Édouard Glissant

Édouard Glissant

Édouard Glissant (* 21. September 1928 in Bezaudin, Martinique; † 3. Februar 2011 in Paris) war ein französischer Schriftsteller, Dichter und Philosoph. Er gilt als der bedeutendste Autor der französischsprachigen Karibik und als intellektueller Vordenker zu Fragen postkolonialer Identität und Kulturtheorie.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Glissant wurde in einem Dorf im Nordosten von Martinique als Sohn eines Plantagenverwalters geboren. Seine Kindheit verbrachte er überwiegend in Lamentin. In der Hauptstadt Fort-de-France besuchte er das Lycée Schoelcher. Mit einem Stipendium der französischen Regierung kam er 1946 nach Paris, um an der Sorbonne und am Musée de l’Homme Philosophie, Ethnologie und Literatur zu studieren. Anfang der 1950er Jahre erschienen erstmals Gedichte von Édouard Glissant in der Anthologie de la Poésie Nouvelle. Als Sprecher des ersten Kongresses Schwarzer Schriftsteller und Künstler in Paris 1956 und des zweiten 1959 in Rom stand Glissant im Zentrum intellektueller Diskussionen dieser Jahre. Glissant schrieb für das Journal Présence africaine und wurde in den Redaktionsbeirat der Zeitschrift Les Lettres nouvelles aufgenommen. 1958 erhielt er den Prix Renaudot für seinen ersten Roman La Lézarde (dt.: Die Sturzflut). Bald schon schloss er sich künstlerisch-literarischen Zirkeln an und engagierte sich in antikolonialistischen Bewegungen. Er veröffentlichte Gedichte, Romane, Essays und Stücke. 1965 kehrte Glissant in seine Heimat zurück und gründete das Institut d’Études Martiniquaises als Kultur- und Forschungszentrum. Von 1980 bis 1988 arbeitete Glissant als Chefredakteur des UNESCO-Kuriers. Von 1995 bis 2007 war er Professor am Graduiertenzentrum der City University New York. Er lebte abwechselnd auf Martinique und in Paris; dort starb er am 3. Februar 2011.

Glissants Begriffe

Der Großteil der Bevölkerung der dicht besiedelten Karibik besteht aus Nachfahren von Sklaven aus Afrika. Als Lyriker und Romancier forschte Glissant nach den Wurzeln und Spuren dieser Sklaven, belebte alte Mythen und Sagen neu. Als Kulturpolitiker hat sich Glissant vor allem mit kultureller Identität außerhalb des europäischen Zusammenhangs beschäftigt. Sein Einfluss auf die Literatur der „Dritten Welt“ basiert nicht zuletzt auf der Tatsache, dass er mit Zersplitterte Welten eine Ästhetik der Kulturenvielfalt begründet hat.

„Édouard Glissant entwickelt seine Ideen ausgehend von der Landschaft, dies im Auge zu behalten, erleichtert vielleicht das Verständnis. Martinique ist der Mikrokosmos, in dem er, anfangs noch unter dem Eindruck der Kolonialherrschaft, seine Theorie der Beziehung entwickelte. Vorbild war die Beziehung zwischen dem Herrn und dem Sklaven, die im System der Sklaverei untrennbar miteinander verbunden waren, was auch später zwischen Kolonialherrn und Kolonisiertem fortwirkte.“ Beate Thill, Glissants Begriffe und ihre Definitionen in Französisch und Deutsch, in Kultur und Identität, Verlag Das Wunderhorn, 2005.

In den frühen 1960er Jahren gründete Glissant die Bewegung „Antillität“ (frz. Antillanité) für eine kulturelle und politische Einheit der Karibik. Unter dem Eindruck blutiger Streiks in Martinique rief der mittlerweile bekannte Schriftsteller gemeinsam mit Paul Niger die Front Antillo-Guyanais mit dem Ziel der politischen Unabhängigkeit des Karibik-Départements ins Leben. Diese wurde wenig später von der französischen Regierung De Gaulle verboten und Glissant als ihr Initiator für mehrere Jahre aus Martinique und Guadeloupe verbannt.

