Mordfall Meredith Kercher

Mordfall Meredith Kercher

Der Mordfall Meredith Kercher ist ein Kriminalfall der jüngeren italienischen Rechtsgeschichte. Die 21-jährige britische Austauschstudentin Meredith Kercher wurde am 1. November 2007 im italienischen Perugia in der Wohnung, die sie mit drei anderen Frauen teilte, beraubt und getötet. Die Tatumstände konnten bisher nicht eindeutig geklärt werden.

Der Hauptkläger Staatsanwalt Giuliano Mignini sprach in der Anklage von einem „satanischen Ritus“ und „dämonischen Motiven“, die jedoch von den Richtern verworfen wurden.[1] Ferner war von „okkulten Sexpraktiken“ die Rede.[2] Diese Themen griff insbesondere die Boulevardpresse Italiens, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten auf. Auch die deutschsprachige Presse berichtete über den Fall. Am 4. Dezember 2009 verurteilte ein Gericht zwei Angeklagte zu langen Haftstrafen, am 3. Oktober 2011 hob ein Berufungsgericht das Urteil auf.[3]

Inhaltsverzeichnis

Tathergang

Das Apartment, in dem Meredith Kercher ermordet wurde: (A) ihr Zimmer, (B) ihr Bad, (C) das Zimmer von Amanda Knox. Die roten Punkte sind die Markierungen der Spurensicherung. Die Tote lag in der Mitte ihres Zimmers.[4]

Am frühen Abend des 1. Novembers 2007 war die Wohnung der Wohngemeinschaft in der Via della Pergola 7 leer. Meredith Kercher aß mit drei Engländerinnen in einer von deren Wohnungen zu Abend und machte sich frühzeitig mit einer Freundin nach Hause auf. Um 20.55 Uhr trennten sich die Wege der beiden – 460 m vor Kerchers Wohnung.[5] Sie starb dort nach einem ersten rechtsmedizinischen Gutachten zwischen 21 und 23 Uhr [5], nach einem zweiten Gutachten zwischen 21 Uhr und 4 Uhr morgens[6], an massivem Blutverlust durch Stichverletzungen am Hals und durch Erstickung, möglicherweise durch Strangulierung.

Raffaele Sollecito, ein damals 23-jähriger Informatikstudent aus Bari, rief am Mittag des darauf folgenden Tags vom Tatort die Polizei an und meldete einen Einbruch, Blut und eine vermisste Person.[7] Bei ihm war seine damalige Freundin, die 20-jährige Mitbewohnerin von Kercher, Amanda Marie Knox aus Seattle. Noch bevor daraufhin die Carabinieri eintrafen, trafen zwei Beamte der Post- und Telekommunikationspolizei vor dem Haus ein, die den Fund zweier Mobiltelefone in der Nähe eines anderen Hauses untersuchten.[8] Knox und Sollecito teilten ihnen mit, dass sie auf die Carabinieri warteten, da ein Fenster zerbrochen war und sie Blutflecken im Badezimmer entdeckt hatten.[9]

Als sie den Beamten die Situation im Haus zeigten, erreichte eine weitere Mitbewohnerin, gemeinsam mit drei Freunden die Wohnung. Die gefundenen Mobiltelefone konnten Kercher zugeordnet werden, jedoch weigerten sich die Beamten, die verschlossene Tür von Kerchers Zimmer aufzubrechen. Nachdem einer der Freunde ihrer Mitbewohnerin die Tür eingetreten hatte, sahen sie Kerchers Körper leblos auf dem Boden und mit einer blutgetränkten Bettdecke bedeckt. Die Beamten wiesen alle Anwesenden an, die Wohnung sofort zu verlassen, und sperrten den Tatort ab.[10]

Neben den beiden Mobiltelefonen fehlten aus dem Besitz des Opfers auch ihre Wohnungsschlüssel[11], zwei Kreditkarten sowie 300 Euro in Bar.[12]

