Verhältnismäßigkeitsprinzip (Deutschland)

Verhältnismäßigkeitsprinzip (Deutschland)

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip, auch als Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bezeichnet, ist ein Merkmal des deutschen Rechtsstaats. Zweck des Grundsatzes ist es, vor übermäßigen Eingriffen des Staats in Grundrechte, insbesondere auch in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), zu schützen (daher oft auch Übermaßverbot genannt). Als verfassungsrechtliches Gebot ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gem. Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG für die gesamte Staatsgewalt unmittelbar verbindlich.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Verhältnismäßigkeit beschreibt zwei Begriffe, die miteinander verknüpft sind: Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinn verlangt von jeder Maßnahme, die in Grundrechte eingreift, dass sie einen legitimen öffentlichen Zweck verfolgt und überdies geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn (auch „angemessen“ genannt) ist. Eine Maßnahme, die diesen Anforderungen nicht entspricht, ist rechtswidrig.

Legitimer Zweck
Der Zweck der Maßnahme setzt den Maßstab und Bezugspunkt für die Frage, ob die Maßnahme zur Erreichung gerade dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist. So macht es hinsichtlich des Zwecks keinen Unterschied, ob der tödliche Schuss aus der Waffe eines Polizisten abgegeben wird, um einen um sich schießenden Terroristen auszuschalten, oder mit dem Ziel, den ertappten 15-jährigen Ladendieb an einer möglichen Flucht zu hindern. Nur wenn ein Zweck an sich schon gegen die Wertung des Grundgesetzes verstößt, ist er nicht legitim. Ist bereits der Zweck als solcher nicht legitim, ist die Maßnahme bereits deshalb nicht verhältnismäßig. Schießt der Polizist also ausschließlich, um zu töten, wäre der Zweck aufgrund der Wertung des Grundgesetzes nicht legitim.
Geeignetheit
Wenn die Maßnahme die Erreichung des Zwecks kausal bewirkt oder zumindest fördert, ist sie geeignet. Zur Verminderung des Schadstoffausstoßes eines Industriebetriebes etwa ist die Schließung des Betriebes geeignet, aber auch der Einbau einer Rauchgasreinigungsanlage. Nicht geeignet dagegen wäre die Schließung des Unternehmensparkplatzes.
Erforderlichkeit
Die Maßnahme ist erforderlich, wenn kein milderes Mittel gleicher Eignung zur Verfügung steht, genauer: wenn kein anderes Mittel verfügbar ist, das in gleicher (oder sogar besserer) Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Betroffenen und die Allgemeinheit weniger belastet. Die Schließung des Betriebs aus dem obigen Beispiel ist daher in der Regel nicht erforderlich, weil die Verminderung des Schadstoffausstoßes auch durch die Rauchgasreinigung erreicht werden kann.
Angemessenheit
Verhältnismäßig im engeren Sinn ist eine Maßnahme nur dann, wenn die Nachteile, die mit der Maßnahme verbunden sind, nicht völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die sie bewirkt. An dieser Stelle ist eine Abwägung sämtlicher Vor- und Nachteile der Maßnahme vorzunehmen. Dabei sind vor allem verfassungsrechtliche Vorgaben, insbesondere Grundrechte zu berücksichtigen. Geht es beispielsweise um die Frage, ob zur Bekämpfung schwerer Bandenkriminalität die Videoüberwachung von Wohnräumen zugelassen werden soll, ist vor allem das Grundrecht des Überwachten auf Unverletzlichkeit seiner Wohnung gegen das Interesse der Allgemeinheit an der Erhaltung und Verteidigung der Rechtsordnung abzuwägen.

Bedeutung

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein grundlegendes Prinzip überall dort, wo zwischen widerstreitenden Interessen ein Ausgleich geschaffen werden muss. Als Sinnbild dieses Ausgleichs trägt Iustitia immer eine Waage, die sich im Zweifel zum Schwächeren, dem Angeklagten neigt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt grundsätzlich im Verfassungsrecht, im ganzen Bereich des öffentlichen Rechtes, im Strafrecht sowohl auf der Normebene (Strafbewehrung, Strafmaß) als auch hinsichtlich der Strafverfolgung (Ermittlungsverfahren) und des Straferkenntnisses[1][2] sowie bei Verbraucherschutzrechten. In vielen dieser Bereiche gilt es als ungeschriebene Voraussetzung, aber immer öfter wird es aufgeschrieben, so etwa in den Polizeigesetzen der Länder und manchen internationalen Übereinkommen, wie TRIPs Art. 7. Selbst, wenn das Verhältnismäßigkeitsprinzip gerade im Zivilrecht nicht im Gesetzestext steht, muss es doch bei der Änderungen von Gesetzen im Rahmen der Beachtung der Verfassungsprinzipien berücksichtigt werden, um eine Verfassungswidrigkeit der Gesetze zu vermeiden. Es spielt als ungeschriebener Verfassungsgrundsatz bei der Auslegung von sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffen stets eine Rolle.

Übermaßverbot (Erforderlichkeit im engeren Sinne)

Das Übermaßverbot wird überall dort angewendet, wo staatliche Eingriffe, insbesondere in den Schutzbereich von Grundrechten, abgewehrt werden sollen. Das Untermaßverbot wird hingegen dort relevant, wo der Staat gerade zur Leistung verpflichtet ist. Hier darf er das Mindestmaß der gebotenen Leistung nicht unterschreiten. So erwächst aus dem Grundrecht auf Leben gemäß Art. 2 Abs. 2 Alt. 1 GG nicht nur ein Abwehrrecht gegen lebensgefährdende staatliche Maßnahmen, sondern auch ein Leistungsrecht auf Lebensschutz gegen Angriffe privater Dritter. Um zu prüfen, ob dieser Schutz (z.B. durch Strafgesetze wie § 212 Abs. 1 StGB) ausreichend gewährleistet ist, wird das Untermaßverbot angewendet. Fällt der Schutz zu weit ab, ist der Bürger in seinem Grundrecht auf Leben verletzt.

Einzelnachweise

  1. Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG vom 15. Mai 1995 - 2 BvL 19/91 u.a., Rn. 187 ff.
  2. beispielhaft für die Überprüfung eines Strafurteils am Verhältnismäßigkeitsmaßstab Nichtannahmebeschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 4. Dezember 2007, 2 BvR 38/06, Rn. 38 ff.

Siehe auch

Weblinks

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