Arme Irre

Arme Irre

Arme Irre ist noch heute eine in der Umgangssprache eher herablassende Bezeichnung für die mit psychischen Problemen belastete Gruppe der sozial schwächeren Gesellschaftsschicht. Arme Irre stellen andererseits aber auch eine Personengruppe dar, die von öffentlicher Seite aus Hilfe zu erwarten hat. Die Bezeichnung stammt aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Daher rührt noch heute, wie der Psychiater Klaus Dörner meint, eine Mischung aus Verachtung und Mitleid für den mit diesem Begriff behafteten Personenkreis.[1]

Unterbringung und Zwangsmaßnahmen

Entscheidend für die verbreitete Beachtung, die der Begriff Arme Irre fand, war die ursprüngliche Anwendung von Zwangsmaßnahmen zur Ausgrenzung eben dieser „Armen Irren“, die selbstredend bei ihnen zu weiterer sozialer Ächtung führte. Dazu schreibt Erwin H. Ackerknecht:

Die absolutistischen Regierungen beschlossen um die Mitte des 17. Jahrhunderts die soziale Krise dadurch zu beseitigen, daß sie alle Armen einsperrten. In Paris erfolgte dies „renfermement des pauvres" im Mai 1657. Die Männer kamen ins Bicêtre, die Frauen in die Salpêtrière. Diese Bettlergefängnisse trugen in Frankreich den verlogenen Namen „Hôpital general", in Deutschland den ehrlicheren „Zuchthaus", in Großbritannien „workhouse". In ihnen waren Bettler und Vagabunden mit Krüppeln, Greisen, Waisen, Prostituierten, Geschlechtskranken, Homosexuellen, „Ungläubigen“, Strafgefangenen und Geisteskranken eingesperrt. ... Während die Unterbringung von Geisteskranken in Gefängnissen bis dahin nur gelegentlich erfolgte, wurde sie durch die Maßnahmen der absolutistischen Regierung zur Regel. ... Die Gefängnisabteilung der Salpetriere wurde erst 1795, die von Bicêtre gar erst 1836 abgeschafft. Noch 1828 befanden sich in England 9000 Geisteskranke in „workhouses".
Selbst die von St. Vincent de Paul, der für eine menschliche Behandlung der Irren kämpfte, im 17. Jahrhundert gegründeten weniger unmenschlichen kirchlichen Privatanstalten, wie St. Lazare in Paris, waren gleichzeitig Gefängnis und Irrenhaus und ersparten so dem Geisteskranken nicht den Makel des Asozialen.[2]

Die Unterbringung der Armen Irren in den für sie vorgesehenen staatlichen Einrichtungen war somit gleichbedeutend mit sozialer Ächtung infolge der in diesen Einrichtungen üblichen spezifischen Zwangsbehandlung. Die Unterbringung begüterter psychisch Kranker erfolgte jedoch demgegenüber in der Regel in kleineren privaten Einrichtungen, die in Frankreich »petites maisons« und in England »lunatic asylum« hießen. Erwin H. Ackerknecht meint jedoch, dass weder die Bettlergefängnisse noch die kleinen privaten Pensionen bzw. »petites maisons« als die Wiege der späteren Psychiatrie zu betrachten seien, sondern vielmehr eine dritte Gattung von Einrichtungen, nämlich die kleinen Privatanstalten (»Maisons de Santé«) wie z. B. Pinel sie kannte im Privatsanatorium des Tischlers Jacques Belhomme, wo er ab 1784 tätig war.[2] [3] Demgegenüber betont Klaus Dörner das selbstbewusste sozialpolitische Engagement der englischen Bürgerschaft, wie es sich z.B. in der Gründung des York Retreat zeigt.[1] Die Privatanstalten waren zwar vornehmlich für die Aufnahme begüterter Kranker vorgesehen, in England gab es jedoch auch zu dieser Zeit Verträge der Kostenübernahme mit den entsprechenden Gemeinden zur Übernahme von „Armen Irren“.[1] – In England sind die „Armen Irren“ (»pauper lunatics«) erst 1714 Gegenstand eines durch das Parlament beschlossenen Gesetzes zur wirksameren Bestrafung der Spitzbuben, Vagabunden, hartnäckigen Bettler und Landstreicher. Der einzige Vorteil, den die psychisch Kranken gegenüber anderen durch dieses Gesetz Internierten besaßen, war, dass sie vom Auspeitschen (»whipping«) ausgenommen waren.[4]

Historische Betrachtung

Klaus Dörner hält die folgenden vier historischen Aspekte für den Begriff der „Armen Irren“ für maßgeblich:[1]

  1. Administrative Ausgrenzung im Rahmen absolutistischer Reglements („renfermement des pauvres“ Paris 1657, Act of Parliament, London 1714)
  2. Behandlung der sozialen Frage (Finanzierung von Einrichtungen für psychisch Kranke)
  3. Philanthropische Vorstellungen (Moralische Behandlung)
  4. Vom psychiatrischen Krankheitsbegriff nicht erfassbare begüterte Kranke (Klassenspezifische Psychopathologie)

Einzelnachweise

  1. a b c d Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. [1969] Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (a) Definition des Begriffs „Arme Irre“: Seite 30, Fußnote 1; (b) Tätigkeit von Pinel bei Jacques Belhomme: Seite 153; (c) York Retreat: Seite 96; (d) Kostenübernahme durch die Gemeinden: Seite 30; (e) Im Begriff der „Armen Irren“ enthaltene historische Abfolge von Tatbeständen: Seite 30, Fußnote 1.
  2. a b Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Enke, Stuttgart 31985, ISBN 3-432-80043-6; (a) Absolutistisches Reglement: Seite 29; (b) Privatanstalten: Seite 35.
  3. Lebenslauf von Pilippe Pinel
  4. Hunter, R. & I. Macalpine: Three hundred Years of Psychiatry. A history presented in selected texts. London, 1963, Seite 299 f. Act „for the more effectual punishing such rogues, vagabonds, sturdy beggars, and vagrant“

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