Zivilreligion

Zivilreligion

Als Zivilreligion wird der religiöse Anteil einer politischen Kultur verstanden, der nach Robert N. Bellah notwendig ist, damit ein demokratisches Gemeinwesen funktioniert. Prinzipiell können alle Identität stiftenden oder Akzeptanz schaffenden Elemente für eine Kultur die Funktion religiöser Anteile erfüllen. Zivilreligiös sind in diesem Sinne alle kulturellen Anteile, die alleine durch politisches Handeln nicht verändert, abgeschafft oder eingeführt werden können.

Die Voraussetzung für Zivilreligion ist die Trennung von Kirche und Staat. Staatliche und religiöse Zielsetzungen differieren. Da religiöse Aspekte aber auch in anderen als nur religiösen Angelegenheiten mitentscheidend sind, entsteht der Begriff Zivilreligion.

Inhaltsverzeichnis

Wichtige Theoretiker

Der Begriff einer Zivilreligion ist ein Produkt der Aufklärung: er stammt aus Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) politischer Abhandlung Contrat social ("Gesellschaftsvertrag", 1762). Nach Rousseau ist die Religion politischen Erfordernissen nicht gewachsen (Krieg, Machtmissbrauch). Er versteht die religion civile als ein bürgerliches, verpflichtendes Glaubensbekenntnis mit einfachen Dogmen: Die Existenz Gottes, das Leben nach dem Tod, die Vergeltung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze, die Toleranz. Gottfried Wilhelm Leibniz operierte mit einem Begriff von cultus civilis.

Robert N. Bellah griff diese Hinweise 1967 auf, um damit Funktionen im amerikanischen Gemeinwesen zu beschreiben. Seine These ist, dass es neben den Kirchen eine von ihnen deutlich unterscheidbare, entwickelte und fest institutionalisierte Religion gibt, die sog. Civil Religion. Bellah beschreibt Phänomene einer allgemeinen Religiosität im politischen Bereich. Als Beispiele nennt er Präsidentenreden mit dem wiederkehrenden Thema der amerikanischen Bestimmung unter Gott („In God we trust”). Weitere Elemente einer solchen Religion sind für ihn die amerikanische Geschichtsdeutung, die oft starke Parallelen zum Alten Testament hat, mit den USA als New Israel (God's own nation!), dem Atlantik als Schilfmeer und der Unabhängigkeits- und Grundsatzerklärung analog zu den Zehn Geboten. Teil eines zivilreligiösen Ritus sind für ihn auch die dazugehörigen Feiertage.

Robert N. Bellah hat das Konzept der Zivilreligion in seinen Studien über die US-amerikanische Gesellschaft neu verwandt. Zivilreligion als analytisches Konzept eignet sich zur Beschreibung bestimmter religiöser Einstellungen, die von den meisten Mitgliedern der Gesellschaft geteilt werden. Für den von Bellah untersuchten Fall USA lässt sich folgendes feststellen: Zivilreligiöse Einstellungen werden mit Hilfe verschiedener Symbole ausgedrückt, zu denen neben nationalen Symbolen, z.B. der amerikanischen Flagge, auch Symbole mit stark biblischer Konnontation gehören. Diese zivilreligiösen Symbole treten vor allem im öffentlichen Raum auf und weniger in den eigentlichen religiösen Räumen der verschiedenen amerikanischen Religionsgemeinschaften. Besonders hervorzuheben ist die Benutzung von zivilreligiösen Symbolen in der politischen Rhetorik: Elemente der US-amerikanischen Zivilreligion sind der häufige Bezug zu Gott in Politikerreden. Aber auch die häufige Erinnerung und Ermahnung, dass die Vereinigten Staaten von Amerika für bestimmte Werte stehen, die von allen Amerikanern geteilt werden (sollten), können als zivilreligiös angesehen werden, da hierdurch ein idelles Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt.