Indizienprozesse und Urteile

Die Alibis von Sollecito und Knox waren dünn, ihre Aussagen widersprüchlich, zudem fanden sich ihre DNA-Spuren am Tatort, sodass der Verdacht auf sie fiel. Am 6. November 2007 wurden sie festgenommen. Knox belastete bei ihrer Verhörung den Kongolesen Diya „Patrick“ Lumumba, auch dieser wurde daraufhin festgenommen. Am 9. November 2007 urteilte ein Gericht, dass die drei Festgenommenen aufgrund des Verdachts auf gemeinschaftliche sexuelle Nötigung und Tötung in Untersuchungshaft zu halten seien. Es gebe laut der Richterin „deutliche Hinweise auf ihre Schuld“. Diya „Patrick“ Lumumba wurde wenig später freigelassen.[13]

Hauptverdächtiger wurde wenige Tage später der damals 20-jährige Rudy Hermann Guede aus Abidjan (Elfenbeinküste). Seine blutigen Fingerabdrücke und späteren DNA-Proben bewiesen seine Präsenz am Tatort. Guede war nach der Mordnacht mit dem Zug nach Deutschland gefahren, hatte über Facebook mit einem englischen Journalisten über den Mord kommuniziert und wurde am 20. November 2007 in Mainz von der deutschen Polizei aus dem Zug heraus verhaftet. Das Gericht verurteilte ihn in einem getrennten Verfahren am 28. Oktober 2008 unter anderem wegen Vergewaltigung und Mord zu einer Haftstrafe von 30 Jahren,[14] die am 16. Dezember 2010 im zweiten (und letzten) Revisionsverfahren auf 16 Jahre reduziert wurde.[15]

Am 4. Dezember 2009 ging das Geschworenengericht in seinem Urteil von einer Beteiligung mehrerer Personen an dem Mord aus und verurteilte Sollecito und Knox zu hohen Haftstrafen: Raffaele Sollecito zu 25, Amanda Knox zu 26 Jahren. Keiner der Verurteilten war geständig. Die Urteile basierten auf einem reinen Indizienverfahren.[16]

Ein Berufungsgericht hob die Urteile wegen Mordes gegen Sollecito und Knox am 3. Oktober 2011 auf und sprach beide frei mit der Begründung, sie hätten die Tat nicht begangen (italienisch „per non aver commesso il fatto“).[17][18][19] Ein Gutachten zweier Wissenschaftler der Universität La Sapienza hatte von den Hauptbeweisstücken der Anklage praktisch nichts übriggelassen.[20] Eine gegen Knox verhängte Haftstrafe von drei Jahren wegen Verleumdung, die sie aber bereits abgesessen hatte, bestätigte das Gericht: Sie hatte kurz nach ihrer Festnahme zu Unrecht Lumumba des Mordes an Kercher beschuldigt.[17] Die Staatsanwaltschaft unter Giuliano Mignini kündigte Berufung vor dem Höchstgericht an.[21]

Claudio Pratillo Hellmann – Präsident des Schwurgerichts Perugia – sagte, dass der Fall wohl nicht gelöst werde und dass Knox und Sollecito „auch für Merediths Tod verantwortlich sein“ könnten, aber es keine Beweise gäbe. „Jene, die beim Prozess überprüft worden sind, wurden als unzulänglich bewertet, um die beiden Angeklagten zu verurteilen“. Rudy Guede, der einzige noch Verurteilte, kündigte einen Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses an. Seine Verteidiger forderten, dass nach dem Freispruch von Knox und Sollecito der Fall wieder aufgerollt werden müsse.[22]

Internationale Aufmerksamkeit

Der Fall erregte internationales Aufsehen, wobei in den Medienberichten verschiedener Länder deutliche Unterschiede zu beobachten waren: Boulevardzeitungen in Großbritannien stellten Knox als unbedingt schuldig dar, während US-Medien sie als Opfer einer italienischen Justizintrige präsentierten. Die amerikanische Journalistin Nina Burleigh, die auch ein Buch über den Fall publiziert hatte, sprach anlässlich des Freispruches im Berufungsverfahren von „haarsträubender Frauenfeindlichkeit“ der italienischen Behörden, die eine mittelalterlich anmutende Hexenjagd auf die fremde, attraktive junge Frau veranstaltet hätten.[23]

