Der Mann ohne Eigenschaften

Der Mann ohne Eigenschaften

Der Mann ohne Eigenschaften ist das Hauptwerk Robert Musils und gilt als einer der einflussreichsten Romane des 20. Jahrhunderts.[1]

Inhaltsverzeichnis

Entstehungsgeschichte

Die Arbeit an diesem Roman begann Musil 1921. Der erste Band mit dem ersten des auf drei Bücher angelegten Romans erschien am 26. November 1930, der erste Teil des zweiten Buches 1932. Musil arbeitete bis zu seinem Lebensende 1942 an dem Roman, konnte ihn jedoch nicht vollenden. Der Autor hinterließ ein Konvolut von 12.000 Blättern mit 100.000 Anmerkungen und Querverweisen, aus denen spätere Herausgeber nach eigenem Gutdünken die Fortsetzung des Romans konstruierten. Eine ursprünglich für 2005 geplante digitale Version des Gesamtwerks (Klagenfurter Ausgabe) erschien erst 2009 und ermöglicht neue nicht-lineare Lese-Wege durch das unendlich verwobene Material zum Mann ohne Eigenschaften. Das Werk wird so nachträglich zur Hypertext-Literatur.

Inhalt

Der Intellektuelle Ulrich beschließt im August 1913, für ein Jahr „Urlaub vom Leben“ zu nehmen, nachdem auch sein dritter Versuch, eine Karriere zu beginnen, gescheitert ist. Da kommt es ihm sehr entgegen, dass sein Vater ihn auffordert, sich als Sekretär bei einer hochgestellten Verwandten zu bewerben. Diese hat beschlossen, das siebzigjährige Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph im Jahr 1918 mit einem großen symbolischen Akt zu feiern. Da im gleichen Jahr auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. sein dreißigstes Regierungsjahr vollendet, nennt sich der Vorbereitungskreis Parallelaktion. Doch erweist sich die Bewältigung der Aufgabe, die sich dieser Kreis gestellt hat, als unmöglich, denn in einer Zeit, in der sich jeder nur in seinem eigenen Lebensbereich spezialisiert, lässt sich keine umfassende Idee mehr finden, mit der sich alle identifizieren könnten. Die Parallelaktion erweist sich also als ein Treffpunkt der unterschiedlichsten Personen, die mit- und gegeneinander intrigieren und unter dem Deckmantel, dem großen Ganzen zu dienen, ihre eigenen Interessen verfolgen.

Ulrich, der „Mann ohne Eigenschaften“, erwartet nicht, durch Teilnahme an der Parallelaktion eine Lösung seiner Probleme zu finden. Er erkennt, dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, wodurch ein weiterer Versuch fehlgeschlagen ist, seinem Leben einen Sinn zu geben.

Gehalt und Rezeption

In einer stark durch essayistische Exkurse und Reflexionen geprägten Prosa entfaltet Musil ein zeitgeschichtliches Panoptikum, das im Mikrokosmos des Romans den Übergang von der durch Aufklärung und Rationalität geprägten großbürgerlichen Gesellschaft zur modernen Massengesellschaft illustriert. Den Verwerfungen zwischen Individuum und Gesellschaft, welche diesen Prozess begleiten, gilt Musils Hauptinteresse. In einer der Lebensphilosophie und Nietzsche nahestehenden Weise arbeitet er immer wieder Ansätze einer mystischen Lebenshaltung heraus. Der Versuchung der Verabsolutierung des mystischen „anderen Zustands“ steht dabei die vielzitierte Formel der geforderten Verbindung von „Genauigkeit und Seele“ entgegen. Der dem Autor nahestehende Protagonist Ulrich (siehe unten) trägt den Widerstreit von Mathematik und Mystik exemplarisch in sich aus. Notizen Musils zum Romanaufbau sehen den falschen Gegensatz von Genauigkeit und Seele bereits in der griechischen Antike angelegt. Mit Hinweis hierauf beziehen sich spätere Theoretiker auf dem Feld der Anthropologie nicht selten auf Musils Mann ohne Eigenschaften (so Peter Sloterdijk in seiner Trilogie Sphären) oder werden auf diesen rückbezogen (so Niklas Luhmann aus der Sicht von Robert Spaemann [2]).

