Schulstrukturreform in Berlin

Schulstrukturreform in Berlin

In Berlin gibt es ein fünfgliedriges Schulsystem, dass aus Grundschulen, Sekundarschulen, Gymnasien, Sonderschulen und Privat-/Freien Schulen besteht.

Maßgeblich für die gegenwärtige Bildungslandschaft in Berlin, insbesondere die Organisation der Sekundarstufe I und II, ist die im Jahre 2010 eingeführte Schulstrukturreform (SSR).

Inhaltsverzeichnis

Ziele der Reform

Zum Ziel der Berliner Schulstrukturreform und zu deren Intention sagten die Verantwortlichen:

„Alle Schülerinnen und Schüler sollen den ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden bestmöglichen Schulabschluss erreichen – unabhängig von ihren familiären und sozialen Voraussetzungen. [das bedeutet] Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft und vom Migrationshintergrund deutlich verringern.“

Berliner Senat, 2011 (Stichwort: Chancengleichheit)

Damit wird einleitend begründet, warum es ab dem Schuljahr 2010/11 nur noch zwei weiterführende Schularten in Berlin geben sollte.[A 1] Darüber hinaus wird angeführt, dass das große Ziel eine „angestrebte Verbesserung der Qualität der Berliner Schule.“[E 1] sei und dies mit der sinkenden Akzeptanz wie von Hauptschule in der Bevölkerung (Stichwort: Rütli) nicht mehr gewährleistet werden kann. Es wird von einem schlechten Lern- und Entwicklungsniveau gesprochen und dass „gute Bildungschancen für alle nur erreicht werden, wenn jeder Einzelne in der Schule individuell gefördert wird.“[E 1] Die Entwickler der SSR möchten weg von der Differenzierung im Schulsystem hin zur Differenzierung innerhalb des Unterrichts. Im Zuge der damit erhofften Qualitätsverbesserung soll vor allem eines erreicht werden, mehr Schüler zu mittleren und höheren Schulabschlüssen zu führen und Verzögerungen durch Klassenwiederholungen reduzieren. Aus diesem Grund wurde das Konzept der Sekundarschule – „eine Schule für alle“ (+Gymnasium) entwickelt.

Deren pädagogischen Ziele sind zusammengefasst:

  • individuelle und bestmögliche Förderung jedes Einzelnen,
  • Praxis- und berufsbezogenes Lernen,
  • verstärkte Kooperation mit der Jugendhilfe,
  • integrative Förderung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf[E 2]

Die Pilotphase der Gemeinschaftsschule wird nebenher weitergeführt und wissenschaftlich begleitet. Mit dem erwartet erfolgreichen Abschluss der Pilotphase im Jahr 2013 soll sie dann zu einer besonderen Form der Sekundarschule werden.

Konzeption der Reform

Nach Vollendung der Schulstrukturreform wird es in Berlin (neben den hiervon ausgenommenen Sonder- und Privatschulen) nur noch die Sekundarschule und das Gymnasium geben. An Letzteren gibt es keine wesentlichen Änderungen, bis auf eine geringfügige Ausweitung des Ganztagsangebotes (mindestens eine Schule pro Bezirk). Das Abitur kann hier weiterhin nach 12 Jahren (in Ausnahmefällen auch nach 11) absolviert werden. Das Probehalbjahr in Klasse 7 wird auf ein Jahr verlängert. Auch haben Eltern zwar das Wahlrecht, nicht aber den Anspruch auf Aufnahme ihres Kindes an das gewünschte Gymnasium. Entscheidend (wenn mehr Bewerber als Plätze) sind Härtefälle und Leistungen der Schüler. 30 % der Plätze müssen aber per Losverfahren vergeben werden.

Der Schwerpunkt der Reform liegt in den Sekundarschulen – hier wurden Hauptschule, Realschule und Gesamtschule zu einer Schulform zusammengefasst. Praktisch heißt dies, dass alle Schulen natürlich physisch erhalten bleiben (bis auf die Zusammenlegung einzelner Schulen), aber ab dem Schuljahr 2009/10 eine gleichgeschaltete Konzeption haben, und zwar eine, die auf den Erfahrungen der integrierten Gesamtschule aufbaut.[E 1] Das bedeutet es geschieht eine Leistungsbinnendifferenzierung je nach individuellen Fähigkeiten der Schüler. Dabei haben die Schulen – je nach ihren persönlichen Profilen – die Freiheit, diese Leistungsdifferenzierung durch verschiedene Kurse (nach Leistungsniveaus) oder durch Lerngruppen innerhalb der Klassenverbände umzusetzen. In jedem Fall soll eine individuelle Förderung und eigene Schwerpunktsetzung gewährleistet werden.