Am 12. November 2007 zitierte die New York Times die Schlagzeile einer Zeitung in Perugia: „Wer ist Amanda? Von einer erstklassigen Studentin zu einer eiskalten Menschenfresserin.“ Der Italien-Korrespondent der Times, Peter Kiefer, versuchte sich in diesem Artikel an einem ersten Bild der drei Hauptverdächtigen:

„Die drei Verdächtigen passen nicht ins Bild. Da ist zunächst Frau Knox, die in kein Schema einer Mörderin passt: 20 Jahre alt, wohlhabend und gut aussehend, Sprachstudentin aus Seattle. Die Polizei geht davon aus, dass sie nicht allein gehandelt hat. Die dritte und tödliche Wunde an Frau Kerchers Hals kam demnach von einem Mann. Ebenfalls verhaftet wurde der italienische Freund von Frau Knox, Raffaele Sollecito, 24, blond und mit sensiblem Blick durch seine Brille; außerdem Diya Lumumba, 44, aus dem Kongo, Besitzer der Bar namens Le Chic, wo Frau Knox als Bedienung arbeitete.“

New York Times[24]

Der Freispruch im Berufungsprozess sei Medienberichten zufolge nicht zuletzt durch einen Wandel in der öffentlichen Meinung erreicht worden: Der leitende Staatsanwalt Giuliano Mignini, der von einem „satanischen Motiv“ gesprochen hatte, wurde wegen seines Verhaltens in anderen Ermittlungen wegen Amtsmissbrauch verurteilt; auch die vielen Ermittlungspannen führten dazu, dass die Glaubwürdigkeit der Anklage schweren Schaden nahm.[25][26] Kommentatoren wiesen auch auf das Ausmaß der medialen Vorverurteilung der Angeklagten als „Engel mit den Eisaugen“ hin.[27][28]

Der Fall in den Medien (Auswahl)

Bücher

  • Brown, Kimberley (27. April 2011). The Amanda Knox Story: A Murder in Perugia. (Kindle- Ausgabe mit Audio/Video). Vook. ASIN B004TTHKJM.
  • Burleigh, Nina (2. August 2011). The Fatal Gift of Beauty: The Trials of Amanda Knox. Broadway Books. ISBN 9780307588586. OCLC 699763845.
  • Dempsey, Candace (27. April 2010). Murder in Italy: the Shocking Slaying of a British Student, the Accused American Girl, and an International Scandal. Berkley Books. ISBN 9780425230831.
  • Girlanda, Rocco (19. Oktober 2010) (italienisch). Io vengo con te. Colloqui in carcere con Amanda Knox [Ich komm mit. Gefängnisgespräche mit Amanda Knox]. Edizioni Piemme. ISBN 9788856615623.
  • King, Gary C. (4. Januar 2010). The Murder of Meredith Kercher. John Blake Publishing. ISBN 978-1844549023.
  • Latza Nadeau, Barbie (15. Mai 2010). Angel Face: the True Story of Student Killer Amanda Knox. Beast Books. ISBN 9780984295135.

Fernsehberichte

  • American Girl, Italian Nightmare, CBS 48 Hours Dokumentation, ausgestrahlt im April 2009 in den USA
  • Beyond the Headlines: Amanda Knox, Lifetime Dokumentation, ausgestrahlt am 21. Februar 2011 in den USA
  • A Long Way From Home, CBS 48 Hours Dokumentation, ausgestrahlt im April 2008 in den USA
  • Murder Abroad: The Amanda Knox Story, CNN Dokumentation, ausgestrahlt am 8. Mai 2011 in den USA
  • Sex, Lies and the Murder of Meredith Kercher, Channel 4 Cutting Edge Dokumentation, ausgestrahlt am 17. April 2008 in Großbritannien

