Theorie des kommunikativen Handelns

Theorie des kommunikativen Handelns

Die Theorie des kommunikativen Handelns (abgekürzt als TkH, TKH, TCA und TdkH), das Hauptwerk von Jürgen Habermas, thematisiert die praktische und theoriekritische Bedeutung des kommunikativen Handelns für das soziale Leben der (post-)modernen Gesellschaft.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Übersicht

Das 1981 erstmals veröffentlichte Werk setzt zunächst bei mythischen Weltbildern an, problematisiert das Sinnverstehen und untersucht Formen der Rationalisierung. Es enthält mit starken Bezügen auf Talcott Parsons, Thomas A. McCarthy und Niklas Luhmann eine geltungskritische Interpretation moderner Kommunikationstheorie, legt mit mehrfachen Bezügen auf Immanuel Kant, Georg W. F. Hegel und Ludwig Wittgenstein die begründende Funktion der kommunikativen Vernunft dar und vertritt damit eine These zur theoretischen Lösung nicht nur von Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsfragen, sondern auch von normativen Gerechtigkeitsfragen. Als Habermas' „Hauptwerk“ wird es seit den achtziger Jahren sowohl in der Presse als auch in der Breite der Fachliteratur bezeichnet. Es gliedert sich in zwei Bände:

Band I
Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung

I. Einleitung: Zugänge zur Rationalitätsproblematik

II. Max Webers Theorie der Rationalisierung

III. Erste Zwischenbetrachtung: Soziales Handeln, Zwecktätigkeit und Kommunikation

IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung

Band II
Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft

V. Der Paradigmenwechsel bei Mead und Durkheim: Von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln

VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt

VII. Talcott Parsons: Konstruktionsprobleme der Gesellschaftstheorie

VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber und Marx.

Begriffe

Kommunikatives Handeln

Der Titel des Werkes gibt einen operativen und betont sprachlichen Grundbegriff vor.

„Der Grundbegriff des kommunikativen Handelns erschließt den Zugang zu drei Themenkomplexen, die miteinander verschränkt sind: zum Begriff der kommunikativen Rationalität, zu einem zweistufigen, die Paradigmen von Handlung und System verknüpfenden Gesellschaftskonzept und zu einem theoretischen Ansatz, der die Paradoxien der Moderne mit Hilfe einer Unterordnung der kommunikativ strukturierten Lebenswelt unter die imperativen verselbständigten, formal organisierten Handlungssysteme erklärt.“

Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns

Moderne Gesellschaft

Kommunikatives Handeln sei somit der grundlegende Reproduktionsbegriff von allen Gesellschaften. Diese seien als System und als Lebenswelt zu begreifen. In der Moderne würden sich die Handlungssysteme über Lebenswelten ausdifferenzieren. Die sozialpathologischen Folgen etwa in der Ökonomie und Bürokratie würden durch die kommunikative Rationalität koordiniert und behandelt werden. Dieser Gesamtentwurf einer Gesellschaftstheorie, zu dem Niklas Luhmann drei Jahre später mit Soziale Systeme (1984) einen ebenfalls kommunikationsorientierten Gegenentwurf schuf, reiht sich ein in die großen, modernen und in der Theorie des kommunikativen Handelns behandelten Gesamtentwürfe zur systematischen Erfassung (post-)moderner Gesellschaft.

Theoriekern

Nach Habermas liegen die normativen Grundlagen der Gesellschaft in der Sprache, die als zwischenmenschliches Verständigungsmittel soziale Interaktion erst ermöglicht. Durch diese Teilmenge der Kommunikation versuchen Handelnde sich verständigungsorientiert aufeinander zu beziehen. Diese in der Sprache angenommene kommunikative Rationalität bildet die Grundlage sozialen Handelns und überholt den Begriff zweckrationalen Handelns, der von einem teleologischen Handlungsmodell ausgeht und nicht die rationalisierungsfähigen Aspekte sprachlicher Verständigung innerhalb interpersonaler Beziehungen anerkennt.

Habermas antwortet mit diesem Ansatz auf seine beiden Vorgänger Adorno und Horkheimer. Auch er bietet eine Theorie mit dem Anspruch der Kritischen Theorie zur Begründung von Normativität, aber sie soll deren pessimistischen Schluss widerlegen, nach der der Mensch unter Nutzung seiner Vernunft es nicht geschafft habe, eine menschenwürdige Welt aufzubauen, weswegen die Vernunft ein stumpfes Schwert sei. Zwar ist nach Habermas der einzelne Mensch nicht von sich aus zur Vernunft begabt (vgl. Subjektivitätsphilosophie und Bewusstseinsphilosophie), aber als mögliche Quelle der Vernunft sieht er stattdessen die Kommunikation zwischen Menschen, insbesondere die in der Form der Sprache (vgl. Intersubjektivitätsphilosophie). Die Kommunikation funktioniere jedoch nur dann, wenn sie ihre Prozesse vernunftorientiert organisiert. Dies wiederum bedeute, dass die Teilnehmer des Sprechaktes darauf verzichten müssen, Wirkungen im Sinne perlokutiver Sprechakte erzielen zu wollen, solange das, was sie kommunizieren, auch begründbar und kritisierbar bleiben soll.

