Tote Hand (Nuklearstrategie)

Tote Hand (Nuklearstrategie)

Der Begriff „Tote Hand“ (englisch: „Dead Hand“ oder russisch Мёртвая рука, Mjortwaja ruka, offiziell russisch Система «Периметр» Sistema „Perimetr)[1] steht für ein im Kalten Krieg durch die Sowjetunion installiertes Atomwaffen-Führungssystem, mit dem im Falle eines nuklearen Enthauptungsschlags, der die sowjetische Führung aktionsunfähig gemacht hätte, ein allumfassender Gegenschlag automatisch ausgelöst werden sollte.

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Aufgabe des Systems „Tote Hand“ (benannt nach dem Buch Dead Hand von Harold Coyle[2][3]) war es, dem Militärapparat der Roten Armee im Falle der Ausschaltung der politischen Führung der Sowjetunion durch Freigabe seiner Waffen eine Zweitschlagfähigkeit zu bewahren. Dies wurde durch die Entwicklung von zielgenauen U-Boot-gestützten ballistischen Atomraketen (SLBM) während der 1980er-Jahre zum vorherrschenden Thema.

Die meisten der vor Beginn der 1980er-Jahre zum Einsatz vorgesehenen Nuklearwaffen waren auf Langstreckenbombern und landgestützten Interkontinentalraketen (ICBM) stationiert. Im Gegensatz hierzu wurden die frühen US-amerikanischen, auf Atom-U-Booten (SSBN) stationierten, SLBM-Systeme wie die UGM-27 Polaris der 1960er-Jahren sowie die während der 1970er-Jahre eingeführte UGM-73 Poseidon als nicht genau genug für einen Counterforce-Angriff (gegen das Waffenpotential) oder Erstschlag (First strike) der USA gegen die Sowjetunion angesehen. Auf U-Booten stationierte ballistische Atomraketen (SLBM) wurden daher primär gegen Bevölkerungszentren gerichtet (als sogenannte „Countervalue“-Ziele), bei denen die Zielgenauigkeit eine geringere Rolle spielte. Ein, mit guten Radar- und Satellitenüberwachungssystemen ausgerüsteter, Gegner konnte mit Vorwarnzeiten von etwa 30 Minuten zwischen Raketenstart und Einschlag rechnen – genug, um nach dem Prinzip „Launch on warning“ seine eigenen Waffen zum nuklearen Gegenschlag zu starten. Ein wirkungsvoller Erstschlag war unter diesen Bedingungen wenig erfolgversprechend.

Die strategische Balance änderte sich, als mit den neuen SLBM vom Typ Trident C4 und Trident D5 hochgenaue Systeme eingeführt wurden. Mit der Trident-D5 waren Zielgenauigkeiten (CEP50 etwa 90 Meter) erreichbar, die denen von landgestützten ICBM nahekamen. Damit waren die US-amerikanischen und britischen Trident-U-Boote in der Lage, durch verdeckte Annäherung an die Küsten des Gegners die Vorwarnzeiten auf weniger als drei Minuten zu reduzieren, wodurch ein gegen Militär und Führung gerichteter Counterforce-Angriff auch als Enthauptungsschlag führbar wurde.

Nach Aussagen von Militärstrategen galt es als plausibel, dass ein Gegner die Durchführung eines Erstschlag erwägen würde, wenn er zur Überzeugung gelangt sei, das Führungssystem des Anderen mit Erfolg ausschalten zu können. Die UdSSR unternahm aus diesem Grund Schritte zur Sicherstellung ihrer Fähigkeit zur nuklearen Vergeltung, falls ihre Führung durch einen Überraschungsangriff ausgeschaltet würde (siehe Abschreckung).

Durchführung

Die Fernmeldeverbindungen zwischen der Führung der Sowjetunion und ihrem Generalstab sowie mit militärischen Einrichtungen, darunter Radarstationen, Raketensilos und Kommandozentralen, waren rund um die Uhr unter Überwachung. Wurden Atomexplosionen auf dem Gebiet der UdSSR festgestellt oder traten unvorhergesehene Ausfälle von Fernmeldeverbindungen auf, konnten bereits vergleichsweise rangniedrige Offiziere ohne Zustimmung höherer Gefechtsstände die Freigabe von Atomwaffen erteilen.

