Zuschauereffekt

Zuschauereffekt

Unter Zuschauereffekt (auch Bystander-Effekt, englisch: bystander effect, auch non-helping-bystander effect oder Genovese-Syndrom) versteht man das Phänomen, dass einzelne Augenzeugen eines Unfalls oder kriminellen Übergriffs mit niedrigerer Wahrscheinlichkeit eingreifen oder Hilfe leisten, wenn weitere Zuschauer (engl. bystander „Dabeistehender“) anwesend sind.

Der Ausdruck Genovese-Syndrom rührt her von der US-Amerikanerin Kitty Genovese, die 1964 in ihrem eigenem Wohnhaus in New York City einem Mordanschlag zum Opfer fiel, der sich über etwa eine halbe Stunde hinzog und an verschiedenen Orten geschah. Mindestens 38 Personen aus der Nachbarschaft bemerkten und beobachteten den Überfall, ohne dass der jungen Frau jemand zu Hilfe kam. Dieser Fall motivierte zu etlichen sozialpsychologischen Studien über prosoziales Verhalten. Forschungen zu den Gründen unterlassener Hilfeleistung betonen in starkem Maße auch die Bedeutung von Gruppenprozessen und Gruppendynamik.

Inhaltsverzeichnis

Theorien zur Ursache

  • Die Notwendigkeit oder Dringlichkeit der Hilfeleistung kann von dem Umstehenden nicht eindeutig eingeschätzt werden. Die Personen unterlassen Hilfeleistung, weil sie befürchten, dass sie sich blamieren, wenn sie in einer Situation eingreifen, die für die betroffene(n) Person(en) nicht bedrohlich ist.
  • Bei einer größeren Zahl von Umstehenden wird die Bereitschaft größer, die Situation nicht als Notfall einzuschätzen (pluralistische Ignoranz). Die anderen Umstehenden sehen offenbar auch keinen Notfall, denn niemand sonst hat bisher eingegriffen.[1]
  • Bei einer größeren Zahl von Umstehenden kommt es zu einer Verantwortungsdiffusion: Verantwortungsteilung auf die Zahl der Zuschauer bezogen mit gleichzeitiger Abnahme der Eigenverantwortung. Es wird darauf gewartet, dass eine andere Person eingreift bzw. den ersten Schritt einer Intervention wagt.
  • Nach der Reaktanz-Theorie fühlt sich eine um Hilfe gebetene Person von dieser Bitte in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeengt. Als Gegenreaktion wird sie dazu tendieren, Hilfe zu verweigern.

Der 5-Stufen-Prozess

Um den Effekt des Nicht-Handelns der Augenzeugen (Bystander) besser zu verstehen, entwickelten Latané und Darley ein Entscheidungsmodell für Hilfeverhalten (model of bystander intervention). Das Modell umfasst fünf Stufen, die über das Hilfeverhalten entscheiden. Jede einzelne von ihnen muss erfolgreich durchlaufen werden, damit eine Person Hilfe leistet. Auf den Stufen 2, 3 und 5 kann die Anwesenheit anderer Personen dazu führen, dass sich die Wahrscheinlichkeit der Hilfeleistung verringert.

Die Tabelle erläutert die fünf Stufen anhand einer Situation, in der die Gefahr einer Vergewaltigung besteht.

Stufe Hindernis Einflüsse
1. Das Ereignis bemerken Das Ereignis wird nicht bemerkt Lärm und andere Ablenkungen
Konzentration auf das eigene Handeln
2. Einschätzen der Situation als „Eingreifen erforderlich“ Fehler bei der Einschätzung, dass das Ereignis ein hohes Risiko darstellt Unklarheit bezüglich des Gefahrenpotenzials
Untätigkeit weiterer Zeugen (Pluralistische Ignoranz)
Ignorieren von Anzeichen für eine strafbare Handlung
3. Verantwortung übernehmen Versagen bei der Übernahme persönlicher Verantwortung Unklarheit über die Verantwortlichkeit (Verantwortungsdiffusion: Wahrscheinlichkeit wächst mit Anzahl der Personen)
4. Entscheiden, wie zu helfen ist Versagen beim Eingreifen aufgrund mangelnder Fähigkeit Aktionsignoranz (nicht wissen, was man sagen oder tun sollte, um einzugreifen)
5. Helfen Versagen beim Handeln Angst wegen der Konsequenzen
Einschätzung, ob Eingreifen die Situation verschlimmernd oder selbstgefährdend
Soziale Normen widersprechen Eingriff

Situation wahrnehmen

Bevor Hilfeleistung gegeben werden kann, muss die Person einen Notfall erst einmal registrieren. Die Wahrnehmung kann durch zeitliche und räumliche Trennung verhindert werden. Auch die Lebhaftigkeit und Art des Notfalls kann die Wahrnehmungsmöglichkeit beeinflussen. Es wurde gezeigt, dass bei lebhaften Notfällen in 89 % der Fälle geholfen wird und bei nicht lebhaften Notfällen nur in 13 % der Fälle.

