Tatbestandsirrtum

Tatbestandsirrtum

Der Tatbestandsirrtum, auch Tatumstandsirrtum, ist eine der im Strafrecht auftretenden Irrtumsformen. Die rechtliche Behandlung seiner Spielarten wird abgegrenzt gegenüber denen des Verbotsirrtums.

Der Tatbestandsirrtum behandelt das Abweichen der Tätervorstellung von der Realität. Wer bei der Begehung einer Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand der Strafvorschrift gehört, handelt nicht vorsätzlich (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB). Unberührt hiervon bleibt gegebenenfalls allerdings eine Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit. Ein Tatbestandsirrtum liegt mithin vor, wenn der Täter die Tatbestandsmerkmale eines Straftatbestandes objektiv verwirklicht, ohne jedoch sämtliche Tatumstände erkannt zu haben. Täterhorizont: "Er weiß nicht (genau), was er tut".

Beispiel: Mitnahme eines fremden Regenschirms aus einem Schirmständer in einem Restaurant, weil dieser so aussieht wie der eigene. Gehört dieser tatsächlich einem Dritten, erfüllt der Betroffene - objektiv - den Tatbestand des Diebstahls (§ 242 StGB), da er eine fremde bewegliche Sache weggenommen hat. Subjektiv glaubte er aber, dass der Schirm nicht fremd sei, sondern ihm gehöre. Der Betroffene irrt sich also über den Sachverhalt, auf den sich das Tatbestandsmerkmal "fremd" bezieht.

Beim Tatbestandsirrtum weichen also der objektive und der subjektive Tatbestand voneinander ab (so genannte Inkongruenz). Trotz Verwirklichung des objektiven Tatbestands einer Strafvorschrift wird der Täter nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB nicht wegen (vorsätzlicher) Begehung der Tat bestraft. Angesichts der daraus folgenden Straflosigkeit (wegen des Vorsatzdelikts) wirkt § 16 StGB damit letztendlich, aber eben nur im Ergebnis ebenso wie ein Schuldausschließungsgrund. Die Teilnahmefähigkeit (§ 26, § 27 StGB) einer Haupttat fehlt z.B., wenn sich der Täter in einem Tatumstandsirrtum befindet.

Im Unterschied zum Verbotsirrtum nach § 17 StGB kommt es beim Tatbestandsirrtum aber nicht darauf an, ob er vermeidbar war. Grund dafür ist, dass der Täter gerade den Sachverhalt verkennt und somit von der Appellfunktion des Tatbestands (im obigen Beispiel: "Du sollst nicht in das Eigentum eines anderen eingreifen") überhaupt nicht erfasst wird. Der Vorwurf, er hätte den Sachverhalt erkennen müssen, führt allenfalls zur Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts, soweit das Gesetz einen entsprechenden Tatbestand vorsieht. Diese bleibt vom Entfallen des Vorsatzes nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB unberührt. In Fällen eines "vermeidbaren" Tatumstandsirrtums bleibt eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bestehen. So ist beispielsweise ein fahrlässiger Diebstahl nicht unter Strafe gestellt, anders hingegen eine fahrlässige Körperverletzung.

Kenntnis im Sinne von § 16 StGB setzt keine juristisch exakte Subsumtion unter die jeweilige Strafvorschrift voraus. Es reicht aus, wenn der Täter den natürlichen Sinngehalt eines Tatbestandsmerkmals (z. B. Beschädigen oder Zerstören einer Sache ist auch bei bloßer Außerfunktionsetzung u.U. Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB - Luft aus Reifen lassen) erkennt. Unkenntnis der rechtlichen Tatbestandsmäßigkeit der Handlung bei Kenntnis der Tatsachen und des sozialen Bedeutungsgehaltes sind deshalb unbeachtlich. Bei normativen Merkmalen, also Tatbestandsmerkmalen, die einen rechtlichen Bedeutungsgehalt aufweisen (z. B. hängt die Beurteilung der Frage, ob eine gestohlene Sache fremd ist, von der Eigentumslage an dem Gegenstand ab), reicht es, wenn der Täter bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre erkannt hat, dass der Tatumstand erfüllt ist. Kenntnis und damit vorsätzliches Handeln ist hiernach bereits dann zu bejahen, wenn das, was objektiv geschieht, im Wesentlichen mit dem übereinstimmt, was der Täter im Zeitpunkt der Tatbegehung erreichen wollte oder zumindest von ihm billigend in Kauf (= bedingter Vorsatz) genommen wurde.

Strafdogmatisch von Bedeutung ist noch der Irrtum über privilegierende Tatbestandsmerkmale (wie z. B. die straferleichterte Kindstötung gemäß § 217 a.F. StGB). Liegt in diesem Falle Unkenntnis der Tatumstände vor (Straferleichterung), erfolgt Bestrafung aus dem Deliktsbereich der allgemeinen Tötungsdelikte (Totschlag, gem. § 212 StGB), allerdings mit dem Strafmilderungsdelegat des § 16 Abs. 2 StGB.

Sonderfall: error in persona vel objecto

Ein Sonderfall des Tatbestandsirrtums ist der sogenannte error in persona vel objecto. Er beschreibt Fälle, in denen der Täter über die Identität des Handlungsobjektes irrt, woraus ein Irrtum über den Tatbestand folgen kann. Abgrenzungskriterium für die strafrechtliche Beachtlichkeit liegt in der Frage der (Un-)gleichwertigkeit der Tatobjekte verborgen. Hierzu zwei Beispiele:

Beispiel 1: T will O erschießen und lauert ihm nachts auf dem Heimweg auf. M geht vorbei und wird von T für O gehalten. T erschießt M.
Beispiel 2: T will O erschießen und lauert ihm nachts auf dem Heimweg auf. Ms riesige Dogge läuft vorbei. Da ihm Büsche die Sicht verstellen, hält T den Hund für O. T erschießt Ms Dogge.

Im ersten Fall sind die Tatobjekte gleichwertig. Es handelt sich also um einen unwesentlichen Irrtum über Tatumstände, denn T wollte einen Menschen töten und hat einen Menschen getötet - und zwar den, auf den er gezielt hat (Abgrenzung zur regelmäßig strafbewehrten aberratio ictus). T kann also wegen vorsätzlicher, vollendeter Tat bestraft werden.

Im zweiten Fall handelt es sich um einen wesentlichen Irrtum über Tatumstände, denn die Tatobjekte sind nicht gleichwertig: T wollte einen Menschen töten und hat einen Hund getötet. Er handelte also nicht vorsätzlich. Bei ungleichwertigen Tatobjekten ist normalerweise Versuch hinsichtlich des beabsichtigten und Fahrlässigkeit hinsichtlich des getroffenen Tatobjekts zu prüfen.


Eine Sonderform des Tatbestandsirrtums stellt – je nach vertretener Auffassung – der Erlaubnistatumstandsirrtum dar. Dieser bezieht sich in gleicher Weise wie der Tatumstandsirrtum auf Umstände (den Sachverhalt), nur eben auf solche eines Rechtfertigungssatzes (z.B. Notwehr, § 32 StGB und Notstand, § 34 StGB).

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