Ein 1993 von der New York Times veröffentlichter Artikel[4] schildert das System wie folgt:

„Das heute von Dr. Blair beschriebene System der ‚Toten Hand‘ führt diesen Trend der militärischen Defensive zu seinem logischen und erschreckenden Abschluss. Das automatisierte System erlaubt Moskau in der Theorie, auf einen Angriff des Westens zu antworten, selbst wenn seine höchsten militärischen Kommandeure getötet sind und die Hauptstadt in Schutt und Asche liegt.

Das Herz des Systems wird in unterirdischen Bunkeranlagen im Süden von Moskau und in weiteren Reservestandorten vermutet. Während einer Krise sollen Militärdienststellen eine verschlüsselte Nachricht an die Bunker senden um das System ‚Tote Hand‘ zu aktivieren. Sollten [danach] nahegelegene Sensoren einen nuklearen Angriff auf Moskau melden und das System eine Unterbrechung der Fernmeldeverbindungen zu den höchsten Kommandostellen der Streitkräfte feststellen, würde das System [mittels] niederfrequente Funksignale durch im Erdboden verlegte spezielle Antennen den Start spezieller Raketen auslösen.

Nach dem Erreichen bestimmter Flughöhen sollten diese Flugkörper ihrerseits über strategischen Raketenkomplexen und anderen militärischen Anlagen Funksignale mit Angriffsbefehlen an strategische Atomraketen, Bomberverbände und über spezielle Funkrelais-Stationen an die strategische Atom-U-Bootflotte auf See abstrahlen. Im Gegensatz zu westlichen Informationen sollen laut Dr. Blair zahlreiche russischen Atomraketen in Bunkern und auf mobilen Startgeräten automatisch gestartet werden können.“

Heutige Bedeutung

Es ist nicht bekannt, ob Russland das beschriebene System weiterhin unterhält. Möglicherweise besteht das System zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiter.[5] Da Abschreckung jedoch nur dadurch garantiert wird, dass dem Gegner bekannt ist, ein solches System werde unterhalten, kann spekuliert werden, dass das System derzeit nicht mehr aktiv ist. In einigen Fachbeiträgen heißt es, dass das System zu keinem Zeitpunkt im vollautomatischen Betrieb gelaufen ist.[6][7]

Ein Artikel in Wired von September 2009 deutet an, dass „Tote Hand“ noch immer existiert und in Betrieb ist.[8]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Dr. Bruce G. Blair im Vorwort zu C3: Nuclear Command, Control, Cooperation (PDF)
  2. Harold Coyle, Dead Hand, 384 Seiten, im Verlag Forge Books ISBN 0-8125-7539-3 ISBN 978-0-8125-7539-2
  3. Siehe auch: „Doomsday: On The Brink“, eine Dokumentation des Learning Channel von 1997. „Dead Hand“ bezog sich gleichfalls auf den Zwischenfall anlässlich des Starts einer norwegischen Forschungsrakete im Jahr 1997 sowie auf die Weiterverbreitung von Atomtechnologie in der islamischen Welt. Ziel war es aufzuzeigen, dass die Bedrohung durch den sogenannten „Doomsday“ (der nukleare Weltuntergang) durch den Fall der Berliner Mauer und die daraus entstandenen Umwälzungen nicht verschwunden ist. „That order will ultimately be obeyed, even if nobody is left alive to obey it.“ („Dieser Befehl wird letztlich ausgeführt, auch wenn es keinen Überlebenden mehr gibt, der ihn befolgen kann“
  4. Russia Has 'Doomsday' Machine, U.S. Expert Says, By William J. Broad, October 8, 1993
  5. Ron Rosenbaum, Slate Magazine, Did the Soviets really build a "doomsday device"? August 31, 2007
  6. Michael Jasinski, Russia: Strategic Early Warning, Command and Control, and Missile Defense Overview, März 2001
  7. Soviet Doomsday Device Still Armed and Ready blog 7. September 2007
  8. Inside the Apocalyptic Soviet Doomsday Machine By Nicholas Thompson, Wired, 21 Sept 2009

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