Schreiambulanz

Schreiambulanz

In einer Schreiambulanz werden "Schreibabys" behandelt. Dabei handelte es sich um Säuglinge, die durch "exzessives Schreien" auffallen, aber auch Säuglinge die etwa Schlaf- und Fütterstörungen zeigen, die unter den Regulationsstörungen im Säuglingsalter zusammengefasst werden. Teilweise werden dort aber alle psychischen Probleme von Kindern und ihren Eltern bis zu einem Alter von drei Jahren behandelt.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Die erste Schreiambulanz in der Bundesrepublik war die 1991 von Mechthild Papoušek am Kinderzentrum München eröffnete "Münchner Sprechstunde für Schreibabys".[1] Inzwischen "gibt es in Kinderkliniken, Erziehungsberatungsstellen, bei niedergelassenen Psychotherapeuten und ähnlichen Einrichtungen in allen größeren deutschen Städten Beratungsstellen für Eltern mit Babys und Kleinkindern."[2] Zu den Ambulanzen von Hamburg bis München gesellen sich inzwischen auch Tageskliniken wie die Familientagesklinik Dresden und die Familientagesklinik in Münster.

Beschreibung

Per definitionem ist dies ein Schreien, das über das durchschnittliche Maß hinausgeht: "an mehr als drei Tagen mehr als drei Stunden lang [...]und dies mindestens drei Wochen lang" [3], vor allem über den dritten Lebensmonat hinausgehend. Betroffen ist hiervon "mittlerweile jedes vierte oder fünfte Baby in Deutschland [...], doch diese Zahl ist sehr umstritten" [4]. Andere Schätzungen gehen von einer Inzidenz von 100.000 jährlich in Deutschland aus. [5] Erschwerend treten zu den kindlichen Störungen elterliche Inkompetenz- und Schuldgefühle hinzu, die sich – je nach Ausprägung des Schreiens und je nach Unterstützung im System Familie – auch in Aggression verwandeln können. Oft ist letzteres der Anlass für eine Vorstellung in der Schreiambulanz.

Professionelle Hilfe in einer Schreiambulanz ist auch dann angebracht, wenn Eltern sich mit dem Schreiverhalten ihres Babys überfordert sehen oder sie Gefühle von Ohnmacht oder Hilflosigkeit haben.

Behandlungsspektrum

Meistens wird eine multifaktorielle Genese des exzessiven Schreiens vermutet. Die Ursachen bestehen beispielsweise im Stress beim Säugling unter der Geburt oder bei der Mutter in der Schwangerschaft, in anderen belastenden Faktoren bei den Eltern [6] oder in Regulations- und Anpassungsstörungen beim Kind. Die moderne Säuglingsforschung geht davon aus, dass das viele Schreien Ausdruck einer verzögerten Verhaltensregulation ist. Anders gesagt haben diese Babys größere Mühe, sich nach der Geburt zurechtzufinden als andere und schreien deshalb so viel. [7] Zu diesen Frühen Regulationsstörungen gehören "Probleme in der Regulierung der Schlaf-Wach-Phasen (Ein- und Durchschlafprobleme), Fütterstörungen, motorische Unruhe und Spielunlust", "exzessives Klammern", "Trotzen und aggressives Verhalten". [8]. Auch intrafamiliale Beziehungsstörungen und insbesondere Bindungsstörungen zwischen Kind und Bezugsperson können zu exzessivem Schreien führen. [9] Der Begriff Schreiambulanz ist darum in den meisten Fällen nicht mehr zutreffend, weil die ganze Palette frühkindlicher Regulationsstörungen behandelt wird.

Diagnostik

Oft haben die Kinder, wenn sie in einer "Schreiambulanz" vorgestellt werden, schon eine lange Karriere ärztlicher somatischer Diagnostik hinter sich. Anderenfalls erfolgt diese in der Schreiambulanz oder wird von dieser zum Ausschluss körperlicher Ursachen des Schreiens veranlasst. Dann erfolgt die psychologische/psychiatrische Diagnostik (zum Beispiel Entwicklungs- oder Wahrnehmungsstörungen) einschließlich der Untersuchung des Bezugssystems (Familie) und letztlich die spezifische Interaktions- und Bindungsdiagnostik durch videogestützte Eltern-Kind-Beobachtungen und so weiter.[10]

Therapie

Bei der Behandlung des exzessiven Schreiens sowie anderer Anpassungs- und Entwicklungsstörungen in Schreiambulanzen und Tageskliniken "steht die Eltern-Kind-Beziehung im Mittelpunkt der meisten Interventionsansätze".[11]. So werden beispielsweise Alltagssituationen wie Spielen, Füttern, Wickeln aufgezeichnet, wodurch die Eltern die Möglichkeit haben, spezielle Kompetenzen des Kindes zu erkennen und Möglichkeiten zu erarbeiten, diese zu unterstützen" [12]. Außerdem können die Eltern "Themen einbringen, die oft scheinbar nicht 'unmittelbar' mit dem Problem des Kindes zu tun haben, und erhalten Partnerberatung oder Hilfen zur Konfliktbewältigung und Ressourcenmobilisierung", so dass zum Beispiel auch "psychische Belastungen der Eltern angesprochen [...] werden, die sich im Erleben des Kindes oft unbewusst und ungewollt auswirken". [13] Manchmal kommt es dann zur Empfehlung weiterer therapeutischer Maßnahmen bei den Eltern (Psychothetrapie, Paartherapie oder ähnlich). Retrospektiv können dann Schrei-, Fütter-, Schlafstörungen und so weiter als seismographischer Hilferuf im Bezugssystem verstanden werden.

Prognose

Die behandelten frühkindlichen Regulations- und Beziehungsstörungen haben eine gute Prognose. So hat sich herausgestellt, dass "frühe ungünstige Lebensumstände weniger sicher zu späteren Persönlichkeitsbeeinträchtigungen führen, als die Psychoanalyse [...] vermutet". Offenbar kann man von einer "erstaunlichen Erholungskraft" ausgehen, "mit deren Hilfe die Langzeitwirkungen ungünstiger frühkindlicher Erfahrungen gemildert oder sogar überwunden werden können".[14]

Siehe auch

Literatur

  • Mary D. Ainsworth, M. Blehar, E. Waters, & S. Wall: Patterns of Attachment: A Psychological Study of the Strange Situation, Lawrence Erlbaum Associates 1978, ISBN 0-89859-461-8.
  • John Bowlby: Bindung – Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung, Kindler Verlag 1982, ISBN 3-463-006189 (Originaltitel: Attachment and Loss 1969/1982)
  • Martin Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt am Main 1993, 21.-25. Tsd, 1997, ISBN 3-596-11263-X

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Carolin Keller und Gabriele Koch
  2. Mauri Fries
  3. Schreibaby - Schreiambulanz, Übersicht über Schreiambulanzen in der Bundesrepublik
  4. Schreibaby - Schreiambulanz, Übersicht
  5. Joachim Bensel
  6. Sabine Ulrich, zit.b.[1]
  7. Mauri Fries
  8. Keller und Koch
  9. Zur Bindungstheorie siehe John Bowlby und Mary Ainsworth.
  10. Siehe als ein Beispiel für viele das Diagnostik-Schema der Familientagesklinik in Münster, abgerufen am 31. Oktober 2010.
  11. Joachim Bensel
  12. Keller und Koch
  13. Keller und Koch
  14. Martin Dornes, S. 221
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