Allgemeine Handlungsfreiheit

Allgemeine Handlungsfreiheit

Die allgemeine Handlungsfreiheit ist ein im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschriebenes Grundrecht. Der Text des Art. 2 Abs. 1 GG lautet:

„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Inhaltsverzeichnis

Schutzbereich

Persönlicher Schutzbereich

Träger des Rechts ist jeder Mensch (nicht nur jeder Deutsche), Adressat (Verpflichteter) ist alle (deutsche) staatliche Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG).

Ganz überwiegend ist anerkannt, dass auch inländische juristische Personen gem. Art. 19 Abs. 3 GG Träger des Grundrechts sein können, es also seinem Wesen nach auf diese anwendbar ist.

Sachlicher Schutzbereich

Weniger eindeutig ist der Inhalt des Rechts (Schutzbereich). Aus dem Wortlaut „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ wurde in den Anfangsjahren der Bundesrepublik geschlossen, geschützt seien nur besondere, „hochwertige“ Persönlichkeitsentfaltungen („Persönlichkeitskerntheorie“). Nur so sei das Grundrecht dem Gewicht der übrigen Grundrechte vergleichbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen schon früh (E 6, 32 (36 f.) - Elfes) entschieden, Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste eine „allgemeine Handlungsfreiheit“ und schütze damit selbst so banale Dinge wie „das Reiten im Walde“ (E 80, 137 (152 ff.)). Dabei stützte das Gericht seine Auslegung maßgeblich auf den Willen des Verfassungsgebers: Der Parlamentarische Rat wollte dem Grundrecht zunächst die Formulierung „Jeder kann tun und lassen was er will“ geben und wählte nur der sprachlichen Gefälligkeit wegen die heutige Fassung. Für diese Ansicht spricht auch, dass die Schranken (insbesondere die der „verfassungsmäßigen Ordnung“) weiter als bei jedem anderen Grundrecht sind, was umgekehrt auf einen ungemein weiten Schutzbereich hindeutet.

Diese Auslegung ist heute so herrschend, dass man das Grundrecht allgemeine Handlungsfreiheit nennt. Es ist damit ein „Auffanggrundrecht“, das immer eingreift, wenn speziellere Grundrechte nicht vorhanden sind oder - das ist freilich umstritten - deren Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Demnach darf beispielsweise jedermann die bevorzugte Kleidung tragen, ausreisen (E 6, 32 - „Elfes“), Tauben füttern (E 54, 143 (146)) oder sich das Auto seiner Wahl kaufen. Auch können sich Ausländer, die nicht Träger von sog. „Deutschengrundrechten“ sind, stattdessen auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Besondere Bedeutung erlangt das Grundrecht, soweit Unionsbürger betroffen sind, im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEU-Vertrag: Durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung kann ihnen ein den Deutschengrundrechten entsprechender Schutz gewährt werden.

Konsequenzen des Verständnisses als allgemeine Handlungsfreiheit

Die Annahme, Art. 2 Abs. 1 GG sei ein subsidiäres Auffanggrundrecht, hat die Stellung des Bundesverfassungsgerichts erheblich gestärkt. Unter Berufung auf dieses Recht kann jeder Bürger jedes ihn belastende Gesetz mittels der Verfassungsbeschwerde auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz prüfen lassen. Folge dieser umfassenden Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist eine Flut von Verfassungsbeschwerden, die nur durch Einrichtung von vorprüfenden "Kammern" überhaupt noch zu bewältigen waren.

Zudem ist jede (behauptete) unrichtige Rechtsanwendung durch die Rechtsprechung eine (angebliche) Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit, da bei unrichtiger Gesetzesauslegung die belastende Entscheidung nicht mehr von der "verfassungsmäßigen Ordnung" gedeckt ist. Damit würde das Bundesverfassungsgericht zu einer Superrevisionsinstanz, die sämtliche Urteile aller anderen Gerichte zu überprüfen hätte. Das wäre weder sinnvoll noch überhaupt leistbar. Deshalb beschränkt das Bundesverfassungsgericht seine Prüfung auf die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht, also darauf, ob eine Entscheidung willkürlich war oder die Bedeutung der Grundrechte überhaupt verkannt wurde. Mit einer Verfassungsbeschwerde, die nur falsche Rechtsanwendung rügt, wird der Bürger also nicht gehört.

Für das Verwaltungsrecht hat die allgemeine Handlungsfreiheit die Auswirkung, dass jeder belastende Verwaltungsakt den Adressaten möglicherweise zumindest in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt, die erforderliche Klagebefugnis liegt dann vor (sog. Adressatentheorie).

Abgrenzung und verwandte Grundrechte

In Art. 2 Abs. 1 GG wird nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Privatautonomie geschützt.

Nicht zu verwechseln ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dessen Spezialfall, dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Diese sind im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt, sondern vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt worden.

In der Weimarer Reichsverfassung war - mangels entsprechendem Grundrecht - die allgemeine Handlungsfreiheit noch in der Freiheit der Person, Art. 114 Abs. 1 S. 1 WRV, verortet, die damit mehr als nur körperliche Bewegungsfreiheit war.

