Geschichte der Psychiatrie

Geschichte der Psychiatrie

Psychiatriegeschichte befasst sich mit der historischen Entwicklung des wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und medizinischen Umgangs mit geistig-seelischen Erkrankungen und mit aus anderen Gründen von den psychosozialen Normen der Zeit abweichendem Verhalten und Erleben.

Inhaltsverzeichnis

Psychiatriegeschichte als Wissenschaftsgeschichte

Bei einer Darstellung der Geschichte der Psychiatrie ist immer zu beachten, welche Perspektive diese dominiert, z. B.

Eine Darstellung der Geschichte der Psychiatrie ist gezwungenermaßen stark subjektiv, denn der Psychiatrie liegen bestimmte Menschenbilder und Verhaltenserwartungen zugrunde, die von politischen und gesellschaftlichen Trends geprägt wurden. Auch das gesellschaftliche Verständnis und das Selbstverständnis der Behandler hinsichtlich ihrer Aufgabe schwankte extrem - vom Ziel, Problemfälle zu verwahren, über Versuche, zumindest Krankheitssymptome zu beeinflussen (um belastende Folgen für den Betroffenen und/oder sein Umfeld zu verringern, eine Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen u. ä.) bis hin zum Anspruch auf eine Behandlung der Krankheitsursachen und die Heilung der Betroffenen – oder auch der ganzen Gesellschaft, falls man glaubte, dort die Ursache gefunden zu haben.

Hinzu kommt, dass sich die Zuordnung von Symptomen zu bestimmten Ursachen im Laufe der Zeit oft geändert hat, z. B. von religiösen Erklärungen (dämonische Besessenheit, Karma) über die Humoralpathologie (Ungleichgewicht der Säfte) oder Stoffwechselstörungen im Gehirn zu psychologisierenden Ansätzen auf individueller (verdrängte Konflikte, ungünstige Annahmen über die Welt, komplexe Traumatisierung) oder kollektiver Ebene (gestörtes Familiensystem, kranke Gesellschaft). Die aktuellen Theorien zur Krankheitsursache beeinflussten wesentlich den Einsatz spezifischer Behandlungsmaßnahmen. Die Wissenschaftsdisziplin, welche sich mit den Symptomen, Syndromen und Nosologien innerhalb der Psychiatrie befasst, ist die Psychopathologie.

Außerdem fallen viele der einst psychiatrisch behandelten Krankheitsbilder heute in andere medizinische Fachgebiete, und der Handlungsbedarf wird bei verschiedenen Phänomenen im Laufe der Zeiten unterschiedlich eingeschätzt.

Eine differenzierte Geschichte der Psychiatrie verbindet deswegen Medizingeschichte, Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie, analysiert Zuschreibungen und versucht, soziologische und politische Zusammenhänge aufzuklären.

Europäische Psychiatriegeschichte

Die Psychiatriegeschichte kann in drei große Epochen gegliedert werden. Vom Altertum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist es korrekter, von einer Geschichte des Wahnsinns zu sprechen. Psychiatriegeschichte im engeren Sinn beginnt mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, als Bemühungen zur systematischen Versorgung der Kranken einsetzen.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Psychiatrie zur akademischen Wissenschaft entwickelt.

Die Behandlung des Wahnsinns vom Altertum bis Ende des 18. Jahrhunderts

Aus der Zeit der Römer sind zahlreiche Darstellungen von Krankheitsbildern überliefert, z. B. durch Cicero (Gespräche in Tusculum), Aulus Cornelius Celsus (ca. 30 n.Chr.), Soranos von Ephesos (ca. 100 n. Chr.) und Aretäus von Kappadozien (ca. 150 n. Chr.) Zu den römischen Behandlungsmethoden zählten Massagen, Aderlässe, Diäten, Schröpfen und Ölumschläge am Kopf. Man versuchte den Verstand zu fördern, indem man kritische Texte lesen ließ und befragte, und bemühte sich um Aktivierung der Patienten durch Theaterspiele, Brettspiele oder auch Reisen. Manche Kranke wurden auch isoliert und in Räumen mit hochliegenden Fenstern untergebracht. Psychiatrische Krankenhäuser sind bereits aus der Antike bekannt, das Asklepieion bei Pergamon kann als eine der ältesten psychosomatischen Kliniken angesehen werden.[1]

