École des Annales

École des Annales

Die Annales-Schule ist die wichtigste, inzwischen mehrere Generationen umfassende Gruppe französischer Historiker im 20. Jahrhundert. Sie etablierte eine neue Methodologie und Praxis in der Geschichtswissenschaft (nouvelle histoire). Ihre drei wichtigsten Neuerungen waren die Hinwendung zu Wirtschaft und Gesellschaft, die Erschließung quantifizierbaren Materials und die Orientierung an langfristigen Entwicklungen. Der Name leitet sich her von ihrem publizistischen Sprachrohr, der 1929 von Marc Bloch und Lucien Febvre gegründeten geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift Annales d'histoire économique et sociale (die Zeitschrift besteht - nach einigen Namensänderungen - bis heute und heißt seit 1994 Annales. Histoire. Sciences sociales).

Inhaltsverzeichnis

Entstehung, Entwicklung

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sahen sich französische Historiker von Vertretern benachbarter Disziplinen massiv angegriffen. Man hielt Geschichte für obsolet, weil sie immer nur exemplarische Einzelfälle beschreiben würde und nicht theoriefähig sei (siehe auch: Historismus). In Zukunft würde sie höchstens noch die Beispiele für Soziologen liefern können.

Gleichzeitig beschrieb der französische Geograph Paul Vidal de la Blache den Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung der Menschen, und "wilderte" damit ebenfalls im Gebiet der Historiker.

Den Historikern Marc Bloch und Lucien Febvre gelang es dann, diese Nachbardisziplinen für die Geschichte nutzbar zu machen. In ihrer Zeit an der Universität Straßburg in den 1920er Jahren kooperierten sie eng mit den Soziologen und Geographen und übernahmen von diesen Methoden in die Geschichtswissenschaft. Schließlich gründeten sie 1929 auf Anregung der seit 1903 bestehenden deutschen Zeitschrift "Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" die "Annales".

Nach dem zweiten Weltkrieg erhielt diese Schule in der 1947 gegründeten 6. Sektion der École Pratique des Hautes Études (seit 1975 École des Hautes Études en Sciences Sociales) in Paris einen institutionellen Rahmen. In der Folgezeit wurde sie zur einflussreichsten Strömung in der französischen Geschichtswissenschaft und entwickelte große internationale Wirkung. In jüngerer Zeit wandte sich die Annales-Forschung vermehrt den Mentalitäten zu. Zuletzt rückten wieder Biographien einzelner Personen ins Blickfeld (Jacques Le Goff), womit das Typische der Annales - Abwendung vom individuellen Einzelfall - heute stark verwaschen ist.

In Deutschland wurde die Annales-Schule zunächst wenig beachtet, eine verstärkte Rezeption setzte erst in den 1970er Jahren ein.

Die Geschichtswissenschaft der Annales-Schule

Geschichtsschreibung im Sinne der Annales bedeutet bis heute Methodenvielfalt und Offenheit für Neues, weshalb man nur schwer von einer besonderen Annales-Geschichtsschreibung sprechen kann. Schwerpunkt der Annales ist aber die Strukturgeschichte: mehr als das Ereignis zählen die unpersönlichen Kräfte, die zu den Ereignissen führen. Am weitesten ging dabei Fernand Braudel der die Bedeutung der "quasi immobilen" Erdgeschichte für das Leben der Menschen untersuchte. Diese langen Zyklen nannte er longue durée, die lange Dauer, und beschrieb in seinem Hauptwerk "Das Mittelmeer" den Einfluss von Klima und Landschaftsformen auf Mensch und Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte und alle Arten quantitativer Geschichte wurden ebenfalls von der Annales-Schule in die französische Geschichtswissenschaft eingeführt. Die Annales-Schule musste für ihre Fragestellungen auch immer wieder neue Quellen erschließen, so haben Annales-Historiker erstmals systematisch Testamente, Heiratsurkunden und Musterungsakten untersucht, um über die Statistik mehr über das Leben der einfachen Leute herauszufinden. Philipp Ariès nutzte Porträts, um die Stellung des Kindes in der Gesellschaft zu untersuchen und auch mit der Archäologie ergaben sich immer wieder Berührungspunkte. Die französische Mittelalterarchäologie hat in ihrer Anfangsphase davon profitiert, da das Interesse v. a. auch der Geschichte des ländlichen Raumes galt (Bloch, Duby, Le Roy Ladurie).

Die Annales-Schule hat zahlreiche europäische und außereuropäische ForscherInnen der verschiedensten humanwissenschaftlichen Disziplinen und Schulen beeinflusst, beispielsweise die deutsche Sozialgeschichte oder die US-amerikanische Weltsystem-Theorie, Weltgeschichte und Umweltgeschichte.

Kritik

Diese Abwendung von Ereignisgeschichte, Abwendung von Politik-, Diplomatie- und Militärgeschichte, wie sie in Deutschland besonders vertreten sind, wird von anderen Gelehrten kritisiert: Die Annales-Schule entferne sich im ungünstigsten Fall zu weit von den gesicherten Fakten, argumentiere mitunter anachronistisch und gehe bei der Interpretation der Vergangenheit zu sehr von dem aus, was aufgrund ihrer Theorien zu erwarten sei. Hier zeigt sich ein grundsätzlicher Dissens in Hinblick auf die methodische Herangehensweise an die Geschichte, der bislang nicht gelöst werden konnte.

Vertreter der Annales-Schule

Siehe auch

Literatur

  • Annales (Zeitschrift; wechselnde Titel und Untertitel). Armand Colin, Paris 1929– ISSN 0395-2649; zusätzlich zur Zeitschrift erscheint die Reihe Dossiers
  • Marc Bloch, Fernand Braudel, Lucien Febvre: Schrift und Materie der Geschichte, Vorschläge zu systematischen Aneignung historischer Prozesse. Herausgegeben von Claudia Honegger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-00814-5
  • Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der „Annales“. Wagenbach Verlag, Berlin 1991, ISBN 3-8031-3562-1 (Taschenbuchausgabe: Fischer, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-596-14074-9)
  • Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich. 1945–1980. Klett-Cotta, Stuttgart 1994, ISBN 3-608-91304-1
  • Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), "Alles Gewordene hat Geschichte". Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992. Mit einem Essay von Peter Schöttler, Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 1994, ISBN 3-379-01479-6

Weblinks


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