Kafka-Konferenz

Kafka-Konferenz

Die Kafka-Konferenz, auch Liblice-Konferenz von 1963, eine internationale Tagung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, ging später in die Geschichte als ein Markstein des Demokratisierungsprozesses ein, von dem aus wichtige Impulse für den Prager Frühling von 1968 ausgingen. Die Tagung auf Schloss Liblice beschäftigte sich mit der Wirkung des damals im Ostblock noch weitgehend verbotenen Schriftstellers Franz Kafka und mit dem Phänomen der Entfremdung.

Franz Kafka

Inhaltsverzeichnis

Hintergründe

Franz Kafka, der bereits 1924 verstorbene, in Prag wirkende Dichter und Schriftsteller jüdischer Abstammung, war in den kommunistischen Ländern lange Zeit verboten. Obwohl er sich keineswegs expliziert politisch engagierte, hatten seine Werke eine zeitlos brisante Aussagekraft. Nachdem die Literaturzeitschrift Sinn und Form in der DDR 1962 eine Rede Sartres über Kafka veröffentlichte, wurde der Chefredakteur Peter Huchel entlassen.[1] Sein Roman Der Process durfte in der Tschechoslowakei erst 1965 erscheinen, und der erste Satz „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ erinnerte die Schriftstellerin Alena Wagnerová an die Normalität der stalinistischen Epoche.[1] Der Roman, der in der Sowjetunion damals heimlich im Samisdat (ohne Nennung des Autors und des Entstehungsjahres) kursierte, wurde von den Intellektuellen wegen seiner Authentizität als Werk eines russischen Dissidenten betrachtet.[2]

Ich könnte leben und lebe nicht“ schrieb Kafka in einem Brief an Max Brod im Jahre 1922,[3] und drückte damit sein Unbehagen über die Entfremdung und Verdinglichung seiner Umgebung in seiner Zeit.

Zwar haben mehrere Literaturwissenschaftler wie Endre Kiss Kafkas Wirkung stark politisiert (Kafka als vorausschauender „Entlarver der Unmenschlichkeit und Undurchschaubarkeit des realen Sozialismus“)[4] (diese Interpretation spielte eine zentrale Rolle während des Prager Frühlings wie in der Kafka-Rezeption im Westen[5] und Zeitzeugen zufolge hat er sich auch in linksintellektuellen Kreisen bewegt (Nähe zu sozialrevolutionären Bewegungen und Offenheit gegenüber der sozialistischen Idee[6]), in seinen Werken hat sich Kafka jedoch nie theoretisch oder politisch geäußert.

Das Werk Franz Kafkas mit seinen alptraumhaften hierarchisch-bürokratischen Machtsystemen war in den vom Stalinismus beherrschten Staaten Osteuropas nach 1945 trotzdem lange Zeit verfemt, während es in Westeuropa und den USA rasch hohe Geltung gewann. In der Sowjetunion und der DDR behauptete sich diese offizielle Ablehnung am längsten. Kafka galt als bürgerlich, dekadent und pessimistisch und dazu unausgesprochen wohl auch als politisch gefährlich, wegen der Ähnlichkleit der von ihm beschriebenen Strukturen zu jenen des Realsozialismus.

Die Konferenz von 1963

Schloss Liblice, Tagungsort 1963 und 2008

Die Idee einer internationalen Tagung über Kafka anlässlich seines 80. Geburtstages kam aus den Reihen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, u. a. vom Germanisten und späteren Präsidenten des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Eduard Goldstücker. Sie fand am 27. und 28. Mai 1963 im Schloss Liblice statt, das nach seiner Enteignung 1945 in den Besitz der Akademie kam. Goldstücker bat achtzehn tschechoslowakische und neun ausländische Teilnehmer um Referate. Sowjetische Germanisten waren nicht geladen. Es ging um die Themenschwerpunkte einer Aufwertung von Kafkas Werk aus marxistisch-leninistischer Sicht und um die Einbindung Kafkas ins deutsch-jüdische Prag sowie die tschechische Kulturtradition.

Ein wesentlicher Diskussionspunkt war die Frage der durch Kafka thematisierten „Entfremdung“. Die sechs DDR-Teilnehmer, darunter Werner Mittenzwei und Anna Seghers, sahen das Phänomen der Entfremdung historisch auf die bürgerliche Gesellschaft beschränkt. Mittenzwei, Paul Reimann, und der Kafka-Experte Klaus Hermsdorf betonten, dass Kafka die Kapitulation und die unüberwindbare Entfremdung des Menschen verkörpere, und somit „nichts mehr zur Entwicklung des Sozialismus beitragen“ könne. Eduard Goldstücker stellte dem gegenüber fest, dass die in Kafkas Werken beschriebene Entfremdung nicht auf kapitalistische Gesellschaften beschränkt sei, sondern „in Zeiten des Übergangs zum Sozialismus“ noch viel intensiver sein könne.[7] Undogmatisch äußerten sich auch Roger Garaudy und der österreichische Schriftsteller Ernst Fischer. Kafkas Aktualität resultiere aus der realen Alltagserfahrung einer entfremdeten Gesellschaft. Die Wirklichkeit durch Ideologie zu ersetzen und Kafka mit seiner „Darstellung der Widersprüche des Lebens“ zu negieren sei unmarxistisch. Goldstücker meinte, Kafka führe seine Leser zwar bis an den Rand des Nihilismus, öffne aber gleichzeitig ein „Fensterchen der Hoffnung“. Ernst Fischer prägte den Satz: „Kafka bedeutet den Kampf gegen Dogmatismus und Bürokratismus und gleichzeitig den Kampf für soziale Demokratie, Initiative und Verantwortung“.[7] Auch die Dekadenzfrage wurde ausführlich erörtert.