Die ersten Spezialanstalten für Geisteskranke entstanden im 12. Jahrhundert, z. B. in Damaskus, Kairo und Granada. Häufig wird von guter Pflege und Wohlwollen gegenüber den Patienten berichtet, es existierten aber auch reine Verwahrunghäuser, z. B. das Frankfurter „Stocke“ oder die Lübecker Dorenkisten. Das berüchtigte Bethlehem Hospital in London („Bedlam“) wurde 1377 gegründet. Unruhige oder aggressive Irre wurden mitunter auch vor der Stadt in Holzkisten gesteckt oder in die Stadttore gesperrt.

Im späten Mittelalter änderte sich die Situation dramatisch. Krankheitssymptome wurden als Teufelswerk interpretiert und die Betroffenen deswegen als Hexen oder Zauberer von der Inquisition verfolgt. Vom 15. bis 17. Jahrhundert wurden tausende von Erkrankten gefoltert und verbrannt.

Im 17. und 18. Jahrhundert wurden Spitäler üblich, z. B. in Paris das „Hôpital général“, in England die „Workhouses“, in Deutschland die „Zuchthäuser“. Sie ähnelten eher Gefängnissen als Krankenhäusern. Die Patienten vegetierten dort angekettet zusammen mit Armen, Prostituierten, Landstreichern, Krüppeln und Straftätern (auch Gewaltverbrechern). Ärzte gab es nicht. Die Wärter zwangen die Patienten mit harten Strafen zu jeder ihnen irgendwie möglichen körperlichen Arbeit und ließen sie ansonsten psychisch verwahrlosen. Auch Misshandlungen durch Mitpatienten waren die Regel. An manchen Orten wurden psychisch Kranke einem zahlenden Publikum vorgeführt, z. B. im 1784 gebauten „Narrenturm“ in Wien. Allerdings war dieser Bau, der mit einem Allgemeinkrankenhaus verbunden war, schon ein Schritt in Richtung der zunehmenden Humanisierung der Behandlung.

Die Anstaltspsychiatrie vom Ende des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts

Schon im 17. Jahrhundert sahen immer mehr Ärzte Verhaltensstörungen als medizinisches Problem an und lieferten präzise Beschreibungen psychiatrischer Krankheitsbilder. Der schottische Arzt George Cheyne (1671–1743) stellte fest, dass etwa ein Drittel aller ärztlichen Patienten unter hysterischen, neurasthenischen und hypochondrischen Syndromen litten, welche er „Englische Krankheit“ (The English Malady) nannte. Georg Ernst Stahl (1659–1734) hob die Bedeutung der Seele bei somatischen Leiden hervor und unterschied bereits zwischen sympathischen (= organischen) und pathischen (= funktionellen) Erkrankungen. Es dauerte aber noch bis Ende des Jahrhunderts, bis sich eine klinische Psychiatrie entwickelte, die mit einer Versorgung in Anstalten verbunden war. Zur Legende wurde dabei Philippe Pinel, der 1793 in der Bicêtre die Kranken von ihren Ketten befreite.

Die Mediziner rechtfertigen ihre Bemühungen um die vorher nur weggesperrten Geisteskranken mit der Überzeugung, dass die Symptome somatisch bedingt (z. B. durch Verletzung oder organische Erkrankung) und deswegen heilbar seien. Pinel entwickelte eine Systematik der Krankheiten und vertrat einen therapeutischen Optimismus. Er rechnete bei Manien und Melancholien mit einer Heilungsrate von über 50 % innerhalb von 18 Monaten nach Behandlungsbeginn.