Die Formulierung der Begriffe von „Kreolisierung“ (frz. créolisation) und „All-Welt“ (frz. Tout-Monde) machen diesen Autor zum antillanischen Vordenker der heutigen Multikulturalismusdebatte. Aus der Analyse der Kreolisation gewinnt Glissant ein gesellschaftliches Modell von universaler Bedeutung. „Wenn Sie eine afrikanische Rythmik nehmen und westliche Instrumente, Saxophon, Geige, Klavier, Posaune, dann haben Sie den Jazz. Das nenne ich Kreolisierung. Ich bin sicher, dass die Asiaten und die Hispanos, die Weißen und Schwarzen in den Städten Kaliforniens einmal etwas Neues hervorbringen, das genau so wunderbar sein wird wie der Jazz.“ „Keine Kultur ist heute isoliert von den anderen. Es gibt keine reinen Kulturen, das wäre lächerlich. Die Spur des Lebens wird nicht durch das Identische gelegt, sondern durch das Verschiedene. Das Gleiche produziert: nichts. Das beginnt schon mit der Genetik. Zwei gleiche Zellen können nichts Neues produzieren. Und in der Kultur ist das auch so.“ Süddeutsche Zeitung, 2007.

Was Glissant die „Poetik der Beziehung“ (Poétique de la Relation) nennt, steht für eine menschliche Identität, die sich über die Vielfalt der Beziehungen definiert und nicht über ethnische, die Abstammung.

Interessant ist in diesem Zusammenhang seine Unterscheidung zwischen „Globalisierung“ (frz. mondialisation) und „Globalität“ (frz. mondialité) : „Was Globalisierung genannt wird, ist die Angleichung auf niedrigstem Niveau, die Herrschaft der multinationalen Konzerne, die Standardisierung und der ungeregelte Liberalismus auf den Märkten der Welt. Doch für mich stellt sie nur die Kehrseite einer wunderbaren Realität dar, die ich Globalität nenne.“ Martin Zähringer, LiteraturNachrichten, 2010.

Pressespiegel

„Wer Glissants Romane gelesen hat, weiß, dass sie keine lineare und damit wiedererzählbare Geschichte haben. Sie erzeugen vielmehr die Empfindung, selbst Teil dieser ganz anderen Wahrnehmungsweise zu sein, einem gänzlich andern Zeit- und Raumgefühl zu unterliegen.“ Angelika Burkhard, LiteraturNachrichten, 1998

„Nur wenige Schriftsteller gibt es, die sich die Kultur der Vermutung so zu eigen gemacht haben wie Édouard Glissant, die so bescheiden sind in ihren Ansprüchen und so anspruchsvoll in ihren Mitteln, so lyrisch in der Vermutung und so abstrakt in der Beobachtung.“ TAZ

„Glissant spielt hier auf der Höhe seiner kulturpoetischen Kunst mit den wechselseitigen Ansprüchen, Klischees und Vorstellungen, wie sie jeden Kulturaustausch begleiten. Aber bei aller Ironie und Opazität findet sich in diesem Forschungsbericht (Das magnetische Land, Die Irrfahrt der Osterinsel Rapa Nui) auch Glissants ganzes philosophisches Wissen.“ Martin Zähringer, Der Philosoph auf der Insel, Neue Zürcher Zeitung, 2010.

