Moralische Behandlung

Moralische Behandlung

Moralische Behandlung oder engl. moral management bzw. moral treatment ist ein psychiatrisches Behandlungskonzept, das Ende des 18. Jahrhunderts hauptsächlich von England aus in Westeuropa verbreitet wurde und hier im beginnenden 19. Jahrhundert bestimmend war. In England gründete 1794 der Quäker William Tuke (1732-1822) in York ein privates "madhouse" - eine psychiatrische Einrichtung - nach heutigen Maßstäben, der er den programmatischen Namen "The Retreat" (Zurückgezogenheit, Zufluchtsort) gab. Diese dort geübte moralische Behandlungsform ist später weitgehend von der Haltung der Psychiker übernommen worden. Die Praxis der moralischen Behandlung vereinte jedoch anfänglich auch somatische Vorstellungen und Behandlungsverfahen, wie geregelte Mahlzeiten, ausreichende Erholung, genügend Schlaf und Medikamente. »Moralisch« bezieht sich auf lat. "mores" = Kultus, Sitte, Gewohnheit, Brauch, den Glauben an die Wirksamkeit von Erziehung, Erholung und menschlicher Güte. In den Begriffen „management“ und „treatment“ kommt der therapeutische Optimismus zum Ausdruck, der erst die Psychiatrie zu einer auf Erfahrungen gegründeten Wissenschaft werden ließ und im Gegensatz zu dem reinen Verwahr- und Ausgrenzungscharakter der früheren Anstalten steht.[1] [2] [3] [4]

Inhaltsverzeichnis

Ursprung und Ausbreitung

Als Einleitung des „moral management“ wird bisweilen die Gründung des St. Luke’s Hospital in London durch William Battie (1703-1776) angesehen. Die moralische Behandlung als eine den psychisch Kranken vergesellschaftende Bewegung wurde zunächst von den religiösen Überzeugungen der Quäkergemeinde in York getragen unter ihrem Gründer William Tuke (1732-1822). Der Enkel von William, Samuel Tuke (1784-1857), hat die Behandlungsform in einem 1813 erschienen Buch näher beschrieben.[5] Ihren Höhepunkt erreichte das „moral management“ unter John Conolly (1794-1866) und dem von ihm vertretenen Prinzip der Gewaltfreiheit bzw. dem Verzicht auf mechanischen Zwang (No restraint).[6] Geistesgeschichtlich wurzelt die moralische Behandlung jedoch auch in der schottischen Schule der Common-Sense-Philosophie. Diese empirische Haltung führt in der Folgezeit sowohl zu einer konsequenten Vermeidung von Zwang, wie sie die Somatiker vertraten, aber auch - besonders in Deutschland - zu der Bewegung der Psychiker, die eher erzieherische, nicht immer gewaltfreie Aspekte der Behandlung vertraten. Eine Psychotherapie gab es im heutigen Sinne noch nicht.

In Frankreich wurde das »traitement moral« bereits durch Philippe Pinel (1745-1826) durchgeführt, das er weitgehend von Jean-Baptiste Pussin übernommen zu haben scheint. Es handelte sich dabei jedoch um eine vom »moral management« weitgehend zu unterscheidende Behandlungsform, die mit der Moralischen Behandlung englischen Stils nur in gewisser Hinsicht zu vergleichen ist. Das »traitement moral« Pinels war mehr von administrativem Charakter, war weiter auf Zwangsbehandlung gegründet und behielt die Unterscheidung von Standesinteressen bei. Regulativ ist die ökonomische Nutzbarmachung der Kranken zur Arbeit. Der gesellschaftlich trennende Begriff der Armen Irren war daher weiterhin angebracht. Das System von John Conolly setzte sich erst 60 Jahre später durch. In Italien und Frankreich richtete sich der Einfluss Englands eher auf die Lehre von William Cullen (1710-1790), als dessen Schüler Pinel und Vincenzo Chiarugi (1759-1820) anzusehen sind.[2] Es gibt zudem Missverständnisse zwischen »traitement moral« und »moral treatment« wegen der unterschiedlichen Bedeutung von „Moral“ in der französischen und englischen Sprache. In Frankreich ist eher der subjektive, in England mehr der gemeinschaftliche Aspekt dieses Begriffs gemeint.

Außer in Westeuropa, wo die moralische Behandlung hauptsächlich verbreitet war, kam sie auch nach Deutschland, wo sie von Johann Christian Reil 1803 eingeführt wurde[7] und strahlte auch in die USA aus.[8] Die moralische Behandlung ist heute in der Sozialpsychiatrie und ihren vielfältigen Konzepten aufgegangen. Auch wenn etwa ab 1850 die somatische Behandlungsmethode weithin dominierte, so hat es doch immer wieder neue praktische Ansätze zur Erneuerung des psychiatrischen Alltags im Anstaltswesen gegeben.[1]