Die sogenannten Psychiker sahen dagegen Geisteskrankheiten als Erkrankung der körperlosen Seele an, also als Folge von Sünden. Therapiert wurde mit brutalen körperlichen Methoden, deren Zweck war, die Seele zu erschüttern. Übliche Maßnahmen in diesen Anstalten waren die körperliche Behandlung mit Ruten, Stöcken und Peitschen und Foltermethoden wie dem Drehstuhl (auf ihm wurde der Patient so lange gedreht, bis ihm Blut aus Mund und Nase lief oder er das Bewusstsein verlor), Schockkuren (z. B. Schneebad oder Sturzbad, d. h. Eintauchen in eiskaltes Wasser), Erzeugung körperlicher Erschöpfung (Zwangsstehen, Brechmittel, Abführmittel, Hungerkuren), Peitschung mit Nesseln oder die Einreibung der Kopfhaut mit Substanzen wie z. B. Brechweinstein, welche schmerzhafte eitrige Geschwüre hervorriefen. Auch Senfpflaster, Ameisen, Elektrizität und glühende Eisen kamen zum Einsatz.

Zunehmend kam es mit 19. Jahrhundert aber auch, von England ausgehend, zu sozialpsychiatrischen Bewegungen. Die Non-restraint-Bewegung entstand, als ein Patient in einer Zwangsjacke zu Tode kam. Sie setzte sich schnell durch: während 1830 noch 39 von insgesamt 92 Patienten gefesselt wurden, waren es 1837 nur noch 2 von 120 Patienten. Der Ansatz wurde von Robert Gardiner Hill in England eingeführt. Die Bewegung wurde entscheidend von John Conolly (1794-1866) gefördert.

Kaiser Joseph II. ließ den urtümlich wirkenden Rundbau des „Narrenturm“ auf dem Gelände des ehemaligen Allgemeinen Krankenhauses in Wien 1784 als erste „Irrenanstalt“ Europas errichten.

Am 11. Mai 1796 gründete der Quäker William Tuke (1732–1822) in York eine private Irrenanstalt namens „The Retreat“. Das idyllisch gelegende Haus zeichnete sich durch seine ruhige Atmosphäre und den Verzicht auf Zwang und Gewalt aus. In Deutschland beklagte 1803 Johann Christian Reil die unwürdigen Zustände in Zucht- und Tollhäusern. Seine Reformvorschläge erinnern an das Konzept des „Retreat“.

Es wurde auch mit weiteren humaneren Behandlungsprinzipien experimentiert, z. B. soziale Veranstaltungen und Betätigung in Handwerk und Landwirtschaft, z. T. in den Häusern direkt angeschlossenen Höfen. In vielen Anstalten wurde eine tägliche Visite durch die Ärzte eingeführt.

