Abraham Joshua Heschel

Abraham Joshua Heschel

Abraham Joshua Heschel (* 11. Januar 1907 in Warschau, Russisches Kaiserreich; † 23. Dezember 1972 in New York City) war ein Rabbiner, jüdischer Schriftgelehrter und Religionsphilosoph polnischer Herkunft.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Elternhaus und Bildung

Abraham Joshua (Jehoschua) Heschel war das jüngste von sechs Geschwistern in einer polnisch-jüdischen Familie, aus der eine Reihe bedeutender chassidischer Rabbiner kam, darunter Abraham Jehoschua Heschel von Apta. In seinem Elternhaus lernte er die jiddische, hebräische, polnische und deutsche Sprache, bekam aber vor allem grundlegende chassidische Ideale vermittelt, wie Liebe, Mitgefühl, Gerechtigkeit und Frömmigkeit.

Ab 1922 erschienen erste kleinere Arbeiten Heschels über den Talmud in der hebräischsprachigen Warschauer Monatszeitschrift „Sha’arey Torah: Kovetz rabbani hodshi“ (Tore der Torah: Monatliche rabbinische Zeitschrift). Damit stieg er auf in den Kreis talmudischer Lehrer. Mit Hilfe seiner Mutter konnte Heschel eine Verheiratung mit seiner Cousine Gittel Perlow umgehen, so dass er ungebunden seinem Interesse an anderen jüdischen Kulturen nachgehen konnte.

1925 ging er nach Wilna, das damals zu Polen gehörte, um dort 1927 am Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium das Abitur zu machen. Zur selben Zeit veröffentlichte er einen Band jiddischer Gedichte, die 1933 in Warschau veröffentlicht wurden und unter anderem von Chaim Nachman Bialik positiv aufgenommen wurden.

Studium in Berlin

1927 immatrikulierte er sich in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, wo er unter anderem bei Leo Baeck, Ismar Elbogen und Julius Guttmann studierte. An der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin schloss er 1932 seine Doktorarbeit ab (mündliche Prüfung im Februar 1933), erhielt jedoch aufgrund der Machtergreifung der Nationalsozialisten erst 1935 die Promotion. Seine Doktorarbeit „Das prophetische Bewußtsein“ erschien 1936 in Krakau. Mit dieser Arbeit stellte sich Heschel gegen das in der damaligen Wissenschaft herrschende Bibelverständnis, wie es insbesondere auch von den Deutschen Christen vertreten wurde, die eine Abkehr vom Alten Testament sowie Reduktion und Umdeutung des Neuen Testaments forderten. In seiner Doktorarbeit analysiert Heschel das „prophetische Bewusstsein“ der vorexilischen Schriftpropheten: Wie haben die Propheten Gottes Eingebung und Offenbarung erfahren und erlebt, und wie hat sich das auf sie ausgewirkt, wie sind sie damit umgegangen? Im Denken und Fühlen der Propheten entfaltete sich eine „pathetische Theologie“, der im Handeln eine „Religion der Sympathie“ entspricht. Diese Gedanken führte Heschel insbesondere in seinem Buch „The Prophets“ (1962) aus, einer späteren völligen Umarbeitung seiner Dissertation.

Die letzten Jahre in Europa

Martin Buber berief ihn 1937 als seinen Nachfolger an das Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am Main. 1938 wurde er im Zuge der Ausweisung polnischer Juden von der Gestapo verhaftet und nach Warschau ausgewiesen. Da Polen die Einreise von Juden verweigerte, wurden die Ausgewiesenen in ein Internierungslager gebracht. Nach einigen Monaten kam Heschel durch Einflussnahme seiner Familie frei und wohnte bis Sommer 1939 in Warschau. Dort lehrte er am Institut für Jüdische Studien, bis er im Sommer 1939 kurz vor der deutschen Invasion in Polen nach London ging, wo sein Bruder Jakob Rabbiner war. Nach sechs Monaten erhielt er eine Einreiseerlaubnis in die USA. Nach dem deutschen Überfall auf Polen kam seine Schwester Esther bei einer Bombardierung ums Leben. Seine Mutter und zwei weitere seiner Schwestern wurden in Konzentrationslagern umgebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt er sich zwar noch kurz in Europa auf, kehrte aber weder nach Polen noch nach Deutschland zurück. Dazu sagte er: „Wenn ich nach Polen oder Deutschland gehen sollte, würde mich jeder Stein, jeder Baum an Verachtung, Hass, Mord, an umgebrachte Kinder, an lebendig verbrannte Mütter, an erstickte Menschen erinnern.“

