- Tempelwirtschaft
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In der Assyriolgie und Vorderasiatischen Archäologie bezeichnet Tempelwirtschaft unter anderem eine geschichtswissenschaftliche These, dergemäß im sumerischen Mesopotamien jede ökonomische Tätigkeit auf die Tempel ausgerichtet gewesen sei. Diese staatskapitalistische Wirtschaftsordnung sei dem theokratischen Grundgedanken entsprungen, dass das ganze Gemeinwesen einer Gottheit oder einer Götterfamilie als uneingeschränkter Besitz eigen sei, die vom ensik, dem Priesterfürsten des jeweiligen Stadtstaats, repräsentiert würden. Die Beziehung zwischen den Gottheiten und ihren irdischen Statthaltern habe damit der zwischen Gutsherren und Gutsverwaltern entsprochen.
Die These wurde Anfangs des 20. Jahrhunderts entwickelt, nachdem in Tello (heute Girsu) solcherart zu deutende Texte gefunden worden waren, die sich ins 24. Jahrhundert v. Chr. datieren lassen. Aufgrund der ältesten beschriebenen Tontafeln aus dem Tempelbereich von Uruk, die ebenfalls im Zusammenhang mit einer Wirtschaftsverwaltung stammten, wurde angenommen, dass die Tempelwirtschaft in Mesopotamien seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. eine allgemeingültige Erscheinung gewesen sei.
Diese Annahme ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt in die Kritik geraten, wenn auch nicht verschwunden. Anhand archäologischer Funde wird auf deutliche Anzeichen privater Wirtschaftstätigkeit beziehungsweise das völlige Fehlen zentralisierter Tempel- und Wirtschaftsbezirke in anderen Siedlungen hingewiesen, ebenso wie auf eine klare Trennung zwischen Verwaltungsbeamten und Kultpersonen. Ein weiterer Kritikpunkt ist forschungssystematischer Natur, indem bemerkt wird, dass die bisherige Auswahl zentraler Siedlungen als bevorzugter Grabungsorte zwangsläufig zum irreführenden Eindruck zentralisierter Organisationsformen habe führen müssen.
Im pharaonischen Ägypten waren Götter- und Totentempel die entscheidenden wirtschaftlichen Redistributionszentren. Im Alten Reich und teils auch im Mittleren Reich war die wirtschaftliche und kulturelle Einigung Ägyptens mit der Rolle des Pyramidenbaus verflochten. Die königliche Residenz lag zusammen mit dem Totentempel bei der Pyramidenstadt, in welche die Güter aus allen Gauen und Provinzen zusammengeführt und umverteilt wurden. Im Neuen Reich und in der Spätzeit waren vor allem die großen Göttertempel, insbesondere in Theben und Memphis, die wirtschaftlichen Verwaltungs- und Umverteilungszentren.
Ähnliche, wenn auch nicht als so ausgeprägt betrachtete Erscheinungsformen intensiver wirtschaftlicher Verflechtungen religiöser Zentren und der darin wirkenden Personen („Tempel“, „Priester“), beispielsweise im antiken Griechenland oder Indien, werden gelegentlich auch mit dem Begriff der Tempelwirtschaft bezeichnet.
Literatur
- Hans J. Nissen: Geschichte Alt-Vorderasiens. R. Oldenbourg Verlag, München 1998, ISBN 3-486-56374-2, S. 156-159.
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