Pioniere der Anstaltspsychiatrie

  • William Battie (1703−1776), englischer Arzt, der als einer der ersten Psychiater gilt.
  • William Tuke (1732−1822), Vorreiter humaner Behandlung und Gründer des „Retreat“ in York.
  • Franz Anton Mesmer (1734−1815), umstrittener Arzt, der trotz der unhaltbaren Theorie des Mesmerismus Erfolge erzielte und die moderne Psychotherapie methodisch voranbrachte.
  • John Brown (1735−1788), Gründer des Brownianismus, der verschiedene Lebens- und Krankheitstheorien zu einem Gesamtkonzept verband.
  • Philippe Pinel (1745−1826), französischer Arzt und Psychiater, der gewaltfreie Behandlung (das sog. „traitement moral“, gekennzeichnet durch Zuwendung, Milde und Geduld) durchsetzte und fortschrittliche psychiatrische Ausbildung förderte.
  • Jean Etienne Dominique Esquirol (1772−1840) Psychiater, Mitarbeiter und Schüler Pinels. Begründer der Monomanielehre, von der sich heute noch die Begriffe „Kleptomanie“ und „Pyromanie“ erhalten haben. Mitbegründer der beispielgebenden französischen Psychiatrie-Tradition.
  • Christian Roller (1802-1878) war ein deutscher Psychiater. Er war Gründer und langjähriger Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Illenau in Achern.
  • Benjamin Rush (1746−1813), Autor des ersten amerikanischen Lehrbuchs, deswegen auch „Vater“ der US-Psychiatrie genannt, und Erfinder der Zwangsjacke.
  • Franz Joseph Gall (1758−1828), Gründer der Phrenologie, die das Gehirn als zentrum mentaler Prozesse erkannte. Sein Versuch, Schädelmerkmale, Gehirnanatomie und Charakter in Verbindung zu bringen, erwies sich als Irrweg.
  • Johann Christian Reil (1759−1813), Arzt und Professor aus Halle, der sich für humane Behandlung der „Irren“ einsetzte.
  • Vincenzo Chiarugi (1759−1820), Ein früher italienischer Psychiatrie-Reformer
  • John Haslam (1764−1844), Apotheker am Bethlam-Hospital in London, der unter dem Titel „Illustrations of Madness“ die erste große Fallstudie einer Schizophrenie publizierte.
  • Karl Georg Neumann (1774−1850), Arzt an der Charité und früher Kritiker der somatischen Therapien.
  • John Conolly (1794−1866), einer der Begründer der „no restraint therapy“ (Behandlung in kleinen, humanen Instituten; Prinzip der offenen Tür, spezielle Ausbildung für die Betreuer)
  • Joseph Guislain (1797−1860), Begründer der modernen Psychiatrie in Belgien, der dadurch psychisch Kranke von ihrem bisherigen Strafgefangenen-Dasein befreite.

Wissenschaftliche Psychiatrie bis 1945

Der Anfang einer wissenschaftlichen Psychiatrie wird häufig mit Pinel in Verbindung gebracht, als dessen plakative Leistung ja zunächst die Befreiung der „Irren“ von den Ketten in den französischen Revolutionszeiten gesehen wird. Geistesgeschichtlich wird die französische Revolution als Höhe- und Endpunkt der Aufklärung angesehen (des „Zeitalters der Vernunft“). Bis in diese Zeit hinein schienen psychische Störungen vorwiegend als Störungen der Verstandestätigkeit aufgefasst worden zu sein (Instrumentarien zur Beschreibung der Verstandesfunktionen wurden z. B. von John Locke und Bonnot de Condillac dargestellt). Mit Pinels Konzeption der „manie sans délire“ scheint ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden zu sein: Man nahm staunend zur Kenntnis, dass es offenbar psychische Störungen gab, die die Verstandesfunktionen nicht oder nur am Rande beeinträchtigen. Pinels eher anekdotische Erwähnung der „manie sans délire“, führte über André Mattheys Konzept der „Pathomanie“ schließlich zur Entwicklung der Monomanielehre Esquirols, die aufgrund ihrer extremen konzeptionellen Unschärfe aber schon bis Ende des 19. Jahrhunderts auf massive Ablehnung stieß (deren Begriffe „Kleptomanie“ und „Pyromanie“ sich aber bis heute erhalten haben).

Die mit Pinels „manie sans délire“ eingeleitete Entwicklung bereitete aber den Boden für die Beschäftigung mit Störungen, die weniger ins Auge sprangen als die klassischen „Geisteskrankheiten“ (etwa Störungen, die in heutiger psychiatrischer Terminologie als affektive Störungen, neurotische Störungen [Zwänge, Phobien, etc.] und Persönlichkeitsstörungen bezeichnet werden) und die z. B. von Sigmund Freud in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wurden. Wesentlich ist auch James Cowles Prichards Konzept der „moral insanity“ und Kochs „Die psychopathischen Minderwertigkeiten“ (1899), die letztlich maßgeben zum Konzept der Persönlichkeitsstörungen beitrugen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hoffte man, bald psychische Krankheiten ursächlich auf anatomische Veränderungen im Gehirn zurückführen zu können. Gestützt wurde diese Hoffnung z. B. von der Entdeckung des Sprachzentrums (Broca-Zentrum) durch den Neurologen Paul Broca. Die Verbindung zu anderen medizinischen Disziplinen, vor allem der Neurologie, wurde stärker. Es kam auch zu einer zunehmenden Klinifizierung der Psychiatrie, d. h. Patienten wurden in Betten behandelt.