Literatur auf französisch

Essays

  • Soleil de la conscience.(Poétique I) (1956) Nouvelle édition, Paris, Gallimard,
  • Le Discours antillais. (1981) Paris, Gallimard, 1997.
  • Poétique de la Relation. (Poétique III) Paris, Gallimard, 1990.
  • Discours de Glendon. Suivi d'une bibliographie des écrits d'Edouard Glissant établie par Alain Baudot. Toronto, Ed. du GREF, 1990.
  • Introduction à une poétique du divers. (1995) Paris, Gallimard, 1996.
  • Faulkner, Mississippi. Paris, Stock, 1996; Paris, Gallimard (folio), 1998.
  • Traité du Tout-Monde. (Poétique IV) Paris, Gallimard, 1997.
  • La Cohée du Lamentin. (Poétique V) Paris, Gallimard, 2005.
  • Une nouvelle région du monde. (Esthétique I) Paris, Gallimard, 2006.
  • Mémoires des esclavages(avec un avant-propos de Dominique de Villepin). Paris, Gallimard, 2007.
  • Quand les murs tombent. L'identité nationale hors-la-loi ? (avec Patrick Chamoiseau) Paris, Galaade, 2007.
  • La terre magnétique : les errances de Rapa Nui, l'île de Pâques (avec Sylvie Séma). Paris, Seuil, 2007.
  • Les entretiens de baton rouge, avec Alexandre Leupin, Gallimard, Paris, 2008.
  • Manifeste pour les « produits » de haute nécessité, Martinique-Guadeloupe-Guyane-Réunion, signataires : Ernest Breleur, Patrick Chamoiseau, Serge Domi, Gérard Delver, Édouard Glissant, Guillaume Pigeard de Gurbert, Olivier Portecop, Olivier Pulvar, Jean-Claude William. Éditions Galaade, en coédition avec l’Institut du Tout-Monde, Paris, 2009.
  • L'intraitable beauté du monde. Adresse à Barack Obama (avec Patrick Chamoiseau). Paris, Galaade, 2009.
  • Philosophie de la relation, Poésie en étendue, Paris, Gallimard, 2009.
  • 10 Mai. Mémoires de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions, Éditions Galaade, Paris, 2010.

Gedichte

  • La Terre inquiète. Lithographies de Wilfredo Lam. Paris, Éditions du Dragon, 1955.
  • Le Sel Noir. Paris, Seuil, 1960.
  • Les Indes, Un Champ d'îles, La Terre inquiète. Paris, Seuil, 1965.
  • L'Intention poétique. (1969) (Poétique II) Nouvelle édition, Paris, Gallimard, 1997.
  • Boises; histoire naturelle d'une aridité. Fort-de-France, Acoma, 1979.
  • Le Sel noir; Le Sang rivé; Boises. Paris, Poésie Gallimard, 1983.
  • Pays rêvé, pays réel. Paris, Seuil, 1985.
  • Fastes. Toronto, Ed. du GREF, 1991.
  • Poèmes complets. (Le Sang rivé; Un Champ d'îles; La Terre inquiète; Les Indes; Le Sel noir; Boises; Pays rêvé, pays réel; Fastes; Les Grands chaos). Paris, Gallimard, 1994.
  • Le Monde incréé: Conte de ce que fut la Tragédie d'Askia; Parabole d'un Moulin de Martinique; La FoliCélat., Paris, Gallimard, 2000.
  • La Terre le feu l’eau et les vents : une anthologie de la poésie du Tout-monde, Paris, Galaade, 2010.

Prosa

  • La Lézarde (1958) Nouvelle édition, Paris, Gallimard, 1997; Port-au-Prince, Presses Nationales d'Haïti, 2007.
  • Le Quatrième Siècle. (1964) Paris, Gallimard, 1997.
  • Malemort. (1975). Nouvelle édition, Paris, Gallimard, 1997.
  • La Case du commandeur. (1981) Nouvelle édition, Paris, Gallimard, 1997.
  • Mahagony. (1987) Nouvelle édition, Paris, Gallimard, 1997.
  • Tout-Monde. Paris, Gallimard, 1995.
  • Sartorius: le roman des Batoutos. Paris, Gallimard, 1999.
  • Ormerod. Paris, Gallimard, 2003.

Theater

  • Monsieur Toussaint. (1961) Nouvelle édition, Paris, Gallimard, 1998.

