Sinti und Roma

Sinti und Roma

Sinti und Roma ist das in der Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren von den dominierenden Interessenverbänden der seit langem in Mitteleuropa beheimateten Roma implementierte Wortpaar für die Gesamtminderheit der Roma einschließlich ihrer zahlreichen Untergruppen.[1]

In Österreich ist die Variante „Roma und Sinti“ verbreitet.

Die beiden Doppelbezeichnungen stehen wie das von der International Roma Union bevorzugte Roma für den Bruch mit einer diskriminierenden und stigmatisierenden Sicht auf „Zigeuner“ und fordern eine neue, nichtdiskriminierende Perspektive ein.

Zur Semantik

Die Reihenfolge der beiden Selbstbezeichnungen bringt eine Rangfolge zum Ausdruck. Die führende deutsche Interessenvereinigung, der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, und seine Mitgliedsverbände, die ganz überwiegend die Teilethnie der Sinti repräsentieren, bringen damit den Anspruch auf einen Primat zum Ausdruck. Sie erweitern das Wortpaar um den Zusatz „deutsch“ beziehungsweise als Bestandteil von Verbandsbezeichnungen in Großschreibung „Deutsch“ (ursprünglich: „Zentralrat deutscher Sinti und Roma“), weil sie ihre Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerung betonen und ihren Vertretungsanspruch auf „Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit“ beschränken wollen.[2]

Deutsche Sinti und Roma meint:

  • mit deutschen Sinti jenen Teil der Teilgruppe der Sinti (oder Manouches) der Roma, der sich aus den „seit 600 Jahren in den deutschsprachigen, mitteleuropäischen Ländern beheimateten Angehörigen der Minderheit“ der Roma konstituiert. Er schließt die österreichischen, italienischen, französischen und Schweizer Sinti nicht mit ein.
  • mit deutschen Roma jenen Teil der Teilgruppe der osteuropäischen Roma, deren „Vorfahren … im 19. Jh. aus Osteuropa [in den Raum des 1871 gegründeten Deutschen Reichs] ein(wanderten)“ und die im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind.[3]

Die Urheber der Wortprägung grenzten sich damit gegen Roma ab, wie sie seit den 1960er Jahren als „Gastarbeiter“ und später als Bürgerkriegs- und Armutsflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland migrierten und z. T. heute ebenfalls deutsche Staatsbürger sind.

Dass ihr Vertretungsinteresse sich auf „deutsche Sinti und Roma“ mit einer „Identität als eine deutsche Volksgruppe“ wie die „deutschen Sorben im Osten ..., die deutschen Dänen in Südschleswig und die deutschen Friesen im Nordwesten der Republik" (Romani Rose) beschränkt, damit aber auf die inzwischen seit vielen Generationen in Deutschland ansässigen Roma, hat zur Folge, dass sie die Frage des Bleiberechts für osteuropäische Roma-Migranten ignorieren, soweit sie nicht in Bürgerkriegsgebiete abgeschoben werden sollen. Das schließt andererseits ein, dass der Zentralrat die staatlichen Bemühungen unterstützt, die Lebensbedingungen in den ehemals jugoslawischen Herkunftsländern für Roma-Migranten rückkehrfreundlich zu gestalten. So unterstützte er in Teilen das Programm der nordrhein-westfälischen Landesregierung, mazedonische Roma nach Skopje zurückzuführen.[4] Inzwischen spricht sich der Vorsitzende des Zentralrats dafür aus, „keine Minderheitenangehörigen in den Kosovo abzuschieben“, solange der Kosovo für Rückkehrer unsicher sei. Das Rückführungsabkommen solle ausgesetzt und den bereits lange in Deutschland lebenden Kosovo-Roma dauerhafter Aufenthalt gewährt werden.[5]

In Österreich gibt es die Variante "Roma und Sinti". Sie wird dort von Roma-Organisationen vertreten, die mehrheitlich oder ausschließlich nicht der Gruppe der Sinti angehören,[6] die eine Minderheit innerhalb der österreichischen Minderheit bilden. Auch hier bringt die Reihenfolge also den Wunsch nach einer Rangfolge zum Ausdruck.

Begriffsgeschichte

Es war ein Anliegen der in den 1970er Jahren entstehenden Bürgerrechtsbewegung und der sich gründenden Selbstorganisationen der europäischen Roma, eine neue, nichtdiskriminierende Perspektive auf die Minderheit durchzusetzen und dem auch sprachlich Ausdruck zu geben. Dem diente die Abwendung von Gypsy und Zigeuner (und ähnlichen Fremdbezeichnungen in anderen Sprachen), die durch den Romanes-Begriff Roma abgelöst wurden. 1978 beschloss der 2. Welt-Roma-Kongress in Genf Roma als Nachfolger von „Gypsy“.[7] In der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Konvention von der Bürgerrechtsbewegung und von den Selbstorganisationen zunächst übernommen. Bei dem Übergang von der Fremd- zur Selbstbezeichnung ergab sich dort, dass parallel dazu Sinti bzw. Sinte, Selbstbezeichnung eines Großteils der deutschen Roma-Minderheit, von deren Vertretern eingeführt wurde.[8], Roma blieb zunächst Hauptkategorie[9]: "Die Mehrheit der deutschen Zigeuner bezeichnet sich als Sinti; die internationale Zigeunerbewegung bezeichnet das Volk der Zigeuner als Roma." (gemeinsames Memorandum der International Romani Union und des Verbands deutscher Sinti)[10] Die spätere starre Reihenfolge "Sinti und Roma" lag noch nicht fest. Noch 1989 bezeichnete sich der Vorgängerverband des heutigen Landesverbands NRW Deutscher Sinti und Roma als "Verband Deutscher Roma und Sinti e.V. NRW".[11]

