- Rätoromanische Literatur
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Die rätoromanische Literatur ist die in rätoromanischer Sprache verfasste Literatur. Im Unterschied zu den deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweizern verfügen die Rätoromanisch Sprechenden über kein sprachliches Hinterland, von dem sie hätten profitieren können. Ausserdem verhinderten die sprachgeographische und konfessionelle Zersplitterung und das Autonomiebewusstsein der Bündner Talschaften über lange Zeit die Bildung eines politisch-kulturellen Zentrums, das eine einheitliche Schriftsprache hätte ausbilden können.
Geschichte
Den Beginn einer rätoromanischen Literatur markiert das 1527 entstandene politische Lied „Chanzun da la guerra dalg Chiastè d'Müs“ (Lied vom Müsserkrieg) des Zuozer Humanisten Gian Travers (1483/84-1563), das als Zeugnis oraler Literatur nur in späteren Abschriften überliefert ist. Den eigentlichen Grundstein für die rätoromanische Literatur bildete Jachiam Tütschett Bifruns „L’g Nuof Sainc Testamaint“ (1560). Diese Übersetzung des Neuen Testaments im oberengadinischen Idiom (Putèr) ist der erste erhaltene gedruckte Text der rätoromanischen Literatur. In dieser Zeit vollzog sich auch der Übergang zur Schriftsprache. Bis etwa 1750 beschränkte sich die literarische Produktion auf religiöse Texte und theologische Texte, Passions- und Fasnachtspiele. Die interkonfessionellen Auseinandersetzungen trugen zu deren Verbreitung bei. In diese Phase fallen die Schriften von Conradin Riola (Vater und Sohn).
Die Aufklärung förderte ab 1750 die Entstehung politischer Texte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts trugen Presse und Schulbücher zur Belebung der rätoromanischen Sprache bei. Die literarische Produktion stammte zunächst weitgehend von in Italien lebenden Auswanderern (sog. Emigrantenlyrik). Sie wurde geprägt von Autoren wie Conradin Flugi von Aspermont (1787–1874), Gian Fadri Caderas (1830–1891) und Simeon Caratsch für die Lyrik sowie Giovannes Mathis und Johannes Barandun für die Prosa.
1885 wurde von Gion Antoni Bühler und anderen die Societad Retorumantscha gegründet, die in ihrem seit 1886 herausgegebenen Jahrbuch Annalas neue Literatur und Artikel zur rätoromanischen Kultur publizierte. Caspar Decurtins sammelte Märchen, Sagen, Volkslieder und Volksschauspiele. Die Literatur wurde in dieser Periode zu einem wichtigen Instrument der Verteidigung rätoromanischer Identität, vor allem in der Konfrontation mit italienischen Irredentisten. Hierfür stehen Autoren wie Giacun Hasper Muoth (1844–1906), Gion Antoni Huonder und Peider Lansel (1863–1943), der ebenfalls Zeugnisse der Volkskultur sammelte.
Bis weit ins 20. Jahrhundert blieb die Literaturproduktion volksliterarischen Traditionen verhaftet und nutzte regionale Idiome. Erst mit der Einführung von Radio und Fernsehen setzte eine regionenübergreifende Sprachentwicklung ein. Über 90 % der rund 50 rätoromischen Romane stammen aus der Zeit nach 1950. Märchen, Sagen und Parabeln wurden für Kritik an den bestehenden Zuständen eingesetzt und die in der Weltliteratur gängigen Genres wie literarische Chronik und literarisches Tagebuch fanden Eingang ins Werk der Sursilvaner Leonard Caduff, Ludivic Hendry (* 1920), Theo Candinas (* 1929) und des Ladiners Andri. Bedeutende Namen der gegenwärtigen rätoromanischen Literatur sind Rut Plouda (* 1948), Leo Tuor (* 1959) und Flurin Spescha (1958–2000).
Literatur
- Friedlieb Rausch, Geschichte der Literatur des rhäto-romanischen Volkes, mit einem Blick auf Sprache und Character desselben, J.D. Saurländer, 1870,
- L. Uffer, Rätoromanische Literatur, in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, 1974
- G. Mützenberg, Destin de la langue et de la littérature rhéto-romanes, 1992
Weblinks
- [1] Gion Deplazes, Rhätoromanische Literatur, abgerufen 18. September 2011
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