Die Klassengrößen werden von durchschnittlich 29 auf 26 reduziert.

Die Sekundarschule hat zwei Unterrichtsstunden weniger in der Woche als das Gymnasium, aber bis zum Abitur wiederum insgesamt mehr, da die Sekundarstufe II hier, im Gegensatz zum Gymnasium auf 13 Jahre ausgelegt ist. Beide Schularten bleiben aber betont gleichwertig – das bedeutet es gelten gleiche Bildungsstandards und alle Schulabschlüsse müssen erreichbar sein. Besonderer Fokus wird darüber hinaus noch auf das Konzept des „dualen Lernens“ in Klassen 9 und 10 gelegt – hier sollen die Schüler durch Praktika in Betrieben, Hilfe bei der Berufsorientierung und zahlreichen praktischen Kooperationen und Vernetzungen auf die spätere Berufsausbildung vorbereitet werden. Wohl der signifikanteste Unterschied zum Gymnasium: die größere Anwendungsorientierung.

Den Übergang zu einer gymnasialen Oberstufe (Sekundarstufe II) müssen alle Schulen gewährleisten – entweder in dem sie sie selbst anbieten oder Kooperationen mit Oberstufenzentren eingehen. Besonderer Wert wird auf den (kostenlosen) Ganztagsbetrieb, das bedeutet pädagogische Betreuung/Angebote bis 16 Uhr (107 von 115 Schulen) [E 1] gelegt. Dabei wird zum großen Teil mit außerschulischen Partnern zusammengearbeitet (insbesondere Sportvereine und Träger der Jugendarbeit). Die Kooperation/ Zusammenarbeit und Vernetzung insbesondere mit der Jugendhilfe, und –sozialarbeit soll ausgebaut werden. Am Rande wird auch von einer Qualifizierung der Lehrer im Zuge der Qualitätssicherung in der pädagogischen Umsetzung der Reform gesprochen.

Das Konzept „eine Schule für alle“ wird sukzessive eingeführt und betrifft alle neuen Klassen ab dem 1. August 2010 – das bedeutet zu dem jetzigen Zeitpunkt (Februar 2011) die Jahrgangsstufe 7. Den Titel „Sekundarschule“ tragen aber bereits alle Schulen, auch wenn die Klassen 8 bis 10 noch nach ihren alten Konzeptionen (aus)laufen.

Bewertung und Kritik an der Reform

Die SPD, mit der Unterstützung der Partei Die Linke, bringt mit Durchsetzung der Schulstrukturreform nach wie vor ihre Hauptziele an die argumentative Front: Bessere individuelle Förderung, überschaubare Strukturen, längeres gemeinsames Lernen, bessere Ausstattung der Schulen, Ausbau des Ganztagsangebotes und vor allem Chancengleichheit – unabhängig von der Herkunft und sozialem Umfeld. Dabei gehen beide Parteien nur sehr rudimentär auf die zahlreichen kritischen Stimmen ein, die die Euphorie des Senats zu Einführung nicht teilen. Selbst bei den Jungsozialisten Berlin (Jusos) wird klagend auf das jetzt scheinbar vergessene „Kind“ der SPD – die Gemeinschaftsschule – aufmerksam gemacht: „Der Weg zur flächendeckenden Gemeinschaftsschule [ist] vorerst beendet, ihre Perspektive unklar“[E 3]. Nur mit eben dieser Schulform, so die Jusos, könnte man negative und positive Diskriminierung und Selektion ausschließen, zumal das Projekt Gemeinschaftsschule zum mittelfristigen Ziel der SPD gehört (bzw. gehörte). Es müsse bald angepackt werden, da sonst die Chance auf Einführung zunehmend schwinde. Solange es noch Gymnasien, Privat- und Sonderschulen gäbe, ist man, aus Sicht der Jungsozialisten, weit von dem Ziel „eine[r] Schule für alle“ entfernt, genau genommen sogar in entgegengesetzter Position. Die Polarisierung würde dadurch, dass es nur noch zwei Schulformen gibt, stärker zunehmen, die Sekundarschule zur „Resteschule“[E 3] verkommen. Auch argumentieren die Jusos gegen die Beliebigkeit des Losverfahrens und damit der ihr innewohnenden Gefährdung der Profilbildung von Schulen. Insgesamt sei die Berliner Schulstrukturreform unsozial.

