Jo Reichertz

Jo Reichertz
Jo Reichertz

Jo Reichertz (* 2. Dezember 1949 in Trier) ist ein deutscher Soziologe und Kommunikationswissenschaftler.

Inhaltsverzeichnis

Bildungsbiographie

Jo Reichertz legte 1970 die Allgemeine Hochschulreife in Trier ab. Er studierte von 1970 bis 1973 die Fächer Germanistik und Mathematik in Bonn. Von 1973 bis 1976 unterrichtete er an der Carl-Zeiss-Oberschule in Berlin Deutsch und Mathematik. Ab 1976 studierte Reichertz an der Universität Essen die Fächer Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Das Studium schloss er mit dem Magister Artium ab.

Reichertz war bis 1981 in der Kommunikationswissenschaft wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Essen, dann wechselte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die FernUniversität Hagen in das Fach Soziologie. Dort promovierte er 1986 über die Entwicklungsgeschichte der Objektiven Hermeneutik. Gutachter waren Hans-Georg Soeffner und Fritz Schütze. 1991 folgte die Habilitation in Allgemeiner Soziologie über Die Logik der Aufdeckung von Schwerverbrechen. Gutachter waren Hans-Georg Soeffner und Heinz Abels.

Lehr- und Berufstätigkeit

Jo Reichertz ist seit 1993 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen in Essen - zuständig für die Bereiche Strategische Kommunikation, Qualitative Methoden, Kommunikation in Institutionen und Neue Medien.

Er wurde bisher mehrfach auf Gastprofessuren an der Universität Wien berufen. Es folgten Gastprofessuren am Institute for Advanced Studies Wien und der Universität St. Gallen; zudem hatte er mehrere Lehraufträge an den Universitäten Hagen (Soziologie), Bochum (Kriminologie), Witten/Herdecke (Pflegeforschung) und Wien (Soziologie).

Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Strategische Kommunikation, Medienwirkungen, Werbung, Markenführung, Mediennutzung, qualitative Text- und Bildhermeneutik, Kultursoziologie, Religionssoziologie, Empirische Polizeiforschung.

Jo Reichertz gilt als einer der Hauptvertreter der hermeneutischen Wissenssoziologie.

Ergebnisse der Theoriearbeit

Jo Reichertz beschäftigt sich in seinen Forschungsarbeiten, wenn auch an unterschiedlichen Forschungsgegenständen (z.B. Unternehmenskommunikation, Nutzung performativer Fernsehshows, Abduktion, Polizeiarbeit, Glücksspiel, Werbung, interkulturelle Kommunikation), immer wieder mit folgenden Fragen, die er sowohl aus soziologischer als auch aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive angeht:

  • 1. Wie lässt sich neue Erkenntnis gewinnen?
  • 2. Welchen Sinn ergibt befremdliches Handeln?
  • 3. Wann kann (mediale) Kommunikation Macht entfalten?

Der ersten Frage geht Reichertz vor allem in seinen methodischen und methodologischen Schriften zur qualitativen Sozialforschung nach. Seit 1979 beteiligt er sich an der Diskussion um die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen qualitativer Forschung [1]. Neben Arbeiten zu der Gültigkeit dieser Art des wissenschaftlichen Forschens finden sich im Werk von Reichertz viele Schriften zu der Möglichkeit, aus einer empirischen Forschung neue Konzepte und neue Theorien begründet zu entwickeln. Im Anschluss an Überlegungen von Charles Sanders Peirce hat er beschrieben, wie die Abduktion und die abduktive Haltung bei der Gewinnung neuer Erkenntnisse hilfreich sind. Der Frage nach der Möglichkeit neuer Erkenntnis geht Reichertz auch in seinen polizeitheoretischen Arbeiten nach. Zusammen mit Norbert Schröer hat er die hermeneutische Polizeiforschung in Deutschland etabliert.

Die eher gesellschaftstheoretisch ausgerichteten Arbeiten von Reichertz behandeln fast immer Menschen, die sich für anderen befremdlich verhalten. Seien es die, welche mittels Fernsehen anderen ihre Liebe gestehen wollen und auch im Fernsehen heiraten, oder die, die lange Zeit in Spielhallen verbringen und sich mit dem Spielautomaten messen. Immer wieder ist die Ausgangsprämisse von Reichertz, dass soziales Handeln Sinn hat und dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, diesen zu finden. In seinen vor allem ethnographisch angelegten Forschungen zeigt Reichertz den sozialen Sinn solchen Tuns und entwickelt zugleich gegenstandbezogenen Diagnosen seiner Zeit.