Eingriff

Eingriff ist jede belastende hoheitliche Maßnahme in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG. Jedoch sind denkbare Eingriffe durch die Weite des Art. 2 Abs. 1 GG unendlich vielfältig. Es sind somit nur erhebliche Eingriffe gemeint, Bagatellen gelten nicht als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG.

Vereinzelt wird vertreten, als Ausgleich zu dem weiten Schutzbereich nur "klassische" Eingriffe (Finalität, Unmittelbarkeit, Rechtsförmigkeit, Zwang) genügen zu lassen. Nicht erfasst würden dann etwa nur faktische Beeinträchtigungen. Diese Ansicht hat sich indes nicht durchgesetzt.

Schrankentrias

Wie jedes Grundrecht gilt auch die allgemeine Handlungsfreiheit nicht schrankenlos. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit darf das friedliche Zusammenleben der Menschen nicht stören.

Die so genannte Schrankentrias besteht aus der verfassungsmäßigen Ordnung, den Rechten anderer und dem Sittengesetz (nur E 6, 389 (433 ff.) – „Homosexualität“). Angesichts der Fülle der Rechtsnormen hat heute nur noch die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung Bedeutung. Sie erfasst alle formell und materiell rechtmäßigen Rechtsnormen, also die gesamte Normenpyramide von Bundesgesetzen, -rechtsverordnungen, Landesverfassungen bis zu -parlamentsgesetzen. Insbesondere kommen auch Satzungen der Gemeinden und Landkreise in Frage, für die (anders als bei der Einschränkung von Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt) keine spezielle gesetzliche Grundlage erforderlich ist, sondern die allgemeine Satzungsermächtigung genügt.

Weil beinahe jedes Gesetz die allgemeine Handlungsfreiheit einschränkt, gilt das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nicht für die Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit.

Allerdings müssen auch hier die einschränkenden Gesetze dem Übermaßverbot genügen, also verhältnismäßig sein.

Rechtshinweis Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten!

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • allgemeine Handlungsfreiheit — allgemeine Handlungsfreiheit,   die in Art. 2 Absatz 1 GG gewährte Freiheit, alles zu tun, was nicht verboten ist und nicht gegen das Sittengesetz verstößt. Dieses Grundrecht ist subsidiär gegenüber den speziellen Freiheitsgewährleistungen des… …   Universal-Lexikon

  • Handlungsfreiheit — ist ein Begriff aus der Philosophie und der Rechtswissenschaft (Grundrecht). Inhaltsverzeichnis 1 Philosophie 2 Rechtswissenschaft 3 Psychologie/Pädagogik 4 …   Deutsch Wikipedia

  • Entscheidungsfreiheit — Handlungsfreiheit ist ein Begriff aus der Philosophie und der Rechtswissenschaft (Grundrecht). Inhaltsverzeichnis 1 Philosophie 2 Rechtswissenschaft 3 Psychologie/Pädagogik 4 Siehe auch 5 W …   Deutsch Wikipedia

  • Freiheit — Die Freiheitsstatue Freiheit (lateinisch libertas) wird in der Regel verstanden als die Möglichkeit, ohne Zwang zwischen verschiedenen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können. Der Begriff benennt allgemein einen Zustand der Autonomie… …   Deutsch Wikipedia

  • Freiheiten — Datei:Eugène Delacroix La liberté guidant le peuple.jpg Eugène Delacroix – Die Freiheit führt das Volk Freiheit (lateinisch libertas) wird in der Regel verstanden als die Möglichkeit, ohne Zwang zwischen verschiedenen Alternativen auswählen und… …   Deutsch Wikipedia

  • Persönliche Freiheit — Datei:Eugène Delacroix La liberté guidant le peuple.jpg Eugène Delacroix – Die Freiheit führt das Volk Freiheit (lateinisch libertas) wird in der Regel verstanden als die Möglichkeit, ohne Zwang zwischen verschiedenen Alternativen auswählen und… …   Deutsch Wikipedia

  • BVerfG — Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist in Deutschland das Verfassungsgericht des Bundes. Als Hüter der deutschen Verfassung hat das Gericht eine Doppelrolle einerseits als unabhängiges Verfassungsorgan und andererseits als Teil der judikativen …   Deutsch Wikipedia

  • Bverfg — Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist in Deutschland das Verfassungsgericht des Bundes. Als Hüter der deutschen Verfassung hat das Gericht eine Doppelrolle einerseits als unabhängiges Verfassungsorgan und andererseits als Teil der judikativen …   Deutsch Wikipedia

  • Grundrechtssenat — Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist in Deutschland das Verfassungsgericht des Bundes. Als Hüter der deutschen Verfassung hat das Gericht eine Doppelrolle einerseits als unabhängiges Verfassungsorgan und andererseits als Teil der judikativen …   Deutsch Wikipedia

  • Staatsrechtssenat — Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist in Deutschland das Verfassungsgericht des Bundes. Als Hüter der deutschen Verfassung hat das Gericht eine Doppelrolle einerseits als unabhängiges Verfassungsorgan und andererseits als Teil der judikativen …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”