Als Oppositionsparteien[A 2] in Berlin positionieren sich CDU und FDP gegen die Reform: Sie sei „unausgereift“, und es gebe kein wirkliches Personalkonzept (Qualifizierung), welches die Umsetzung der pädagogischen Konzepte sichern könnte. „Statt individueller Förderung werden Schüler ideenlos nebeneinandergesetzt“[E 4]. Besonders scharf wird vor allem von der FDP die den Schulen aufgezwungenen Aufnahmekriterien für die Gymnasien kritisiert – die besonderen Profile vieler Schulen würde dem zum Opfer fallen.[E 5] Zudem sollte der Zugang zum Gymnasium leistungsabhängig bleiben. Damit bedienen die Parteien erwartungsgemäß ihre konservative Haltung bzgl. der Beibehaltung des selektiven Schulsystems. Der traditionell oppositionelle Gegenwind fällt in Berlin hierzu dennoch überraschend gering aus.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) geht mit der Berliner Schulstrukturreform hart ins Gericht: Das klare Ziel müsse die Gemeinschaftsschule sein – kein hierarchisch gegliedertes Schulsystem. Und da reicht es nicht die Problemschulen abzuschaffen (insbesondere die Hauptschule), denn „die soziale Selektion besteht auch in einem zweigliedrigen Schulsystem weiter“[E 6]. Vielmehr müsse die Lernform an sich umgestellt werden – hin zu Lernen mit individueller Förderung in heterogenen Gruppen – und dies ist nach Ansicht der GEW Berlin nur in Gemeinschaftsschulen möglich. Die Schulstrukturreform in der jetzt durchgesetzten Form fuße demnach auf keiner wirklichen pädagogischen Begründung, sondern auf „ausschließlich kurzfristige taktisch-politisch Erwägungen“[E 6].

Der Interessenverband Berliner Schulleiter stimmt der Reform grundsätzlich zu, hat aber dennoch deutliche Kritik- und Nachbesserungspunkte: So sieht der Verband die propagierte Gleichheit der beiden Schulformen durch die unterschiedliche Stundenanzahl und dem Probejahr auf dem Gymnasium als problematisch. Auch fordert der Verband für die Schulen mehr Autonomie in Personalfragen und eine bessere Qualitätsentwicklung, um dem erwarteten pädagogischen Mehraufwand begegnen zu können.[E 7]

Der Grundschulverband bemerkt als einer von wenigen, dass neben dem zweigliedrigen Schulsystem auch weiterhin die Sonderschulen unangetastet bleiben, was als problematisch angesehen wird. Die UN-Behindertenrechtskonvention müsse endlich Berücksichtigung finden. Darüber hinaus sieht der Verband die Reform aber als enorme Entlastung der Grundschulen an, da „keine auf den Abschluss bezogene Selektion mehr erfolgt“[E 8] und damit auch nicht verfrüht entschieden werden müsse, ob das Kind zum Beispiel für den Weg zum Abitur geeignet sei. Es wird von Weichen in die richtige Richtung gesprochen, aber auch angemerkt, dass die separierenden Auswirkungen des gegliederten Schulsystems nur abgemildert werden. Schließlich sei das Gymnasium noch immer die dominante und die Sekundarschule die nachgeordnete Schulform. Am schärfsten wird vom Grundschulverband das Gymnasium kritisiert, insbesondere die Aussonderungsmacht durch das Probejahr und das Sonderrecht einiger »grundständiger Gymnasien« bereits 5. und 6. Klassen zu führen und noch früher selektieren zu dürfen. Das klare Ziel ist aber auch für den Grundschulverband die Gemeinschaftsschule – die Schulstrukturreform könne allenfalls ein Zwischenschritt auf den Weg dorthin sein.