Literatur in deutscher Übersetzung

Essays

  • Das magnetische Land, Die Irrfahrt der Osterinsel Rapa Nui. Aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-88423-342-9.
  • Kultur und Identität, Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2005, ISBN 3-88423-242-8.
  • Traktat über die Welt. Aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1999, ISBN 3-88423-154-5.
  • Faulkner Mississippi. Aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1997, ISBN 3-88423-124-3.
  • Zersplitterte Welten, Der Diskurs der Antillen. Aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1986, ISBN 3-88423-041-7.

Gedichte

  • Schwarzes Salz. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002, ISBN 3-88423-193-6.

Prosa

  • Die Entdecker der Nacht. Aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1991, ISBN 3-88423-070-0.
  • Mahagony. Aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1989, ISBN 3-88423-057-3.
  • Die Hütte des Aufsehers. Aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1983, ISBN 3-88423-030-1.
  • Sturzflut – Das Lied von Martinique. München 1959.

Quellen

  • Beate Thill: Glissants Begriffe und ihre Definitionen in Französisch und Deutsch. In: Kultur und Identität. Verlag Das Wunderhorn, 2005.
  • Martin Zähringer: LiteraturNachrichten. 2010.
  • Werner Bloch: Das archipelische Denken. In: Süddeutsche Zeitung. 22. Oktober 2007.

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Édouard Glissant — Activités Écrivain, poète, essayiste Naissance 21 septembre 1928 Sainte Marie, Martinique Décès 3 février 2011 Paris Langue d écriture …   Wikipédia en Français

  • Édouard Glissant — Edouard Glissant (born in Sainte Marie, Martinique in 1928) is a French writer, poet and literary critic. He is widely recognised as being one of the most influential figures in Caribbean thought and cultural commentary.Glissant left Martinique… …   Wikipedia

  • Edouard Glissant — Édouard Glissant Édouard Glissant, né le 21 septembre 1928 à Sainte Marie, est un écrivain, poète et essayiste martiniquais. Sommaire 1 Biographie 2 Références 3 Publications …   Wikipédia en Français

  • Édouard Glissant — (Sainte Marie, Martinica, 21 de septiembre de 1928 – París, 3 de febrero de 2011[1] )[2] fue un poeta, narrador y ensayista antillano de nacionalidad francesa. Contenido 1 Biografía …   Wikipedia Español

  • GLISSANT (É.) — GLISSANT ÉDOUARD (1928 ) Malgré le prix Renaudot attribué à La Lézarde en 1958, l’œuvre d’Édouard Glissant a longtemps été plus célèbre que vraiment lue. Attaquée sans ménagements par les adversaires de ses prises de position politiques, refusée… …   Encyclopédie Universelle

  • glissant — glissant, ante [ glisɑ̃, ɑ̃t ] adj. • v. 1370; de glisser 1 ♦ Où l on glisse facilement. Chaussée mouillée et glissante. « la cire glissante du parquet » (Flaubert). ♢ Fig. Qui comporte des dangers. ⇒ dangereux, risqué. Être sur une pente… …   Encyclopédie Universelle

  • Glissant —   [gli sã], Édouard, französischer Schriftsteller, * Sainte Marie (Martinique) 21. 9. 1928; bei der UNESCO in Paris beschäftigt; Vertreter der frankophonen Literatur der Karibik; Verfasser von Lyrik, Romanen, Essays und einem Bühnenstück… …   Universal-Lexikon

  • Glissant, Édouard — ▪ Martinican author born September 21, 1928, Le Lamentin, Martinique    black French speaking West Indian poet and novelist who belonged to the literary Africanism movement.       Glissant was a disciple and fellow countryman of the poet Aimé… …   Universalium

  • Le Blanc-Mesnil — Pour les articles homonymes, voir Blancmesnil et Le Blanc. 48° 56′ 00″ N 2° 27′ 00″ E …   Wikipédia en Français

  • Patrick Chamoiseau — (Strasbourg, juin 2009) Naissance 3 décembre 1953 …   Wikipédia en Français

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”