Eine weitere Studie zeigt, dass die Wahrnehmung auch durch die eigene Stimmung beeinflusst werden kann. McMillen, Sanders und Solomon (1977) versetzten Teilnehmer in gute oder schlechte Stimmung durch die Rückmeldung, wie gut sie eine Aufgabe lösten. Während einer weiteren Aufgabe haben sie dann die Reaktionen der Versuchspersonen auf ein Geräusch in unterschiedlicher Lautstärke beobachtet. Diese Beobachtungen zeigen, dass Menschen in guter Stimmung schon bei wenigen Dezibel auf ein Geräusch reagieren und somit einen Notfall unter Umständen viel früher wahrnehmen können. McMillen, Sanders und Salomon führten die Studie zusätzlich in einer abgewandelten Form durch. Die Voraussetzung, ob gute oder schlechte Stimmung, wird wie in Studie 1 hergestellt. Im zweiten Durchgang wurde die Hilfsbereitschaft beobachtet. Auch hier zeigt sich, dass Menschen in guter Stimmung eher und ohne Aufforderung helfen.

Darley und Batson (1973) legten einen scheinbar verletzten Menschen an die Straßenseite und beobachteten das Hilfsverhalten von Theologiestudenten, die zu einem Seminar gingen. Selbst wenn sie im Seminar über das Thema „Der barmherzige Samariter“ zu referieren hatten, hatte Zeitdruck einen viel größeren Einfluss auf das Hilfeverhalten. Von den Studenten, die unter Zeitdruck gesetzt wurden, halfen dem „Opfer“ nur 4%; jene die unter keinem Zeitdruck standen zu 63%.[2]

Situation interpretieren

Nachdem die Situation wahrgenommen wurde, muss sie auch als Notfall interpretiert werden. Erst dann kann die Person die nächsten Stufen durchlaufen. Dies ist meist situationsabhängig. Ist ein Notfall eindeutig, wie ein Autounfall, kann er leichter als Notfall interpretiert werden. Eine weitere Studie von Latané und Darley (1970) versucht aufzudecken, inwiefern sich Menschen in einer unklaren Situation durch die Handlung anderer Menschen beeinflussen lassen (sog. informativer sozialer Einfluss). Die so genannte Rauchstudie untersucht, wie die Versuchspersonen auf Rauch reagieren, der durch einen Türspalt in den Raum eindringt. Die Personen werden verschiedenen Bedingungen zugeordnet. Entweder sitzen sie alleine im Raum, mit zwei weiteren Teilnehmern oder zwei Strohmännern. In der ersten Bedingung melden 75 % den Rauch, in der zweiten Bedingung nur noch 38 %. Allerdings melden in der letzten Bedingung, in der zwei Strohmänner anwesend sind, welche den Rauch ignorieren, nur noch 10 % der Versuchspersonen den Rauch. Diese Beobachtungen lassen erahnen, wie sehr das Verhalten anderer das eigene Verhalten beeinflusst. Dieses Phänomen, dass Personen auch aus dem Nicht-Handeln anderer Bystander schließen, dass es sich nicht um einen Notfall handelt, nennt man Pluralistische Ignoranz.

Verantwortung übernehmen

Wurde die Notfallsituation erkannt, muss der Bystander persönlich Verantwortung übernehmen, um eingreifen zu können. Oft drücken sich Personen in dem Glauben, dass andere besser qualifiziert seien. Das Verantwortungsgefühl nimmt in der Regel ab, je höher die Anzahl der Zuschauer ist. Dieses Phänomen nennt man auch Verantwortungsdiffusion. Moriarty (1975) zeigte diesen Effekt in seiner Studie. Er untersuchte an einem Strand das Verantwortungsgefühl von Personen. In der einen Versuchsbedingung bat man die Strandbesucher, explizit auf Sachen aufzupassen, und in der Kontrollgruppe wurde lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass der Strohmann sein Handtuch verlässt. Daraufhin klaute in beiden Bedingungen ein weiterer Strohmann ein Radio von dem unbeaufsichtigten Handtuch. Es zeigt sich in den Ergebnissen, dass Menschen sich verantwortlicher fühlen, wenn sie die Verantwortung persönlich übertragen bekommen, denn unter dieser Bedingung helfen circa 94 % und in der anderen nur 20 %.