Die Industrie- und Handelskammer (IHK), also die Wirtschaftsvertreter Berlins, spricht von „richtigen bildungspolitischen Weichen“ [E 9], doch folgt hier kein „Aber“. Ganz im Gegenteil: Aus der Sicht der Arbeitgeber und Ausbildungsträger ist die Berliner Schulstrukturreform sehr zu begrüßen, so der IHK. Diese Stellung ist insbesondere mit der Hoffnung verbunden, nach der Reform weniger Schulabbrecher zu verzeichnen, da die Startchancen nun ganz andere seien. Besonders hervorgehoben wird von der IHK das Konzept des „dualen Lernens“, dass ihrer Ansicht nach eine deutlich qualifizierendere Berufsorientierung darstellt und dieses Modell sogar für ganz Deutschland wegweisend sein könnte. 38 Die Berliner Wirtschaft hat den Senat daher nicht nur die Unterstützung zugesichert, sondern sich auch als Partner etabliert.

Der eher als konservativ zu bewertende Bund Freiheit der Wissenschaft, der sich insbesondere der Leistungsfähigkeit der Schulen und Hochschulen thematisch verschrieben hat, begründet seine negative Kritik an der Berliner Schulstrukturreform aus einer ganz anderen, ihrer Ausrichtung entsprechenden Perspektive: Nach dessen Ansicht sei dies alles nur „ideologisch begründete Gleichmacherei und Reformstückwerk“ [E 10]. Er drängt auf eine deutlich leistungsorientierte Schule mit stärker selektierender Funktion bereits in der 4. Klasse. Vor allem der Vorschlag einer speziellen Form des Gymnasium „mit besonderer pädagogischer Prägung“ und der dabei größere Fokus auf „Migrantenkinder“, haben zu heftigen medialen Protesten geführt.

Das offizielle Organ der eigentlichen Zielgruppe: dem LandesschülerInnenausschuss Berlin (LSA) steht der Schulstrukturreform eher positiv gegenüber – unter der Maßgabe, dass dies nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule sei, und dass ein besonderes Augenmerk auf die Qualifikation der Lehrkräfte, sowie auf eine Vergrößerung ihrer Präsenz in den Schulen (beispielsweise 2 Lehrer pro Klasse) zu legen sei. Das verkürzte Abitur in 12 Jahren hält der LSA für völlig verfehlt und stimmt damit in den argumentativen Reigen des Bildungsstreikes der Jahre 2009 und 2010 ein.[E 11]

Nach eigener Aussage gab es keine signifikanten Veränderungen in den Anmeldezahlen[E 1] – wodurch sich zumindest vorerst das Argument entkräften lässt, die Sekundarschule würde zur Restschule verkommen und die Gymnasien überrannt.

Siehe auch

Literatur

  • Berliner Senat (Hrsg.): Die Schulreform – „Eine Schule für uns“ Februar 2010

Einzelnachweise

  1. a b c d e Berliner Senat: Schulstrukturreform. (online, abgerufen am 23. Dezember 2010).
  2. Bildungsfahrplan Berliner Schule. 2010, S. 2.
  3. a b Jusos Berlin: Stellungnahme zur SSR. vom 12. Juni 2009 (online, abgerufen am 7. Januar 2011).
  4. CDU Kreisverband Berlin Mitte: Stellungnahme zu Berliner Schulstrukturreform vom 13. Januar 2010 (online, abgerufen am 7. Januar 2011).
  5. FDP Berlin: Stellungnahme zu Berliner Schulstrukturreform. (online, abgerufen am 7. Januar 2011).
  6. a b GEW Berlin: Vorläufige Stellungnahme der GEW BERLIN zum Gesetzentwurf. vom 24. Juni 2009 (online, abgerufen am 7. Januar 2011).
  7. Interessenverband Berliner Schulleiter: Berliner Schulleiter kritisieren Schulstrukturreform. vom 18. Januar 2010 (online, abgerufen am 7. Januar 2011
  8. Grundschulverband: Stellungnahme zur Berliner Schulstrukturreform. Frankfurt/M, 15.Januar 2010 (PDF-Datei, abgerufen am 7. Januar 2011.
  9. IHK Berlin: Stellungnahme zur Berliner Schulstrukturreform. vom 14. Januar 2010 (online).
  10. Bund Freiheit der Wissenschaft: Stellungnahme zur Berliner Schulstrukturreform. I/2009, S. 6 (PDF-Datei, abgerufen am 23. Dezember 2010).
  11. LandesschülerInnenausschuss: Der LSA Berlin unterstützt den bundesweiten Bildungsstreik. 26. Januar 2010 (online, abgerufen am 7. Januar 2011).

Anmerkungen

  1. Die Förder-/Sonderschulen werden in den Erläuterungen ausgeklammert.
  2. Die Grünen enthielten sich bei der Abstimmung.

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