Geistes- und kulturgeschichtliche Grundlagen

Die moralische Behandlung war ursprünglich bestimmt durch die religiösen Überzeugungen der Quäkergemeinde und durch die Annahme des heilsamen Einflusses der Gemeinschaft (sensus communis). Die religiöse Grundhaltung ist bei vielen Vertretern des „moral management“ zu spüren und lässt sich in Beziehung setzen zu der Empfindsamkeit in anderen Ländern nach den dort jeweils abgelaufenen Religionskriegen, vgl. a. Pietismus. Sie ist jedoch auch ein Kind der Aufklärung und als solche philanthropische Haltung indirekt auch von den eher säkularen »moral sciences« getragen, wie sie anfänglich von John Locke (1632-1704) und Bernard Mandeville (1670-1733) dargestellt und später durch John Stuart Mill (1806-1843) ergänzt wurde.[9] Locke und Mandeville waren beide Ärzte und befassten sich daher auch mit psychischen Auffälligkeiten. Es waren hierbei auch frühe naturwissenschaftliche Modelle von Bedeutung, wie sie zu dieser Zeit etwa von Thomas Willis (1621-1675) und seiner Lehre von den »spiritus animales« (1667), Robert Whytt (1714-1766) und William Cullen (1710-1790) zur Verfügung standen. Philosophische Aspekte standen hier neben beginnenden naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Überlegungen sehr im Vordergrund. Teilweise ging man auch zurück zu den Regeln für den Umgang mit psychisch Kranken, wie sie erstmals durch den römischen enzyklopädischen Autor Aulus Cornelius Celsus im 1. Jahrhundert nach Christus formuliert wurden.

Die Grundhaltung der Aufklärung gegenüber psychisch Leidenden kommt im 5. Buch des Aufklärungsromans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von Johann Wolfgang von Goethe zum Ausdruck.

Außer dem Physischen“, sagte der Geistliche, „… finde ich die Mittel, vom Wahnsinn zu heilen, sehr einfach. Es sind ebendieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem gewöhnlichen sind; so wird sich kein Wahnsinn einschleichen, und wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden. Ich habe des alten Mannes Stunden eingeteilt, er unterrichtet einige Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten arbeiten und ist schon viel heiterer. Er wünscht von dem Kohle zu genießen, den er pflanzt, und wünscht meinen Sohn, dem er die Harfe auf den Todesfall geschenkt hat, recht emsig zu unterrichten, damit sie der Knabe ja auch brauchen könne. Als Geistlicher suche ich ihm über seine wunderbaren Skrupel nur wenig zu sagen, aber ein tätiges Leben führt so viele Ereignisse herbei, daß er bald fühlen muß, daß jede Art von Zweifel nur durch Wirksamkeit gehoben werden kann. Ich gehe sachte zu Werke; wenn ich ihm aber noch seinen Bart und seine Kutte wegnehmen kann, so habe ich viel gewonnen: denn es bringt uns nichts näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor andern auszeichnen, und nichts erhält so sehr den gemeinen Verstand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben. Wie vieles ist leider nicht in unserer Erziehung und in unsern bürgerlichen Einrichtungen, wodurch wir uns und unsere Kinder zur Tollheit vorbereiten.[10]

Methoden

Als therapeutische Maßnahmen wurden durchgeführt: freundliche individuelle Pflege, Beschäftigungstherapie, religiöse Übungen, Vergnügungen, Spiele, Musizieren, körperliche Übungen, Studien, Erholung, Garten- und Landarbeit unter Verzicht auf physikalische Zwangsmittel und physische Gewalt.[4]

Einzelnachweise

  1. a b Finzen, Asmus: Das Pinelsche Pendel. Die Dimension des Sozialen im Zeitalter der biologischen Psychiatrie. Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag, Bonn 1 1998, ISBN 3-88414-287-9; (a) Die Anfänge: Seite 10 ff.; (b) Ständige Erneuerungen?: Seite 35
  2. a b Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. [1969] Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (a)  zu Stw.„moral management“: Seiten 57, 92-94, 112, 249 (b)   zu Stw.„traitement moral und Moralische Behandlung“ Seiten 64, 159 f.
  3. Shorter, Edward A historical Dictionary of Psychiatry. Oxford University Press, New York, 12005, ISBN 0-19-517668-5, Seite 53, 180-181, 221; fernladbarer Text
  4. a b Peters, Uwe Henrik: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. Urban & Fischer, München 62007; ISBN 978-3-437-15061-6; Seite 658 (online)
  5. Tuke, Samuel: Description of the Retreat, an Institution near York, for Insane Persons of the Society of Friends. York 1813
  6. Conolly, John: Treatment of the insane without mechanical restraint. 11839, 21856, Reprint 1973, dt. 1860
  7. Reil, Johann Christian: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, Seiten 26 und 49 f.
  8. Bockhoven, G.S.: Moral Treatment in American Psychiatry. New York, Springer-Verlag 1963
  9. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Gesammelte Werke, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1990, Band II, ISBN 3-16-146043-X; Kap. 23. Probleme der praktischen Vernunft. Zu Stw. „Gegenüberstellung des modernen Begriffs der ‚moral sciences‘ (John Stuart Mill) und der antiken Überlieferung von der menschlichen ‚Praxis‘ einschließlich der Politik seit der Antike (Aristoteles)“: insbes. Seite 320 Abs. 2, Seite 324 und Seite 327 Abs. 2
  10. Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Berlin: bei J. F. Unger (1795-1796) 5. Buch, 16. Kap. Reclam-Ausgabe Seite 361; Artemis-Gedenkausgabe Seite 310 f.; Insel-Jubiläumsausgabe 4. Band, Seite 400 f. online

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