Die Kafka-Konferenz von Liblice hatte bedeutende Auswirkungen auf die intellektuellen Debatten in der ČSSR, der DDR und der Sowjetunion. Sie wurde zum Auftakt einer kurzen Periode des geistigen und gesellschaftlichen Aufbruchs, die im August 1968 mit dem Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei ihr Ende fand.

Die Rezeption von 2008

Kafka zu interpretieren war die Aufgabe der Konferenz von 1963; noch schwieriger erwies sich das Vorhaben, die Konferenz selbst zu explizieren, was die selbstgestellte Aufgabe der Konferenz „Kafka und die Macht“ war, die 45 Jahre später, am 24.und 25. Oktober 2008 ebenfalls in Liblice stattfand.[8] Es stellte sich die Frage, ob in Liblice 1963 ein literarische Kolloquium stattfand oder ein politisches Ereignis[9], ein Mythos und Vorläufer des Prager Frühlings von 1968[10].

Die Konferenz von 2008 war eine gemeinsame Veranstaltung des Instituts für Textkritik in Heidelberg und des Ústav pro soudobé dějiny (Institut für zeitgenössische Geschichte) Prag. Die vorwiegend tschechischen und deutschen Teilnehmer teilten nicht nur voneinander divergierende Meinungen, sondern es kam dazu, dass die Konferenzteilnehmer von 1963 jetzt auch emotionell gegeneinander auftraten.[10] Auf der einen Seite entstand der Eindruck, die Konferenz von 1963 sei eine „versteckte Stalinismus-Debatte“ gewesen[1], während andere (Klaus Theweleit und Henri Bergson) über „Geschichte, die wir rückwärtsgewandt verändern, allein dadurch, dass wir mit ihr umgehen“ sprachen[10]. Auf die Ambivalenz von Kafkas Process eingehend urteilte Roland Reuß, wie politisch Texte sein können, vielleicht auch deshalb, weil sie mit der Politik nichts zu tun haben – zumindest nicht direkt.[1] Es ist eher die Subversivität eines „Schwarzsehers und Pessimisten, [...] die es insbesondere den orthodoxen Kommunisten suspekt machte. [...] In Wahrheit fürchtete man jedoch in der Rezeption Rückschlüsse auf die Allgegenwart des Staatssicherheitsdienstes und des KGBs, ebenso Analogieschlüsse zur herrschenden Willkür der Bürokratie.“[6]

Verweise

Literatur

  • Ernst Fischer: Kafka-Konferenz. In: Franz Kafka. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1973, ISBN 3-534-05401-6, S. 366–377.
  • Michael Pullmann: Franz Kafka. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn (eine sehr umfangreiche Website zur Kafka-Rezeption), online kafka.uni-bonn.de
  • Vladimir V. Kusin: The Intellectual Origins of the Prague Spring. The Development of Reformist Ideas in Czechoslovakia 1956–1967. Cambridge University Press, 2002.

Konferenzberichte

  • Franz Kafka aus Prager Sicht. Voltaire Verlag 1966, redigiert von Eduard Goldstücker, František Kautmann, Paul Reimann und Leoš Houska (Gekürzte Fassung aus dem Tschechischen, Academia Verlag, Prag, 1965)
  • Tance kolem Kafky [Tänze um Kafka]. Erinnerungen und Dokumente von Alexej Kusák, ISBN 80-7304-038-7.

Einzelnachweise

  1. a b c d Ulrich Greiner: Kafka kam nach Liblice. In: DIE ZEIT 45/2008 vom 30. Oktober 2008, S. 70
  2. Efim Etkind: Kafka in sowjetischer Sicht. In: Claude David (Hrsg.): Franz Kafka. Themen und Probleme. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1980, S. 230f.
  3. Franz Kafka: GW, Briefe 1902–1924. Hrsg. von Max Brod, Frankfurt a.M. 1983, S. 385, zit. nach Hawel, Die aufgeklärte Welt..., abgerufen 19. Juli 2009
  4. Endre Kiss: Kafkaesk. In: Franz Kafka in der kommunistischen Welt. Hrsg. Österreichische Franz-Kafka-Gesellschaft, Böhlau, Weimar 1993, S. 46–61, hier zit. nach geo.uni-bonn.de, abgerufen 19. Juli 2009
  5. Interpretaionsansätze / geo.uni-bonn.de, abgerufen 19. Juli 2009
  6. a b Franz Krahberger: Franz Kafka – Der bohrende Sinn. Electronic Journal Literatur Primär ISSN 1026 -0293, online: ejournal.thing.at, abgerufen 19. Juli 2009
  7. a b Susanne Götze: Ein Fensterchen Hoffnung. Kafka Rezeptionen im Umfeld des Prager Frühlings. online: linksnet.de, abgerufen 19. Juli 2009
  8. Programm und Überblick: textkritik.de, abgerufen 19. Juli 2009
  9. Ehrhard Bahr: Kafka und der Prager Frühling. In: Heinz Politzer (Hrsg.): Franz Kafka. 2., unveränderte Aufl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980, S. 518, zit. nach kafka.uni-bonn.de/Liblice 1963, abgerufen 19. Juli 2009
  10. a b c Gerrit Bartels: Franz und der Frühling. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 27. Oktober 2008, online: tegesspiegel.de, abgerufen 19. Juli 2009

Weblinks


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