Verfilmungen

Weblinks

 Commons: Mordfall Meredith Kercher – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Ein blutiger Fußabdruck und satanische Verse Süddeutsche Zeitung vom 4. Oktober 2011
  2. Fall eines Engels, Zeitleiste auf süddeutsche.de
  3. New York Times, Titelseite vom 3. Oktober 2011 [1]
  4. Legende zur Grafik: (A) Kerchers Zimmer, (B) ihr Bad, (C) das Zimmer von Amanda Knox, (D) der kleine Zwischenflur, (E) Balkon/Terrasse, (F) Wohnzimmer mit integrierter Küche, (G) Eingang der Wohnung. In Kerchers Zimmer (A) sind grafisch hellgrau angedeutet: unten links ihr Bett, oben links der Schrank, am Fenster oben rechts ihr Schreibtisch mit Schreibtischstuhl. Es fanden sich auch im Bad (B) einige hier nicht abgebildete Markierungstafeln der Spurensicherung.
  5. a b The Times: Meredith Kercher murder: why the timings are critical. 13. November 2007, abgerufen am 6. Oktober 2011 (englisch).
  6. The Times: New DNA found on murdered student's bra not a match to three jailed suspects. 31. Januar 2008, abgerufen am 6. Oktober 2011 (englisch).
  7. Candace Dempsey: Murder in Italy: The Shocking Slaying of a British Student, the Accused American Girl, and an International Scandal. 2010, ISBN 978-0-42523-083-1, S. 57-61.
  8. Telegraph: Meredith Kercher murder: Judge's report. 9. November 2007, abgerufen am 6. Oktober 2011 (englisch).
  9. Candace Dempsey: Murder in Italy: The Shocking Slaying of a British Student, the Accused American Girl, and an International Scandal. 2010, ISBN 978-0-42523-083-1, S. 61-62.
  10. Candace Dempsey: Murder in Italy: The Shocking Slaying of a British Student, the Accused American Girl, and an International Scandal. 2010, ISBN 978-0-42523-083-1, S. 62-65.
  11. The mirror: Mafia supergrass claims Amanda Knox is innocent of murdering Meredith Kercher. 10. Juni 2010, abgerufen am 11. Oktober 2011 (englisch).
  12. DiePresse.com: Italien: Amerikanische Studentin unter Mordverdacht. 16. Januar 2009, abgerufen am 11. Oktober 2011.
  13. "Ich weiß nicht, was wahr ist", Süddeutsche Zeitung, 23. November 2007
  14. 30 Jahre Haft für Mord an Studentin, Süddeutsche Zeitung, 29. Oktober 2008
  15. Strafe gegen Ivorer von 30 auf 16 Jahren reduziert, Der Standard, 22. Dezember 2009
  16. 26 Jahre Haft für den „Engel mit Eisaugen“, Der Standard, 5. Dezember 2009
  17. a b Amanda Knox dankt Unterstützern, n-tv, 4. Oktober 2011
  18. Amanda Knox freigesprochen, NZZ Online, 4. Oktober 2011 (mit Video der Urteilsverkündung)
  19. Delitto Mez, assolti Amanda e Raffaele. Lacrime e abbracci, entrambi sono liberi, Corriere della Sera, 3. Oktober 2011 (italienisch; mit Video der Urteilsverkündung)
  20. Andrea Bachstein: Amanda Knox ist nach vier Jahren frei, Süddeutsche Zeitung, 4. Oktober 2011
  21. „Danke allen, die mein Leid geteilt haben“, ORF.at, 4. Oktober 2011
  22. Mord an Kercher wird laut Richter ungelöst bleiben, Der Standard, 6. Oktober 2011
  23. Los Angeles Times: The scapegoating of Amanda Knox
  24. New York Times vom 13. November 2007
  25. Süddeutsche Zeitung: Freispruch für Amanda Knox: Leichtes Spiel für die Verteidiger
  26. The Guardian: Giuliano Mignini: Knox prosecutor who believes he is the conspiracy victim
  27. ORF: Mediale Schlacht um Schuldfrage
  28. Frankfurter Rundschau: Die Hexenjagd

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