Dezentralisierung in Armenien

Dezentralisierung in Armenien
politische Karte Armeniens mit Bergkarabach

Als sich Armenien durch die Unabhängigkeitserklärung vom 21. September 1991 von der UdSSR loslöste, standen wie in so vielen Nachfolgestaaten der Sowjet-Union die Anpassung an die vollkommen neuen Gegebenheiten im Vordergrund. Die ererbte Last der sowjetischen Administrativstrukturen stellte ein erhebliches Hindernis für Neuerungen dar. Zusätzlich belastete der ethnisch-territoriale Konflikt um Bergkarabach mit dem Nachbarn Aserbaidschan die Dynamik der reformistischen Kräfte und verzögerte so wichtige Reformschritte.

Unklarheiten bezüglich der Aufteilung und Abgrenzung der Verantwortlichkeiten zwischen der Zentralregierung in Erevan und den Lokalregierungen erhielten sich bis heute. Eine doppelte bis dreifache Unterordnung der Exekutive beispielsweise stellt nicht nur eine bürokratische Hürde dar, sondern belastet vor allem finanziell die kleineren Gemeinden Armeniens. Der Beitritt zum Europarat und die damit verbundene Angleichung an europäische Standards brachte einen neuen Schub in den Prozess der Dezentralisation, der auch mehr als ein Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit vom russischen Zentralismus nicht abgeschlossen scheint. Armenien steht hierbei exemplarisch für die Entwicklung zahlreicher post-sowjetischer Länder.

Inhaltsverzeichnis

Sowjetische Erblast

Als Unionsrepublik der Sowjetunion war Armenien in 37 Landkreise unterteilt. Zusammen mit dem 10 Stadtbezirken der Hauptstadt Erevan und den 22 größeren Städten bildeten sie die mittlere Verwaltungsebene im sowjetischen System. Die Verwaltungseinheiten waren dem Obersten Sowjet der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik direkt unterstellt, welcher wiederum in seinen Kompetenzen der Zentrale in Moskau untergeordnet war, da die Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Unionsrepubliken amtswegen dem Obersten Sowjet der UdSSR angehörten. Ein einer solchen hierarchischen Kompetenzpyramide stellten die örtliche Autoritäten die untersten Glieder der Administrative dar, deren Befugnisse auf das nötigste zugeschnitten waren.

Die unterste administrative Ebene des unabhängigen Armeniens hatte somit keine Tradition der örtlichen Selbstverwaltung und verfügte ebenso über wenig Möglichkeiten zur Schulung geeigneter Fachkräfte. Es mangelte an fachlicher Qualifikation, was durch das Fehlen von dezidierten Regelungen und mangelndem finanziellen Anreiz für Fachkräfte in der Provinz sichtlich erschwert wurde. Dies wird aus der finanziellen Kapazität der Gemeinden ersichtlich, deren Ausgaben noch im Jahr 2002 nur 6,8 Prozent des gesamten Staatshaushaltes Armenien ausmachten. Administrative Kompetenz hatten also in der unmittelbaren Folgephase der Unabhängigkeit Armeniens in den Händen zentraler Institutionen zu bleiben.

Administrative Neugliederung

Als unmittelbar erster Schritt in Richtung Dezentralisation kann die Auflösung der Autonomiekompetenzen der Regionalverwaltung gewertet werden. Somit ist die Kommunalebene die einzige Verwaltungsebene, die zumindest in der Theorie autonom ist. Bereits mit diesem Schritt entfernte sich die armenische Politik im Vergleich mit den anderen südkaukasischen Staaten Aserbaidschan und Georgien am weitesten vom sowjetischen Muster. Dort wurde das sowjetische Muster weitgehend übernommen und lediglich sprachlich angepasst.

Als einzige administrativ-territoriale Einheiten wurden die Regionen und die Stadt- und Landgemeinden angenommen. Im Unterschied zum sowjetischen Modell existiert zwischen den Stadt- und Landgemeinden kein gesetzlicher Unterschied, die statusbedingten Differenzen sind nominell. Armenien wurde in 10 Regionen aufgeteilt, wozu die Hauptstadt Erevan kommt, die ebenfalls den Status einer Region erhält. Eine Region wurde aus zwei bis fünft ehemaligen sowjetischen Landkreisen gebildet, somit konnte die vorangegangene Aufspaltung Armeniens in eine Vielzahl an administrativen Einheiten teilweise rückgängig gemacht werden.

Untere Verwaltungsebene

Die Basiseinheiten der unteren Verwaltungsebene stellen 931 Gemeinden dar, was beinahe die Gesamtzahl der Siedlungen Armeniens widerspiegelt. Somit wählte man die Rückkehr zu der historisch gewachsenen Siedlungsstruktur des Landes. Entsprechend der Vielzahl an Gemeinden ist deren durchschnittliche Bevölkerungszahl verhältnismäßig klein. Auch in der Statusfestlegung der Einheiten als Stadt- oder Landgemeinde ging man eigenwillige Wege: Was eine Stadt sein sollte, wurde nicht nach ihrer Größe, sondern nach der Lage und nach der traditionellen Tradition einer Gemeinde festgelegt. Dastakert mit einer Bevölkerung von 600 Menschen wurde erstmals im 12./13. Jahrhundert urkundlich erwähnt. Sie wird als Stadt anerkannt, währenddessen Akhurion (10 000 Einwohner) beispielsweise den Status einer Landgemeinde innehat. Die Unterschiede sind jedoch, wie weiter oben erwähnt, nominell. Stadt- und Landgemeinden genießen dieselben Rechte.

