits des Kanals - aus dem Blickwinkel der Piazza S. Marco betrachtet, dem damaligen wie heutigen Zentrum der Stadt, von wo aus man meistens zuerst die Stadt betrat, und nicht aus der Perspektive des Festlandes, von dem heute im Allgemeinen die Stadt über den Ponte della Libertà betreten wird. Diese Sexterii wiederum zerfielen in etwa 70 Contrade genannte Pfarrsprengel. Ihre Einrichtung erfolgte, wie das Chronicon Altinate berichtet, „pro paranda pecunia“, um also Geld bereitzustellen.[1]

Polizei- und Überwachungsaufgaben

Auf der Ebene der Polizei- und Überwachungsaufgaben spielten die Sestieri ebenfalls eine wichtige Rolle. Pro Sestiere waren dazu vor 1264 neben den Domini de Die (Herren des Tages) zwei Domini de Nocte (Herren der Nacht) zuständig. Diese überwachten nachts ihren Stadtteil und waren für polizeiliche Aufgaben zuständig. 1264 wurde ihre Zahl auf sechs erhöht.[2] Für ihre Aufgaben standen ihnen pro Sestiere vier Custodes (Wächter) zur Verfügung, die in ihrem Sestiere, falls sie dies für notwendig hielten, auch nächtigen mussten.[3] Wurden sie während oder nach ihrer Amtszeit wegen irgendwelcher Amtshandlungen physisch angegriffen, so übernahmen die Advocatores Comunis, die kommunalen Ankläger, die Untersuchung und führten die Verhandlung vor der Quarantia, dem obersten Gerichtshof.[4] Während der Abwesenheit der Flotte konnte es zu einem Mangel an Custodes kommen, den z. B. der Dominus des Sestiere Cannaregio ausgleichen durfte, indem er auf die anderen Sestieri zurückgriff, da er in seinem eigenen niemanden finden konnte, der diese gefahrvolle Aufgabe übernehmen wollte.[5]. Dass diese Aufgabe in der Tat nicht ganz ungefährlich war, zeigen einige Urteile der Quarantia, des höchsten Gerichtshofs, wie etwa im Falle eines Mordes.[6] Ab 1299 mussten Kandidaten für dieses Amt nicht mehr wie bisher seit mindestens zehn Jahren in Venedig wohnen [7], sondern es genügte, wenn sie erst seit einem Jahr in der Stadt lebten.[8].

Abwicklung der Zwangskäufe

Es wurden auch Zwangsmaßnahmen auf der Ebene der Sestieri durchgeführt. So wurden bei Zwangskäufen von Weizen alle Bäcker oder die gesamte Bevölkerung zur Abnahme einer bestimmten Getreidemenge zu einem festen Preis gezwungen. Diese Käufe wurden im 13. und 14. Jahrhundert vom Großen Rat und vom Senat beschlossen, im 15. Jahrhundert vom für Getreidefragen zuständigen Collegio delle Biave (als Biave bezeichnete man die Brotgetreide, also vor allem Hirse und Weizen). Die Durchführung erfolgte unter Leitung der etwa siebzig Capi contrada, also der führenden Häupter der Pfarrsprengel, binnen drei Tagen an jeweils vielleicht einige hundert Haushalte.

Vermögensschätzungen

Auch für Vermögensschätzungen boten die Contrade und die Sestieri die Basis. Zugleich zeigen sie die unterschiedliche Vermögensverteilung in der Stadt. So ermittelte man 1367 und 1425 die genauen Vermögenswerte der Contrade, um sie unregelmäßigen Abgaben, den imprestiti, unterwerfen zu können, die eine Art Zwangsanleihe darstellten. Diese bemaßen sich nach der Höhe des Vermögens. Für die Gesamtstadt ergab sich dabei 1425 ein Wert von 363.421 Dukaten, wozu San Marco 95.641, Castelo 65.363, Cannaregio 61.404, San Polo 55.933, Dorso Duro 46.367 und Sta. Croxe 38.713 Dukaten besteuerbaren Vermögens beitrugen.[9]

Die Contrade, die meist einer Insel entsprachen, waren dabei jeweils genau einem Sestiere zugeordnet. San Marco wies auf diese Art 16 Contrade auf, Castello und Cannaregio je 12, Dorsoduro 10 und Santa Croce und San Polo jeweils 8. Diese Zahlen änderten sich entsprechend dem Bevölkerungswachstum und den Landgewinnungen geringfügig. 1586 wiesen Castello, Cannaregio, San Polo und Dorsoduro je eine Contrada mehr aus, als im 12. Jahrhundert.[10]

Bis heute spielt die Zugehörigkeit zu einem der Stadtsechstel für die meisten Venezianer eine große Rolle. Dieses Zugehörigkeitsgefühl hat sich in verschiedenen Wettbewerben zwischen den Sestieri niedergeschlagen, wie etwa bei Regatten.

Übertragung auf Kolonien und auf Burano

Analog zur Mutterstadt wurde die Kolonie Kreta ebenfalls in Sestieri eingeteilt

Diese Art der Organisation wurde auf einige venezianische Kolonien partiell übertragen, besonders umfassend auf Kreta, sowie auf Burano (fünf auf der Insel Burano und das sechste auf der Nachbarinsel Mazzorbo).