In den USA

Heschel kam im März 1940 nach New York City, wo er seine älteste Schwester Sarah und weitere Mitglieder seiner Familie traf. Bald zog er weiter nach Cincinnati, wo er fünf Jahre Lehrer am Hebrew Union College war. Hier lernte er Sylvia Straus, eine Pianistin aus Cleveland, kennen; sie heirateten 1946 in Los Angeles. Bereits 1945 war Heschel nach New York City gegangen, um eine Professur für jüdische Ethik und Mystik am Jewish Theological Seminary of America anzunehmen, die er zeitlebens behielt. Ihre gemeinsame Tochter Susannah Heschel ist Professorin für Jüdische Studien und insbesondere mit dem jüdisch-christlichen Dialog befasst.

Soziales, politisches und interreligiöses Engagement

Abraham Heschel setzte sich insbesondere für die Rechte der Afroamerikaner in den USA ein. Im Januar 1963 begegnete er erstmals Martin Luther King an einer christlich-jüdischen Konferenz in Chicago und befreundete sich mit ihm. 1965 nahmen beide am berühmten Marsch von Selma nach Montgomery teil. Für die Trauerfeier für Martin Luther King am 8. April 1968 wurde Heschel vom Theologen Reinhold Niebuhr gebeten, den Nachruf zu halten, und entsprach diesem Wunsch. Zusammen mit John Bennett und Richard John Neuhaus gründete er 1963 die Organisation „Clergy and Laymen Concerned about Vietnam“ (Geistliche und Laien besorgt über Vietnam). Zusammen mit Kardinal Bea betrieb er die Abfassung der „Judenerklärung“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, die in der Erklärung Nostra Aetate enthalten ist. Im März 1971 erhielt er in Rom eine Audienz bei Papst Paul VI., der sich positiv über seine Schriften äußerte.

1972 verstarb Abraham Joshua Heschel.

Auszüge aus seinen Gedanken

Auch in seinen ersten Jahren in den USA stellte sich Heschel, der schon in Europa mit seiner Doktorarbeit „Das prophetische Bewußtsein“ den damals gültigen Kategorisierungen moderner Bibelwissenschaft entgegengetreten war, gegen das konventionelle Verständnis religiöser Erfahrungen. In seinen ersten englisch geschriebenen Artikeln bezeichnet er die üblichen Kategorien zur Interpretation von Frömmigkeit, Gebet und Heiligkeit als reduktionistisch und unangemessen. Frömmigkeit werde zum Beispiel von Wissenschaftlern oft als psychologisches Phänomen beschrieben, oder als irrational und kontraproduktiv kritisiert. „So wie man Philosophie nicht durch Beten studieren kann, so kann man das Gebet nicht durch Philosophieren studieren.“ In „Der Mensch ist nicht allein“ schreibt er: „Eine Beschreibung des Glaubens in Ausdrücken der Vernunft ist wie ein Versuch, Liebe als einen Syllogismus und Schönheit als eine algebraische Gleichung zu verstehen.“ Frömmigkeit müsse vielmehr als Phänomen eigener Art mit seinen eigenen Ausdrücken beschrieben werden, als eine Einstellung und Denkweise, in welcher der fromme Mensch sich stets Gott nahe fühlt: „Das Bewusstsein Gottes ist so nahe bei ihm wie der eigene Herzschlag, oftmals tief und ruhig, doch manchmal auch überwältigend und berauschend.“ Frömmigkeit verursacht Ehrfurcht, welche die „Würde jedes Menschen“ sieht sowie den „geistigen Wert, der sogar unbelebten Dingen unveräußerlich innewohnt.“ Ausbeutung und Herrschaft sind der echten Frömmigkeit fremd, und materieller Besitz führt nur zu Einsamkeit. Die Verbundenheit eines frommen Menschen mit Gott ist „sein beständiges Streben, über sich hinauszugehen“, sich Zielen, Aufgaben und Idealen zu widmen. Für einen frommen Menschen meint Schicksal nicht nur etwas zu erreichen, sondern auch beizutragen. „Wer einer Kreatur hilft, hilft Gott. Wer den Armen beisteht, kümmert sich um etwas, das Gott betrifft. Wer das Gute bewundert, verehrt den Geist Gottes.“