Durch die geringe Durchschnittsgröße müssen vor allem kleinere Gemeinden auf Kooperation mit anderen Gemeinden oder auch mit Privatunternehmen bauen. Diese Kooperation auf niedrigstem administrativen Niveau kann als Werkzeug einer Dezentralisation gewertet werden. Gleichzeitig mildert die große Zahl an Gemeinden etwaige ethnische oder religiöse Auseinandersetzung, trägt somit zu einer gewissen Stabilität bei.

Nach dem "Gesetz für örtliche Selbstverwaltung" trifft der Gemeinderat, der direkt von der Bevölkerung der Gemeinde gewählt wird und aus mindestens fünf Mitgliedern bestehen, Entscheidung. Dessen Vorsteher führt diese anschließend aus. Die äußerst geringe Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen, die bisher jeweils unter 50 Prozent lagen, weisen auf ein schwaches kommunales Bewusstsein innerhalb der Bevölkerung der Gemeinde hin. Eine Umfrage im Jahr 2005 stellte fest, dass nur 60 Prozent der Bevölkerung (außerhalb Erevans) über die Tätigkeit ihrer kommunalen Vertreter informiert seien. Dieses Desinteresse lässt auf ein geringes Vertrauen schließen.

Mittlere Verwaltungsebene

Die Funktionen der Regionalverwaltung beschränken sich lediglich auf die Umsetzung der regionalen Politik der Regierung in Erevan und die staatliche Kontrolle in Form der Rechtsaufsicht. Ihre Vertreter werden nicht vom armenischen Volk gewählt, sondern direkt vom Präsidenten ernannt. Die Regionalverwaltung ist damit absolut von der Zentralregierung abhängig, sowohl systematisch als auch personell. Sie bildet keine autonome Verwaltungseinheit - das Fehlen einer autonomen mittleren staatlichen Ebene zeichnet Armenien als unitarischen Staat aus. Die Kompetenzen zwischen der Lokal- und Zentralverwaltung sind verschränkt und beeinflussen sich mit dem Ziel der Verbesserung der staatlichen Leistungsfähigkeit im besten Fall wechselseitig.

Somit kann die Regionalverwaltung als Teil der lokalen administrativen Struktur angesehen werden. Beispielsweise stellt sie bei der Aufstellung des Gemeindehaushaltsplans Hilfe zur Verfügung, überwacht diese anschließend und ist im denselben gegenüber verpflichtet, Kreditaufnahmen zu gewähren.

Karte der mittleren Verwaltungsgliederung von Armenien in die elf Provinzen/Regionen

Gliederung in elf Provinzen/Regionen

  1. Aragazotn (Արագածոտնի մարզ), Hauptstadt Aschtarak (Աշտարակ)
  2. Ararat (Արարատի մարզ), Hauptstadt Artaschat (Արտաշատ)
  3. Armawir (Արմավիրի մարզ), Hauptstadt Armawir (Արմավիր)
  4. Gegharkunik (Գեղարքունիքի մարզ), Hauptstadt Gawar (Գավառ)
  5. Kotajk (Կոտայքի մարզ), Hauptstadt Hrasdan (Հրազդան)
  6. Lori (Լոռու մարզ), Hauptstadt Wanadsor (Վանաձոր)
  7. Schirak (Շիրակի մարզ), Hauptstadt Gjumri (Գյումրի)
  8. Sjunik (Սյունիքի մարզ), Hauptstadt Kapan (Կապան)
  9. Tawusch (Թավուշի մարզ), Hauptstadt Idschewan (Իջևան)
  10. Wajoz Dsor (Վայոց Ձորի մարզ), Hauptstadt Jeghegnadsor (Եղեգնաձոր)
  11. Eriwan (Երևան) (seit Referendum im Jahr 2005: Status einer Stadtgemeinde)

Obere Verwaltungsebene

Das im Sinne des unitarischen Staates stehende Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Lokalverwaltung und der obersten Ebene ist ein im besten Falle partielles. Die Autorität der Zentralregierung berührt die Interessen der Gemeinde in über 20 Bereichen und beeinträchtigt somit die Entscheidungsautorität der lokalen Verwaltungsstrukturen. Diese "starke staatliche Kontrolle der unteren Verwaltungsebene" kennzeichnet trotz der in Armenien gesetzlich verbürgten Autonomie unitarische Systeme, wie sie sich vielfach in Nachfolgestaaten der UdSSR etabliert haben. Somit lassen sich hier noch zahlreichen Elemente der zentralistischen sowjetischen Verwaltung finden.