In seinem Roman prägte Musil das Wort Kakanien (von „k. k.“ für „kaiserlich-königlich“ oder „k. u. k.“ für „kaiserlich und königlich“) als ironische Bezeichnung für die österreichisch-ungarische Monarchie.[3]

Figuren

  • Hauptfigur des Romans ist Ulrich, der nach verschiedenen Versuchen, in einem Beruf seine Berufung zu finden (z. B. als Mathematiker, Ingenieur und Offizier), zu Beginn des Romans Berater bei der „Parallelaktion“ wird. Er erlebt jedoch alle diese Rollen als existentielle Verengungen und bietet deshalb in einem einjährigen „Urlaub vom Leben“ seinen vielberufenen utopischen „Möglichkeitssinn“ auf, um anders und besser Mensch zu werden.
  • Agathe ist Ulrichs Schwester. Im zweiten Teil des Romans entsteht eine mystisch verfremdete inzestuöse Beziehung zwischen Ulrich und Agathe.
  • Walter ist ein Jugendfreund Ulrichs, ein Künstler, der dabei ist, sich im bürgerlichen Leben einzurichten. Von ihm stammt im Roman die Bezeichnung „Mann ohne Eigenschaften“, womit er Ulrich beschimpfen will.
  • Clarisse ist Walters jugendliche Ehefrau, die aber den Geschlechtsverkehr mit ihm verweigert und schließlich sogar ein Kind von Ulrich wünscht. Die Nietzsche-Verehrerin schwelgt für den Wahnsinn und ist selbst offenbar geistig nicht „normal“.
  • Bonadea ist eine Geliebte Ulrichs. Musil spielt mit dieser Figur vor allem die Thematik von Begehren und Moral durch.
  • Graf Leinsdorf ist der Initiator der „Parallelaktion“, welche zur Vorbereitung des siebzigjährigen Thronjubiläums des Kaisers gestartet wurde. Er sieht sich selbst als „Realpolitiker“.
  • Diotima, eigentlich „nur“ Hermine Tuzzi, eine entfernte Verwandte Ulrichs, veranstaltet Salons, bei denen sich Vertreter der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen in Kakanien treffen, um Ideen für die Parallelaktion zu entwickeln. Vorbild für die Figur der Diotima war vermutlich Eugenie Schwarzwald.
  • Sektionschef Tuzzi ist der Ehemann von Diotima. Er ist ein hoher Staatsbeamter und hält persönlich nicht viel von der in seinem Haus stattfindenden Parallelaktion.
  • Paul Arnheim ist ein einflussreicher Industrieller, Politiker und Intellektueller. Er pflegt eine innige – aber rein platonische – Liebesbeziehung zu Diotima. Dank dieser Beziehung gelingt es ihm als Preußen, eine wichtige Stellung in der rein österreichischen Parallelaktion zu erlangen. Vorbild für Paul Arnheim war vor allem Walther Rathenau, aber auch Thomas Mann.
  • General Stumm von Bordwehr, ein heimlicher Verehrer Diotimas. Sein Schicksal wird später von Wilhelm Muster in Die Hochzeit der Einhörner (1981) weitererzählt.
  • Moosbrugger ist ein Sexualmörder, anhand dessen Musil vor allem die Problematik des Freien Willens behandelt.
  • Rachel ist das aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Dienstmädchen Diotimas, das mit Paul Arnheims schwarzem Dienstjungen Soliman eine Affäre hat.
  • Gerda Fischel, Tochter des liberalen jüdischen Prokuristen Leo Fischel, ist eine frühere Geliebte Ulrichs und Anhängerin einer präfaschistischen Jugendsekte. Sie steht unter dem Einfluss des antisemitischen Aktivisten Hans Sepp und des Lebensphilosophen Meingast (Vorbild für letzteren war Ludwig Klages).
  • Schmeisser, radikaler sozialistischer Aktivist
  • Prof. Gottlieb Hagauer, Reformpädagoge, mit Agathe verheiratet, als diese Ulrich kennenlernt (reales Vorbild war Georg Kerschensteiner)
  • August Lindner, Kollege von Hagauer, der Agathe zu einem asketischen Leben bekehren will (reales Vorbild war Friedrich Wilhelm Foerster)

Literatur

Ausgaben

Buch:

  • Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 1 Rowohlt, Berlin 1930 (1074 S.); Bd. 2 Rowohlt, Berlin 1933 (605 S.); Bd. 3 Rowohlt, Lausanne 1943 (462 S.).
  • Der Mann ohne Eigenschaften. In: Gesammelte Werke, Bd. 1. Hg. von Adolf Frisé. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1978, ISBN 3-498-04255-6 (2154 S.).
  • Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Bd. 1: Erstes und zweites Buch. Neu durchges. und verb. Ausg. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1978. ISBN 3-499-13462-4 (TB Rororo 13462, 1040 S.). Bd. 2: Aus dem Nachlass. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1978, ISBN 3-499-13463-2 (TB Rororo 13463, S. 1045-2159).