Letzten Endes beruhe Religion nicht auf dem menschlichen Bewusstsein Gottes, sondern auf Gottes Interesse am Menschen. Im Gebet sucht der Mensch nicht, Gott sichtbar zu machen, sondern sich selbst Gott sichtbar zu machen. Nicht der Mensch sucht Gott zu verstehen, Gott sucht den Menschen und braucht ihn sogar: „Sein heißt Bedeuten, und die Bedeutung der Menschen ist das große Mysterium, Gottes Partner zu sein. Gott braucht Menschen.“

Das „göttliche Pathos“, d.h. die Tatsache, dass Gott Menschen braucht, ist der Kernpunkt von Heschels Theologie.

Werke

Hauptwerke

  • Man is not alone. (1951), dt.: Der Mensch ist nicht allein.
  • God in Search of Man. (1954), dt.: Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, 1980.
  • The Prophets. (1962) Englisch.
  • Torah min Ha-Schamajim b'Espakloriah schel Ha-Dorot. (Tora vom Himmel im Spiegel der Generationen), Hebräisch. Band I: 1962, II: 1965, III: 1990 (posthum).

Weitere Werke

  • Das prophetische Bewußtsein (1932), 1936 unter dem Titel „Die Prophetie“ erschienen.
  • Maimonides (1935).
  • The Earth is the Lord's (1949), dt.: Die Erde ist des Herrn, 1985.
  • The Sabbath (1951), dt.: Sabbat, 1990.
  • Man's quest for God (1954), dt.: Der Mensch fragt nach Gott, 1982.

Sekundärliteratur

  • M. Friedman: Divine Need and Human Wonder: The Philosophy of A. J. Heschel, in: Judaism 25/1 (1976), 65–78.
  • Harold Kasimow / Byron L. Sherwin (Hgg.): No Religion Is an Island: Abraham Joshua Heschel and Interreligious Dialogue, New York 1991.
  • E.K. Kaplan / S.H. Dresner: Abraham Joshua Heschel: Prophetic Witness, 2 Bde., Bd. 1: New Haven: Yale University Press 1998.
  • S. T. Katz: Abraham Joshua Heschel and Hasidism, in: Journal of Jewish Studies 31 (1980), 82–104.
  • J.C. Merkle (Hg.): Abraham Joshua Heschel: Exploring His Life and Thought, New York 1985.
  • J.J. Petuchowski: Faith as the Leap of Action: The Theology of Abraham Joshua Heschel in: Commentary 25/5 (1958), 390–97.
  • Fritz A. Rothschild / Ephraim Meir: Art. Abraham Joshua Heschel, in: Encyclopedia Judaica, 2. Aufl., Bd. 9, 70-72.
  • S. Tanenzapf: Abraham Heschel and his Critics, in: Judaism 23/3 (1974), 276–86.
  • B. Dolna: An die Gegenwart Gottes preisgegeben. Abraham Joshua Heschel. Leben und Werk Mainz 2001.

Weblinks


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