Im weiteren Verlauf gelang es dem dominierenden, sich bald zum Zentralrat deutscher Sinti und Roma konstituierenden Zweig der bundesdeutschen Sinti-Bewegung, der sich auch alteingesessene Roma angeschlossen hatten, die Neuprägung "Roma" der internationalen Bewegung zu verdrängen.

Reduziert um die nationale Attribuierung ist „Sinti und Roma“ eine Besonderheit des deutschen Sprachraums geblieben. Das Wortpaar deckt in der Semantik der genannten Verbände die Gesamtheit der Ethnie der Roma real nicht ab. Es übergeht wesentliche Teilgruppen. Es steht im Konflikt mit der Gesamtbezeichnung „Roma“, wie sie inzwischen allgemein Eingang in die Sprache der internationalen staatlichen und halbstaatlichen Organisationen gefunden hat.

Ungeachtet der besonderen inhaltlichen Füllung der Doppelbezeichnung durch die Mitgliedsverbände des Zentralrats wird „Sinti und Roma“ im deutschsprachigen öffentlichen Diskurs als allgemeine Gesamtbezeichnung verstanden und verwendet, wenngleich in vermehrter Konkurrenz zu dem prägnanteren und im Inhalt eindeutigen "Roma".

Anmerkungen

  1. Michael Zimmermann, Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs im Europa des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 13–70, hier S. 63; zur Selbstbezeichnung „Roma“: Roma
  2. Siehe z. B.: die Selbstbeschreibung des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma NRW (online).
  3. Siehe: Landesverband Deutscher Sinti und Roma NRW. Dort auch: „Als Roma bezeichnen sich auch die Angehörigen der Minderheit in Osteuropa.“; vgl. damit auch eine Aussage aus dem Jahr 1982 aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage verschiedener Abgeordneter zu „Lage und Forderungen der Sinti, Roma und verwandter Gruppen“, Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, 21. Dezember 1982, Drucksache 9/2.360, S. 1: „Als Sinti bezeichnen sich die seit Jahrhunderten im deutschen Sprachraum lebenden Zigeuner. Als Roma werden in diesem Sinne die im vorigen Jahrhundert aus Polen und Ungarn nach Deutschland eingewanderten Gruppen bezeichnet. Das Wort 'Roma' bezeichnet im Sprachgebrauch der Zigeuner darüber hinaus auch die Gesamtheit aller Zigeuner.“
  4. Joachim S. Hohmann (Hg.), Sinti und Roma in Deutschland. Versuch einer Bilanz, Frankfurt 1995, S. 231-251; siehe auch: [1].
  5. Romani Rose, Zur Lage im Kosovo. Stellungnahme des Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma zur geplanten Abschiebung von mehr als 10.000 Roma aus Deutschland in den Kosovo, in: Hinterland. Vierteljahresmagazin des Bayerischen Flüchtlingsrats, Nr. 13, 12. Juni 2010, S. 4-5, siehe auch: [2]
  6. Siehe z. B. die HP des Kulturvereins Österreichischer Roma: [3].
  7. Siehe: History of the International Roma Day and international Roma movement (online)
  8. Sinte bzw. Sinti konnten nebeneinander stehen, siehe z. B. den Sprachgebrauch eines Präsidiumsmitglieds des Verbands der Sinti Deutschlands e. V. und späteren Zentralratsvorsitzenden: Romani Oskar Rose, Wiedergutmachung nur den Starken?, in: Tilman Zülch Hrsg.: In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt. Zur Situation der Roma (Zigeuner) in Deutschland und Europa. Reinbek 1979, S. 257-261.
  9. Siehe z. B. die gemeinsam von der Gesellschaft für bedrohte Völker und dem Verband deutscher Sinti herausgegebene Sonderausgabe der Zeitschrift pogrom zum III. Welt-Roma-Kongress, (Göttingen) 1981.
  10. In: Sinti und Roma im ehemaligen KZ Bergen-Belsen am 27. Oktober 1979, Göttingen 1980, S. 136.
  11. DIE Grünen - Fraktion im Landschaftsverband Westfalen-Lippe, GAL/Die Grünen Münster (Hrsg.), NS-Verfolgte 40 Jahre ausgegrenzt und vergessen. Dokumentation einer Anhörung vom 18. Februar 1989 in Münster, Münster 1989.

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