Sestieri von Burano:
  • Giudecca
  • San Mauro
  • San Martino Sinistra
  • San Martino Destra
  • Terranova
  • Mazzorbo (Nachbarinsel)

Im Verlauf des Vierten Kreuzzugs erhielt Venedig drei Achtel des Byzantinischen Reichs und begann ab 1211, Kreta in Form von Lehen zu vergeben, die ausschließlich an Venezianer verkauft werden durften. Binnen weniger Jahre siedelten 3.500 als Milites bezeichnete kleine Feudalherren auf die Insel über. Sie wurden entsprechend ihren heimatlichen Sestieri auf der Insel angesiedelt, die in gleichnamige Einheiten aufgeteilt worden war.[11] Die Sestieri wurden in Turme eingeteilt und diese wiederum in Cavallerie - je 33 1/3 Cavallerie à 6 Sergenterie pro Sestiere. 132 der 200 Cavallerie wurden vergeben, sowie 408 der 1200 Güter für einfache Milites oder Servientes.[12]

Postalische Adressen

6828 Castello, Fondamenta Dandolo, höchste Hausnummer in Venedig

Auch die postalischen Adressen bestehen aus einer simplen, gut am Haus sichtbaren Nummer (ohne Straßennamen) und dem dazugehörigen Sestiere. So wurden einfach alle Häuser des jeweiligen Sestiere durchnummeriert, was Hausnummern bis jenseits der 6.000 zur Folge hat.

Literatur

  • A. Badoer: Disegno della pianta di Venezia con tutti i canali, rij, chiese, ponti, isolette, descrition de sestieri ... Stefano Scolari, Venedig 1677.

Siehe auch

Anmerkungen

  1. Henry Simonsfeld: Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig und die deutsch-venetianischen Handelsbeziehungen, Stuttgart 1887, S. 137.
  2. Andreae Danduli Ducis Venetiarum Chronica per extensum descripta aa. 46-1280, Hrsg. Ester Pastorello, Bologna 1938, S. 312.
  3. Roberto Cessi (Hrsg.): Deliberazioni del maggior consiglio di Venezia, Bd. 2 und 3, Bologna 1931 - 1934, Bd. II, n. XXXIVf., 218f., beide 2. März 1281 und n. XXXVI, 237, 7. Okt. 1281.
  4. Roberto Cessi (Hrsg.): Deliberazioni del maggior consiglio di Venezia, Bd. 2 und 3, Bologna 1931 - 1934, Bd. III, n. 97, S. 416, 4. Januar 1297. Gewalttätigkeiten gegen einen Wächter „exercendo suum officium“ (n. 153, 25. Febr. 1349).
  5. Roberto Cessi (Hrsg.): Deliberazioni del maggior consiglio di Venezia, Bd. 2 und 3, Bologna 1931 - 1934, Bd. III, n. 7, 231, 24. März 1289.
  6. Antonino Lombardo (Hrsg.): Le deliberazioni del Consiglio dei XL della Repubblica di Venezia, Bd. 2, n. 115 und 117f., 13. Januar 1349.
  7. Antonino Lombardo (Hrsg.): Le deliberazioni del Consiglio dei XL della Repubblica di Venezia, n. 24, 399, 1. Juni 1296.
  8. Antonino Lombardo (Hrsg.): Le deliberazioni del Consiglio dei XL della Repubblica di Venezia, n. 39, 455, 23. Juni 1299.
  9. Biblioteca Marciana, Cronaca Veneta attribuita a Gasparo Zancaruolo, dalle origini della città al 1466, Bd. 2 dall'elezione di Marin Falier a. 1354 - (c. 695) "A di 26. Decembrio MCDXLVI., Abschrift des Codex Braidense (VII, 49-50) von 1519 aus dem 18. Jahrhundert, It. VII 1274-1275 (9274-9275), f. 515r-516r.
  10. Karl Julius Beloch: Bevölkerungsgeschichte Italiens, Bd. 3: Die Bevölkerung der Republik Venedig, des Herzogtums Mailand, Piemonts, Genuas, Corsicas und Sardiniens. Die Gesamtbevölkerung Italiens, Berlin 1961, Abschnitt VII: Die Republik Venedig und G. Gallicciolli: Delle memorie venete antiche, profane ed ecclesiastiche, Venedig 1795, Bd. 2, S. 185.
  11. Roberto Cessi: Storia della Repubblica di Venezia, 2 Bde, Mailand/Messina, 1944-1946, 2. Aufl. 1968, S. 207.
  12. Freddy Thiriet: La Romanie vénitienne au Moyen Age. Le développement et l'exploitation du domaine colonial vénitien (XII-XV siècles), Paris 1959, 2. Aufl. Paris 1975, S. 25ff.; Silvano Borsari: Il dominio veneziano a Creta nel XIII secolo, Neapel 1966, S. 28. Heinrich Kretschmayr (Geschichte von Venedig, 3 Bde, Gotha 1905 und 1920, Stuttgart 1934, Nachdruck Aalen 1964, Bd. 2, S. 567) konnte plausibel machen, dass es sich nicht um 48, sondern um 408 sergentarie gehandelt hat.

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