Hörbuch:

  • Der Mann ohne Eigenschaften. Gelesen von Wolfram Berger. Regie: Hans Drawe. 2 MP3-CDs (2140 Min.). Zweitausendeins, Frankfurt 2004, ISBN 3-86150-652-1.
  • Der Mann ohne Eigenschaften. Remix Buch (698 S.) und 20 CDs. Hg. von Katharina Agathos. Bayerischer Rundfunk. Der Hörverlag, München 2004, ISBN 3-89940-416-5.

Digitale Ausgaben:

  • Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, hg. von Walter Fanta/Klaus Amann/Karl Corino. Robert-Musil-Institut, Klagenfurt 2009 (1 DVD).
  • Der literarische Nachlaß. CD-ROM-Edition. Hg. von Friedbert Aspetsberge/Karl Eibl/Adolf Frisé. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1992 (Aufgrund der veralteten Software heute kaum mehr brauchbar).

Sekundärliteratur

  • Wilfried Berghahn: Robert Musil. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. 88. – 91. Tausend. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1988, ISBN 3-499-50081-7 (Rowohlts Monographien 81).
  • Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2003, ISBN 3-498-00891-9.
  • Sibylle Deutsch: Der Philosoph als Dichter. Robert Musils Theorie des Erzählens. Röhrig, St. Ingbert 1993, ISBN 3-86110-020-7 (Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und zur neueren österreichischen Literatur 5), (Zugleich: Hannover, Univ., Diss., 1990).
  • Karl Dinklage (Hrsg.): Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Amalthea-Verlag, Wien u. a. 1960.
  • Claus Erhart: Der ästhetische Mensch bei Robert Musil. Vom Ästhetizismus zur schöpferischen Moral. Institut für Germanistik der Universität, Innsbruck 1991, ISBN 3-901064-02-8 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 43), (Zugleich: Innsbruck, Univ., Diss., 1987).
  • Eckhard Heftrich: Musil. Eine Einführung. Artemis, München u. a. 1986, ISBN 3-7608-1330-5 (Artemis-Einführungen 30).
  • Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Aschendorff, Münster 1966 (Münstersche Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 1, ISSN 0077-1996), (hervorragende Arbeit über die Bezüge von Ulrichs Gedanken zu philosophischen Strömen seiner Zeit).
  • Villö Huszai: Digitalisierung und Utopie des Ganzen. Überlegungen zur digitalen Gesamtedition von Robert Musils Werk. In: Michael Stolz, Lucas Marco Gisi, Jan Loop (Hrsg.): Literatur und Literaturwissenschaft auf dem Weg zu den neuen Medien. Germanistik.ch, Bern 2005 (Literaturwissenschaft und neue Medien).
  • Ernst Kaiser, Eithne Wilkins: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Kohlhammer, Stuttgart 1962 (Sprache und Literatur 4, ISSN 0584-9446).
  • Burton Pike: Robert Musil. An introduction to his work. Cornell University Press, Ithaca NY 1962.
  • Burton Pike, David S. Luft (Hrsg.): Robert Musil. Precision and Soul. Essays and Addresses. University of Chicago Press, Chicago IL 1990, ISBN 0-226-55408-2.
  • Marie-Luise Roth: Robert Musil, Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. List, München 1972, ISBN 3-471-66526-9.
  • Brigitta Westphal: Musil-Paraphrasen. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Musils „Mann ohne Eigenschaften“. = Musil paraphrases. An Artist's Approach to Musils „Man without Qualities“. Band 2. Mit Illustrationen von Brigitta Westphal und einem Vorwort von Karl Corino. Peter Lang, Bern 1999, ISBN 3-906761-90-8.
  • Roger Willemsen: Robert Musil. Vom intellektuellen Eros. Piper, München u. a. 1985, ISBN 3-492-05208-8 (Serie Piper 5208 Porträt).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Literaturhaus Wien: „Musils Mann ohne Eigenschaften“ ist „wichtigster Roman des Jahrhunderts“
  2. in: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Niklas Luhmanns Herausforderung an die Philosophie
  3. Zum ersten Mal benutzt er diese Bezeichnung im 8. Kapitel des ersten Teils.- Das darin anklingende griechische Wort κακός (kakós), dt. = schlecht, kann durchaus als mögliche negative Wertung Musils verstanden werden.

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