Gegen Ende des Jahrhunderts rückten „nervöse Störungen“ (Neurosen) in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wobei die Technik der Hypnose eine wichtige Rolle spielte. Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte sich die deutsche Psychiatrie allerdings skeptisch bis ablehnend gegenüber solchen Ansätzen, besonders gegenüber der Psychoanalyse. Zur Integration psychotherapeutischer Methoden in die Psychiatrie kam es erst in den folgenden Jahrzehnten. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wurde von dem Psychiater Alfred Hoche 1920 propagiert. In anderen Ländern wurde mit somatischen Behandlungsmethoden experimentiert, z. B. Cardiazolschocktherapie (künstliches Hervorrufen epileptischer Anfälle durch toxische Substanzen) der Elektrokrampftherapie, die von Cerletti und Bini 1937 erstmals in Rom einsetzen, und der Psychochirurgie, zu der die präfrontale Lobotomie zählt, die Egas Moniz (er erhielt später dafür den Nobelpreis) und Almeida Lima in Portugal durchführten.[2][3]

Mit der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) wurden Gesetzen zur Zwangssterilisation Betroffener oder auch nur erblich belasteter Personen eingeführt. Während des Zweiten Weltkriegs wurden ca. 100.000 psychisch Erkrankte (insbesondere chronisch Kranke) in deutschen Anstalten ermordet. Hierbei war die Aktion T4 maßgeblich.

Nachkriegszeit

Nach Kriegsende entwickelte sich die Psychiatrie nur in Deutschland langsam. 1970 beschäftigte sich der Deutsche Ärztetag erstmals in seiner Geschichte mit der psychiatrischen Versorgung. In den folgenden zwei Jahren wurden Vereinigungen wie die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) und die Aktion psychisch Kranke e. V. gegründet. In letzterer fanden sich Vertreter aller Interessensgruppen wieder, was vermutlich nicht unbedeutend dafür war, dass der Aktion psychisch Kranke e. V. die Geschäftsführung der Psychiatrie-Enquête übertragen wurde, welche am 31. August 1971 konstituiert wurde.

Diese, rund 200 Experten aus allen Bereichen der Psychiatrie, beschäftigte sich bis 1979 mit der Situation der Psychiatrie in der Bundesrepublik. Sie veröffentlichte im September 1975 einen 430 DIN-A4-Seiten umfassenden 'Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland'. Dieser beklagte Brutalität in psychiatrischen Krankenhäusern und einen eklatanten Mangel an ambulanten Versorgungsmöglichkeiten und ergänzenden Behandlungsformen (z. B. Kunsttherapie). Insgesamt seien über 70 Prozent der Patienten gegen ihren Willen behandelt worden. Dies führte in Folge zu einer Reihe von Reformen.

Fortschritte gab es dagegen bei den somatischen Ansätzen: die Entwicklung von Psychopharmaka ab 1952 ermöglichte die Beeinflussung seelischer Vorgänge durch Medikamente. Dieser eindeutige wissenschaftliche Fortschritt wird jedoch von den durch ärztliche Verordnung von Psychopharmaka Betroffenen vielfach als zwiespältig empfunden, da z. T. erhebliche Nebenwirkungen mit irreversiblen Folgeschäden (z. B. Spätdyskinesien) in Kauf genommen werden müssen. Andererseits muss das allgemein beobachtete Phänomen der Medikalisierung besonders in der Psychiatrie als antitherapeutisch angesehen werden, da die technisch einfach handhabbare Verordnung von Medikamenten sich scheinbar als die Methode der Wahl anbietet (Gegensatz von Pragmatismus und Selbstreflexion - oder „Sind wir der Perfektion unserer Produkte gewachsen?“[4]).