Der dritten Frage geht Reichertz vor allem in seinen sozialtheoretischen Arbeiten nach. Vor allem seit 2005 hat er sich dabei mit der Macht der Kommunikation beschäftigt. Mehrfach hat er sich kritisch mit einer intentionalistischen, vor allem auf Verstehen ausgerichteten Kommunikationstheorie auseinandergesetzt und für eine Umstellung der Kommunikationstheorie von ‚Verstehen’ auf ‚Macht’ plädiert. Im Anschluss an wissenssoziologische Traditionen hat er ein Programm eines kommunikativen Konstruktivismus formuliert, das kommunikatives Handeln als zentrale soziale Operation begreift, die nicht nur Botschaften an andere übermittelt, sondern vor allem den anderen Identität und damit auch Macht zuschreibt und somit schafft und deshalb für jede Gesellschaft konstitutiv ist. Kommunikation ist in dieser Sicht kein Werkzeug zur Informierung über eigene innere Welten, sondern zur Schaffung sozialer Ordnung.

Wissenschaftliche Aktivitäten

Forschungsprojekte

  • 1. Wandel von Intimitätsmustern (Förderung: Universität Hagen)
  • 2. Struktur der polizeilichen Ermittlungstätigkeit bei Schwerverbrechen (Arbeitsamt)
  • 3. Zur Sanktionspraxis bei deutschen und nichtdeutschen Beschuldigten (Arbeitsamt)
  • 4. Die Reduktion des Tatvorwurfs als Folge polizeilicher Ermittlungspraxis. (VW Stiftung)
  • 5. Diversionsorientierte Polizeitätigkeit (DFG)
  • 6. Motive für die Nutzung der Show ‘Traumhochzeit’ (Arbeitsamt)
  • 7. Kriminalitätsatlas der Stadt Hamm (Arbeitsamt)
  • 8. Deutungsmuster für Multiple Sklerose (Arbeitsamt)
  • 9. Verteidigung nichtdeutscher Beschuldigter (VW Stiftung)
  • 10. Quantitative und qualitative Hörerforschung (Sparkasse)
  • 11. Jugendkriminalität in Hamm/Westf. (Arbeitsamt)
  • 12. Nutzung des Internet durch Studenten/innen (MfW,NRW)
  • 13. Formen der medialen (Re)Präsentation von Liebe (DFG)
  • 14. Soziale Motive für Geständnisse (DFG)
  • 15. Medien als Akteure des Diskurses um Innere Sicherheit (DFG)
  • 16. Das Eigene und das Fremde (DFG)
  • 17. Vernetzte Polizei (DFG)

Mitgliedschaften

Jo Reichertz war von 1980 bis 2000 Geschäftsführer und (von 1994 bis 1998) auch Sprecher der Sektion Sprachsoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Von 2000 bis 2008 war Reichertz Vorstandsmitglied der Sektion Wissenssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Seit 2005 ist er Mitglied des Konzils der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Reichertz ist Mitglied des Research Committee for the Sociology of Deviance and Social Control der International Sociological Association, Mitglied der Sektion Medien- und Kommunikationsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Mitglied der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GIWK) und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK).

Sonstige wissenschaftliche Tätigkeiten

Reichertz arbeitet in wissenschaftlichen Beiräten verschiedener sozialwissenschaftlicher Zeitschriften. So ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift handlung, kultur, interpretation, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Online - Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung, Mitglied des Gutachter-Beirats der Zeitschrift Gesprächsforschung und seit 2002 verantwortlich für die Debatten in der Online - Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung - zusammen mit Franz Breuer (Münster) und Michael Roth (Kanada). Zudem ist er Mitherausgeber der Zeitschrift Soziale Probleme.

Jo Reichertz war und ist als Gutachter verschiedener Institutionen tätig, unter anderem für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die VolkswagenStiftung, das Evangelische Studienwerk Villigst e. V., die Hans-Böckler-Stiftung, den Schweizer Nationalfonds, den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, den Jungforscherinnenfonds der Steiermärkischen Sparkasse, die Studienstiftung des deutschen Volkes und den DAAD.