Hilfemöglichkeiten kennen

Selbst wenn nach den ersten drei Schritten feststeht, dass man helfen möchte, wissen Menschen oft nicht wie. Die Entscheidung, welche Hilfe notwendig ist, hängt von der Kompetenz und Erfahrung ab. Shotland und Heinold (1985) zeigten in ihrer Studie, dass Menschen, die einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben, weitaus effektiver helfen können. Auch der Schock kann bewirken, dass eine Person nicht entscheiden kann, was zu tun ist. Eine Studie von Clark & Word (1974) zeigte ebenfalls, dass Wissen oder Kompetenz einen Einfluss auf die Effektivität des Hilfeverhaltens haben. Sie verabreichten einer Person im Beisein der Versuchsperson angeblich einen elektrischen Schock, indem die Person ein elektrisches Drahtseil anfasst. Menschen mit geringem oder fehlenden Wissen über Elektrizität rannten meist impulsiv zum Opfer und berührten es. Dieses Verhalten hilft dem Opfer allerdings überhaupt nicht, sondern bringt den Helfer in die gleiche Gefahr und kann unter Umständen zum Tod führen.

Hilfe durchführen

Bevor Zeugen Hilfe durchführen, wägen sie häufig potentielle Kosten der Hilfeleistung ab. Viele Menschen haben Angst, sich strafbar zu machen. Manchmal muss sich der Zeuge auch selber in Gefahr bringen. Aber auch Scham oder die Angst etwas falsch zu machen, kann ein Grund sein, warum Personen nicht helfen. Die Angst einer Person, vor anderen einen schlechten Eindruck zu machen (steigt mit der Anzahl der anwesenden Personen), nennt man audience-inhibition.

Urban-Overload-Hypothese

Definition

Menschen, die in Städten leben, werden von Reizen bombardiert, wobei sie, um einen overload (Überfrachtung mit Reizen) zu vermeiden, eher für sich alleine bleiben.

Stanley Milgram (1970)

Milgram geht davon aus, dass der Ort, an dem sich eine Person aufhält, ausschlaggebend für ihr Verhalten sei. Der so genannte urban overload führt dazu, dass Personen sich mehr auf sich konzentrieren, damit sie sich in Großstädten überhaupt zurechtfinden können. Dieses Schutzverhalten wirkt sich allerdings negativ auf das Miteinander in der Großstadt aus. Hilfeverhalten oder das Interesse für seine Mitmenschen schränkt der Mensch in diesem Fall ein, allerdings nicht aus böser Absicht, sondern zum Selbstschutz. Milgram vermutet aber, dass dieses Verhalten nur auf den Ort beschränkt ist, an dem man sich aufhält. Ein Mensch aus der Großstadt wird in einer Kleinstadt ebenfalls hilfsbereiter sein, genau wie jemand, der in einer Großstadt zu Besuch ist, sich entsprechend der Urban-Overload-Hypothese verhalten wird.

Studie von Amato

In einer Studie von P. R. Amato (1983) zeigte sich, wie unterschiedlich das Hilfeverhalten zwischen Großstädtern und Kleinstädtern gegenüber einem auf der Straße gestürzten Mann ist. Es zeigt sich, dass in den Kleinstädten über 50 % der Zeugen halfen und in der Großstadt lediglich 15 %. Amato führt diesen Unterschied, anders als Milgram, auf die Persönlichkeitsbildung zurück. Er glaubt nicht, dass der Ort an dem ein Mensch sich befindet, ausschlaggebend sei, sondern der Ort, an dem dieser aufgewachsen ist. In ländlichen Gegenden würde die Ausbildung einer altruistischen Persönlichkeit gefördert, und die Netzwerke seien familiärer und nicht so anonym. Diese Verbundenheit und Persönlichkeitsprägung macht Amato für die Ergebnisse seiner Studie verantwortlich.

Überblicksstudie von Nancy Steblay (1987)

In Situationen, in denen Hilfe notwendig ist, kommt es darauf an, wo sich diese Begebenheit abspielt, nicht welche Menschen anwesend sind.[3]

Feldstudien von Robert Levine (1994)

Bevölkerungsdichte korreliert mehr mit dem Hilfeverhalten als die Einwohnerzahl.[4]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Robert Cialdini: Die Psychologie des Überzeugens. 2008 (Originaltitel: Influence. The Psychology of Persuasion), ISBN 978-3456844787, S. 133 (Zitat: „[…] everyone is likely to see everyone else looking unruffled and failing to act. As a result, and by the principle of social proof, the event will be roundly interpreted as a nonemergency.“).
  2. Darley & Batson (1973). From Jerusalem to Jericho: A study of situational and dispositional variables in helping behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 27, S. 100–108
  3. N. M. Steblay (1987). Helping behavior in rural and urban environments: A meta-analysis. Psychological Bulletin, 102, S. 346-356
  4. R. V. Levine et al. (1994). Helping in 36 U.S. cities. Journal of Personality and Social Psychology, 67, S. 69-82

Literatur

  • Aronson et al. (2004) – Kap. 11 (S. 422-428) Kapitel 3: The Context (S. 65-85)

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