Im Bereich der psychiatrischen Klassifikation wird durch die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme und das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders eine einheitliche Diagnostik angestrebt.

Wegbereiter der wissenschaftlichen Psychiatrie

  • Johann Christian Reil (1759-1813)
  • Johann Christian August Heinroth (1773−1843), Inhaber des ersten abendländischen Universitätslehrstuhls für ein nerven- und seelenheilkundliches Fach ab 1811 in Leipzig.
  • Wilhelm Griesinger (1817−1868), Professor für Psychiatrie an der Charité ab 1865; forderte, psychische Erkrankungen stets als Erkrankungen des Gehirns aufzufassen. Begründer der führenden Rolle, die seit ihm die deutschsprachige psychopathologische Forschung einnimmt.
  • Jean-Martin Charcot (1825−1893), Pariser Neurologe und Lehrer von Sigmund Freud.
  • Karl Ludwig Kahlbaum (1828−1899), bedeutender klinischer Psychopathologe außerhalb der Universitätspsychiatrie; Erstbeschreiber der Katatonie.
  • Theodor Meynert (1833−1892), Leiter der Wiener Universitätspsychiatrie und „Gehirnmythologe“.
  • George Miller Beard (1839−1883), New Yorker Arzt, der den Begriff „Neurasthenie“ prägte.
  • Hippolyte-Marie Bernheim (1840−1919) versuchte, hysterische Symptome durch Hypnose zu beeinflussen.
  • Josef Breuer (1842−1925), praktischer Arzt, der Freud zu seinen Hysterie-Studien anregte.
  • Carl Wernicke (1848−1905), Professor für Neurologie und Psychiatrie in Breslau und Halle. (Wernicke-Enzephalopathie)
  • Auguste Forel (1848-1931), ‚Vater der Schweizer Psychiatrie‘. Verhalf gegen den Widerstand der zeitgenössischen Ärzteschaft der Hypnose zur Anerkennung als Therapie.
  • Benedict Augustin Morel (1848−1931), Vertreter der Lehre, dass Geisteskrankheit eine degenerative Variante des Normaltyps darstelle, die bei jeder Generation deutlicher hervortrete und zum Aussterben der Spezies führe.
  • Iwan Petrowitsch Pawlow (1849−1936), entdeckte die konditionierten (bedingten) Reflexe und schuf damit die wissenschaftliche Grundlage der Verhaltenstherapie.
  • Otto Binswanger (1852−1929), grundlegende Studien zur Hysterie.
  • Paul Julius Möbius (1853-1907), neurologische und psychiatrische Forscherpersönlichkeit außerhalb der Universitätspsychiatrie. Führte den Begriff ‚endogen‘ für eigenständig sich entwickelnde Psychosen ein, der bis zur ICD-10-Klassifikation (1991) Gültigkeit hatte.
  • Emil Kraepelin (1856−1926), klassifizierte 1899 psychische Erkrankungen nach Verlauf und Prognose und kam so zur Abgrenzung des manisch-depressiven Irreseins (affektive Störungen) von der Dementia praecox (Gruppe der Schizophrenien). Schuf damit die Grundlage der bis heute gültigen psychiatrischen Systematik.
  • Sigmund Freud (1856−1939) erklärte erstmals hysterische Zustände als Folge traumatischer Erlebnisse oder Unterdrückung von Trieb-Phantasien.
  • Eugen Bleuler (1857−1939). Auf ihn geht der Begriff Schizophrenie zurück.
  • Pierre Janet (1859−1947) Wegbereiter der modernen Psychotherapie
  • Ludwig Binswanger (1881-1966) Psychologische Grundlagen der Psychiatrie
  • Karl Jaspers (1883-1969) Allgemeine Psychopathologie
  • Johannes Heinrich Schultz (1884-1970) Entwickler des Autogenen Trainings
  • Arthur Kronfeld (1886-1941) Wissenschaftstheorie der Psychiatrie
  • Ernst Kretschmer (1888−1964) Konstitutionslehre
  • Julius Wagner von Jauregg (1857−1940)