Zur Anwendbarkeit heute

Verglichen mit den USA lässt sich das Konzept der Zivilreligion für Deutschland nicht im gleichen Maße anwenden. Weder gibt es mehr nationale Symbole, die eine vergleichbare Stellung haben und ähnliche Reaktionen in der Gesamtbevölkerung hervorrufen, noch ist der öffentliche Raum von religiösen Symbolen geprägt, die einem ideellen Selbstbild Ausdruck verleihen. Allerdings zeigt die Diskussion um das Konzept einer "Leitkultur", wie auch die deutsche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, erste Anzeichen, die auf eine Entstehung eines zivilreligiösen Symbolschatzes hinweisen.

Die Frage nach einer Zivilreligion, bzw. nach einem gemeinsamen Fundus an Ritualen und religiös konnotierten Selbst-Bildern lässt sich hingegen auf der europäischen Ebene feststellen: Die Diskussion um eine 'europäische' Leitkultur, um einen Gottesbezug in der Europäischen Verfassung und um einen möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sind hier aktuelle Diskussionsfelder.

Zivilreligion und Islam

Speziell in Südostasien ist eine Diskussion um das Konzept der Zivilreligion nach Robert N. Bellah aus der Perspektive der "islamischen Welt" zu beobachten. Im Jahre 1999 wurde Bellahs Buch "Beyond Belief" durch das islamische Verlagshaus Paramadina ins Indonesische übersetzt. Bei den Vorstellungen einer Zivilreligion orientiert man sich an den sozialen Verhältnissen in der Stadt Medina zur Zeit des Propheten als Gesellschaftsideal (medina fadila). Hieran schließt sich die Debatte um mögliche Formen einer Zivilgesellschaft an (masyarakat madani), auch wenn sich madani nicht von Medina sondern von madaniyya (Zivilisation) ableitet.

Die Diskussion folgt der Einsicht, dass Glaubensgemeinschaften wie das Christentum und der Islam keine in sich geschlossenen Gesellschaftsmodelle liefern. Vielmehr sind sie darauf angelegt, „sich im Kontext jeweiliger Gegebenheiten aus ihren Quellen zu entfalten und auf die Probe zu stellen. Religion wird zum kommunalen Prozess eines Dialogs um gesellschaftliche Ideale; ein Dialog in dem man sich auf das Andere bezieht (re-aliter) und dabei Wirklichkeit konstruiert (Re-alität). Zivilreligion wird somit zur Aufgabe der Mitglieder einer Gesellschaft, sich im Kontext dieser Wirklichkeit zu verantworten.“ (Zitat aus: M.J. Schindehütte, Zivilreligion als Verantwortung der Gesellschaft, Hamburg 2006, S. 61).

Neue Monografien

  • Thomas Hase: Zivilreligion. Religionswissenschaftliche Überlegungen zu einem theoretischen Konzept am Beispiel der USA (=Religion in der Gesellschaft, 9) Ergon-Verl. : Würzburg 2001, ISBN 3-935556-98-5
  • Michael Ley: Donau-Monarchie und europäische Zivilisation . Über die Notwendigkeit einer Zivilreligion (=Schriftenreihe: Passagen Politik) Passagen-Verl. : Wien 2004, ISBN 3-85165-637-7
  • Janez Perčič: Religion und Gemeinwesen. Zum Begriff der Zivilreligion (=Forum Religionsphilosophie, 8) LIT : Münster 2004, ISBN 3-8258-7053-7
  • Florian Schaurer: Europas Götterdämmerung. Von der Re-Sakralisierung politischer Kultur Tectum : Marburg 2007, ISBN 3-828-89362-7
  • Rolf Schieder: Wieviel Religion verträgt Deutschland? Suhrkamp : Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-518-12195-2
  • Matti Justus Schindehütte: Zivilreligion als Verantwortung der Gesellschaft. Religion als politischer Faktor innerhalb der Entwicklung der Pancasila Indonesiens, Abera Verlag: Hamburg 2006, ISBN 3-934376-80-0

Siehe auch


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