Veröffentlichungen

Schriftenreihen

Als Herausgeber hat er an folgenden Schriftenreihen mitgewirkt:

Monographien

  • 1983: Die linguistische Pragmatik als Teil einer verstehenden Sozialwissenschaft. Studienbrief der FernUniversität Hagen.
  • 1986: Probleme qualitativer Sozialforschung. New York. Frankfurt/Main: Campus, urn:nbn:de:0168-ssoar-23547.
  • 1986: (mit Norbert Schröer): Probleme der objektiven Hermeneutik. Studienbrief an der FernUniversität Hagen.
  • 1991: Aufklärungsarbeit. Kriminalpolizisten und Feldforscher bei der Arbeit. Stuttgart: Enke.
  • 2000: Die Frohe Botschaft des Fernsehens. Kultursoziologische Untersuchung medialer Diesseitsreligion. Konstanz: Universitäts Verlag Konstanz.
  • 2002: (mit Nathalie Ivanyi): Liebe (wie) im Fernsehen. Eine wissenssoziologische Studie. Opladen: Leske + Budrich.
  • 2003: Die Bedeutung der Abduktion in der Sozialforschung. Opladen: Leske+Budrich.
  • 2007: Die Macht der Worte und der Medien. Wiesbaden: VS Verlag.
  • 2009: "Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation, was vermag sie und weshalb vermag sie das?" Wiesbaden: VS Verlag.
  • 2009: (mit Arne Niederbacher, Gerd Möll, Miriam Gothe & Ronald Hitzler): "Jackpot. Erkundung der Spielhallenkultur." Wiesbaden: VS Verlag
  • 2010: (mit Carina J. Englert): "Einführung in die qualitative Videoanalyse". Wiesbaden: VS Verlag.

Herausgegebene Bände

  • 1984: Sozialwissenschaftliche Analysen jugendgerichtlicher Interaktion. Tübingen: Stauffenberg.
  • 1992 (mit Norbert Schröer): Polizei vor Ort. Studien zur empirischen Polizeiforschung. Stuttgart: Enke.
  • 1996 (mit Norbert Schröer): Qualitäten polizeilichen Handelns. Beiträge zu einer Verstehenden Polizeiforschung. Opladen.: Westdeutscher Verlag.
  • 1998 (mit Thomas Unterberg): Tele-Kulturen. Fernsehen und Gesellschaft. Berlin: Triad.
  • 1998: Die Wirklichkeit des Rechts. Rechts- und sozialwissenschaftliche Studien. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • 1999 (mit Ronald Hitzler und Norbert Schröer): Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation. Konstanz: Universitäts Verlag Konstanz.
  • 1999 (mit Anne Honer und Ronald Kurt): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur. Konstanz: Universitäts Verlag Konstanz.
  • 2003 (mit Norbert Schröer): Hermeneutische Polizeiforschung. Opladen: Leske und Budrich.
  • 2003 (mit Ronald Hitzler): Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror. Konstanz: Universitäts Verlag Konstanz.
  • 2004 (mit Anne Honer & Werner Schneider): Hermeneutik der Kulturen – Kulturen der Hermeneutik. Konstanz: UVK.
  • 2006 (mit Nadia Zaboura): Akteur Gehirn oder das vermeintliche Ende des handelnden Subjekts. Wiesbaden: VS Verlag.
  • 2007 (mit Manfred Schneider): Sozialgeschichte des Geständnisses. Zum Wandel der Geständniskultur. Wiesbaden: VS Verlag.
  • 2008 (mit Hans-Jürgen Lange & Peter Ohly): Auf der Suche nach neuer Sicherheit. Wiesbaden. VS Verlag.
  • 2011 (mit Oliver Bidlo & Carina Jasmin Englert): Securitainment. Medien als Akteure der Inneren Sicherheit. Wiesbaden. VS Verlag.

Online-Publikationen

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Siehe hierzu den Artikel von Reichertz in: Erwägen – Wissen – Ethik Heft 2007: Heft 2. Dort kommentieren 33 qualitativ arbeitende Sozialforscher/innen den Hauptartikel von Reichertz zu den Ansprüchen, Prämissen und Problemen der qualitativen Sozialforschung.

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