Literatur

  • Erwin Heinz Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Stuttgart 1967, ISBN 3-432-80043-6.
  • Matthias C. Angermeyer, Holger Steinberg: 200 Jahre Psychiatrie an der Universität Leipzig. Personen und Konzepte. Springer, Heidelberg 2005, ISBN 3-540-25075-1.
  • Dirk Blasius: Einfache Seelenstörung. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945. Fischer TB, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-11738-0.
  • Burkhart Brückner: Geschichte der Psychiatrie. (Reihe: Basiswissen), Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010, ISBN 978-3-88414-494-7.
  • Burkhart Brückner: Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Bd. 1: Vom Altertum bis zur Aufklärung. Pressler, Hürtgenwald 2007, ISBN 978-3-87646-099-4. Bd. 2: Das 19. Jahrhundert - Deutschland. Pressler, Hürtgenwald 2007, ISBN 978-3-87646-109-0.
  • Françoise Castel, Robert Castel, Anne Lovell: Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982.
  • Wolfgang U. Eckart: Geschichte der Medizin. 4. Auflage. Springer, Berlin 2001, ISBN 3-540-67405-5.
  • Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-434-46227-9.
  • Esther Fischer-Homberger: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose: Krankheiten und Zustandsbilder. Huber, Bern 1970.
  • Esther Fischer-Homberger: Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden. Huber, Bern 1975, ISBN 3-456-80123-8; Psychosozial, Giessen 2004, ISBN 3-89806-275-9.
  • Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-27639-5.
  • Frank Hall: Psychopharmaka – ihre Entwicklung und klinische Erprobung: zur Geschichte der deutschen Pharmakopsychiatrie von 1844-1952. Kovac, Hamburg 1997.
  • David Healy: The Antidepressant Era. 3. Auflage. Harvard University Press, 2000.
  • Werner Leibbrand und Annemarie Wettley: Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie. Verlag Karl Alber, Freiburg / München 1961 (Orbis academicus Band II/12), ISBN 3-495-44127-1.
  • Maren Lorenz: Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung. Hamburger Edition, Hamburg 1999, ISBN 3-930908-44-1.
  • Uwe Henrik Peters: Psychiatrie im Exil: Die Emigration der dynamischen Psychiatrie aus Deutschland 1933–1939. Kupka, Düsseldorf 1992, ISBN 3-926567-04-X.
  • Michaela Ralser: Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der Krankheit um 1900. Fink, München 2010, ISBN 978-3-7705-4980-1.
  • Peter Riedesser, Axel Verderber: Maschinengewehre hinter der Front. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. 2. Auflage. Mabuse-Verlag, 2004, ISBN 3-935964-52-8.
  • Heinz Schott, Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. Beck, München 2005.
  • Edward Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Rowohlt. Reinbek 2003, ISBN 3-499-55659-6.[5]

Siehe auch

Weblinks

Wikiversity Wikiversity: Zur Entwicklung der Psychiatrie. Eine Dokumentation. – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Austausch

Einzelnachweise

  1. Manfred Spitzer: Gehirnforschung
  2. Bangen, Hans: Geschichte der medikamentösen Therapie der Schizophrenie. Berlin 1992, ISBN 3-927408-82-4
  3. Michael von Cranach, Hans-Ludwig Siemen: Psychiatrie im Nationalsozialismus: die bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, Oldenbourg, München 1999, ISBN 3-486-56371-8.
  4. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. [1956] Erster Band: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. C.H. Beck, München 61983, ISBN 3-406-47644-9, Anmerkung des Autors auf der Rückseite des Einbands.
  5. vgl die „Stellungnahmen zum Buch «History of Psychiatry» von E. Shorter“ http://www.sanp.ch/pdf/2000/2000-03/2000-03-027.PDF

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