Politisch-administrative Dezentralisation

Das "Gesetz über örtliche Selbstverwaltung" legt den Umfang der politischen, administrativen und fiskalischen Dezentralisation Armeniens fest. Seit dem Beitritt zum Europarat im Jahr 2001 ist ein verstärkter Wille zur Angeleichung an europäische Vorgaben feststellbar. Hierbei orientiert man sich vor allem an der "Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung", die eine deutliche Trennung der gemeindlichen Aufgaben zwischen oberer und unterer Ebene vorsieht.

Infsofern sind beispielsweise die Befugnisse der armenischen Gemeinden hinsichtlich der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen auf ausschließlich kommunale Bereitstellung selbiger beschränkt. Das breite Feld des sozialen Sektors bleibt in den Händen der Zentralregierun. Im Vergleich der GUS sind die Gemeinden Armeniens mit verhältnismäßig wenigen Befugnissen ausgestattet. Ein Grund dafür liegt sicherlich in der stark unitarisch geprägten Konzeption des Staates. Tatsächlich wären die vielen kleinen Gemeinden mit den Aufgaben überfordert. Gemeindliche Kapazitäten reichen in vielen Fällen kaum aus, sich der pflichtigen Befugnisse anzunehmen. Die Ausgaben der Gemeinden beliefen sich im Jahr 2002 auf nur 1,6 Prozent der gesamten Staatsausgaben. Damit können gerade die essentiellen Kosten abgedeckt werden, andere Projekte bleiben unangetastet. In einigen Bereichen ist somit bereits eine Rezentralisierung festzustellen.

Im Jahr 2002 betrug die Unterfinanzierung der Gemeinden 62 Prozent. Vieles lässt darauf schließen, dass dies eine rein systembedingte fiskalische Lücke ist.

Finanzielle Dezentralisation

Eine vollkommene Dezentralisation kann durch die Ergänzung der politischen und administrativen mit der fiskalischen geschehen. Eine wahre Entscheidungsautonomie setzt zugleich die finanzielle Emanzipation voraus. Hinreichende Eigeneinnahmen müssten dies gewährleisten. Die Erträge aus der "Vermögens- und Bodensteuer" beispielsweise hinkten jedoch bis zu 80 Prozent hinter dem Berechneten zurück. Die lässt sich auf die mangelnde Aktualität der Daten zurückführen. Steuergegenstände werden äußerst unzureichend erfasst, der erhobene Steuerwert der taxierten Güter entspricht in vielen Fällen nicht dem tatsächlichen. Die Verbleibsel des sowjetischen Modells lassen sich auch hier noch feststellen: in der Regel werden bei der Taxierung landwirtschaftliche Flächen noch sowjetische Methoden angewandt.

Die Ministerien in Erevan, zentrale Schaltstellen der Steuereintreibung, schrecken jedoch vor den horrenden administrativen Kosten zurück, die eine Reform der Taxierung verursachen würde. Es mangelt an Sanktionsmechanismen, um die Zahlungsdisziplin zu erhöhen, doch mindestens genauso drückt die geringe Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung die Einnahmen. Dies wiederum betrifft vorwiegend kleinere Gemeinden, da sich stärkere Schichten tendenziell eher in den Städten leben.

Eine mögliche Lösung für diesen systembedingten Missstand wäre die Abgabe der Verantwortung für die Erfassung und Taxierung an die Gemeinden, da deren Anreiz, die Erträge zu erhöhen, ungleich größer ist, als jener der Zentralregierung und der Überblick über die Steuergegenstände weitaus genauer ist. Hierfür wäre neben einem dezidierten Reformschritt natürlich die kapitalintensive technische und personelle Ausstattung der Gemeinde vonnöten. Eine Änderung in naher Zukunft ist somit nicht zu erwarten.

Die Abhängigkeit der Gemeinden von so genannten "Transferzahlungen" seitens der Zentralregierung ist hoch. Sie machen 56 % der Gemeindeeinnahmen aus. Doch oftmals erweist sich die Diskrepanz zwischen den geplanten und tatsächlichen Einnahmen als beträchtlich. Die Zahlung fungieren besonders in wirtschaftlichen Flauten als "Puffer" für Löcher im staatlichen Haushalt. Somit akkumulieren die Rückstände dieser Zahlungen auf kommunaler Ebene und sorgen eine für finanzielle Destabilisierung der Haushalte der Gemeinden. Auch in dieser Form ist das Wohl und Weh der Gemeinden stark an die Zahlungsfähigkeit der Zentralregierung gebunden. Somit wird nun die Gründung kommunaler Zweckverbände angestrebt, um eine bessere Kooperation unter den Gemeinden zu gewährleisten und das Land somit im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu "dezentralisieren".

Weblinks

Literatur

  • Gebhard Reul: Dezentralisation in Armenien, in: Geographische Rundschau 58 (2006); Westermann Verlag
  • Danielyan, E.: Local elections expose weakness of Armenian civil society, in: Eurasia Daily Mirror 30. September 2005
  • Tumayan, D.: The Provision of Local Fiscal Autonomy in Armenia, in: K. Davey (Hrsg.): Fiscal Autonomy and Efficienc: Reform in the former Soviet Union. Budapest 2002, S. 35-57

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