Letztendlich gibt es nach Habermas vier mögliche Grundlagen - sog. Geltungsansprüche - die Bezugspunkte für die Argumentation sein können. Diese sind: Verständlichkeit, objektive Wahrheit, normative Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit. Ergebnisse herrschaftsfreier Kommunikation, die ausschließlich unter Berufung auf diese Geltungsansprüche zustande kommen, sind nach Habermas optimal rational. Für Habermas korrespondieren und überschneiden sich diese vier Geltungsansprüche mit dem Begriff der intersubjektiven Wahrheit. Intersubjektive Wahrheit bedeutet jedoch, dass jeder theoretisch mögliche Diskursteilnehmer der Aussage (Proposition) zustimmen könnte. Der optimale Diskurs spiegle sich in der idealen Sprechaktsituation wider. Ideal wäre die Sprechaktsituation dann, wenn es keine Verzerrung der Kommunikation gibt. D.h.

  1. gleiche Chancen auf Dialoginitiation und -beteiligung,
  2. gleiche Chancen der Deutungs- und Argumentationsqualität,
  3. Herrschaftsfreiheit, sowie
  4. keine Täuschung der Sprechintentionen.

Diese transzendental pragmatischen Bedingungen ermöglichen Verständigung und einen vernünftigen Diskurs. Habermas weiß, dass es die ideale Sprechaktsituation in der Realität nicht gibt. Jedoch vertritt er, dass wir diese Idealisierung vor jedem Diskurs zumindest implizit vornehmen müssen. Nur so kann es zu dem „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ kommen. Aus dieser kommunikativen Vernunft und Organisation von Handlungen heraus ergibt sich dann kommunikatives Handeln.

Wirkung

Kritik

Diverse Kritiker werfen der Theorie des kommunikativen Handelns vor, dass sie von falschen Grundannahmen ausgehe, dass sie kommunikationstheoretisch unzureichend sei und dass sie sich in der Praxis nicht umsetzen lasse.[1] Die erste nachhaltige Kritik, die auch gleichzeitig die Stärken der Theorie des kommunikativen Handelns artikuliert, erfolgte durch Herbert Schnädelbach (1982).[2] Mehrere Fachleute nehmen auf dessen „critique advanced“[3] Bezug: Zwar bleibe man auf die gerade durch die Theorie des kommunikativen Handelns aufgezeigte kommunikative Rationalität verwiesen, aber die Vorüberzeugungen derjenigen, die Gründe beschreiben und bewerten, würden einen intern ableitbaren Zusammenhang verhindern, so dass auch für argumentativ im Konsens gefundene Antworten auf „praktische Fragen“[4] ein „nie ganz objektivierbares Apriori“ verbleibe.[2] Niklas Luhmann hingegen sieht sowohl die Rationalität als auch die menschlichen Handlungen als nicht geeignet, die entscheidenden Prozesse der Gesellschaft zu erfassen. Ohne dabei das Kommunikationsparadigma in Frage zu stellen, ist Luhmann und Schnädelbach gemein, dass ihre Kritik Habermas' Anliegen der normativen Begründbarkeit relativiert. Weitere Protagonisten mit weiteren Relativierungen waren Hans Albert, Karl-Otto Apel und Jean-François Lyotard.

Rezeption

Das Werk wurde unter anderem im Rahmen des Kyoto-Preises und des Holberg-Preises, die Jürgen Habermas entgegennahm, geehrt. Es beeinflusste theoretische Diskussionen weltweit. Es ist in zahlreichen Sprachen übersetzt, kommentiert und kritisiert.

Weiterentwicklung

Zu einflussreichen Veränderungen und Weiterentwicklungen von Habermas' Hauptwerk zählen unter anderem seine Werke Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates (1992) und Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft (2001). Maßgebliche Modifikationen und konstruktive Erweiterungen erfolgten dabei in den Bereichen der …

Literatur

Originalquellen

das Werk
  • Theorie des kommunikativen Handelns. (Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt am Main 1981. ISBN 3-518-28775-3.
seine Weiterentwicklung bei Jürgen Habermas
  • Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main 1983, ISBN 978-3518280225.
  • Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des Kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main 1984, ISBN 978-3518287767.
  • Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-28961-6.
  • Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 1999, ISBN 978-3518293232.
  • Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft. Stuttgart 2001, ISBN 3-15-018164-X.

Sekundärquellen

werkbezogen
  • Herbert Schnädelbach: Transformation der kritischen Theorie. Zu Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns. In: Philosophische Rundschau 1982
Wiederabdruck: Vernunft und Geschichte. Vorträge und Abhandlungen. In: Philosophische Rundschau. Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-28283-2.
  • Axel Honneth, Hans Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Frankfurt am Main 1996, ISBN 978-3518282250.
  • Andreas Hetzel: Interpretation. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. In: Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie. Reclam, 2001, ISBN 3-15-018114-3, S. 249-266 .
  • Uwe Steinhoff: Kritik der kommunikativen Rationalität. Eine Darstellung und Kritik der kommunikationstheoretischen Philosophie von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel. Paderborn 2006, ISBN 3-89785-473-2.
allgemein
weblinks
siehe auch

Einzelnachweise

  1. Herbert Keuth: Erkenntnis oder Entscheidung. Zur Kritik der kritischen Theorie. Mohr, Tübingen 1993, ISBN 3-16-146096-0, S. 324-344.
  2. a b Herbert Schnädelbach: Transformation der kritischen Theorie. Zu Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns. Philosophische Rundschau 1982, Wiederabdruck In: Vernunft und Geschichte. 1987; Englisch: The Transformation of Critical Theory: Jürgen Habermas’ The Theory of Communicative Action’. in A. Honneth, H. Joas (ed.): Communicative Action: Essays on Jürgen Habermas’ `The Theory of Communicative Action’. J. Gaines, D. Jones (trans.), Polity, Cambridge 1991.
  3. So Thomas A. McCarthy, 1984 u. 1987.
  4. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. I, S. 40.

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