- Frontalhirnsyndrom
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Klassifikation nach ICD-10 F07.0 Organische Persönlichkeitsstörung F07.2 Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma F07.8 Sonstige organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns ICD-10 online (WHO-Version 2011) Das Frontalhirnsyndrom ist die Bezeichnung für den Symptomenkomplex, der bei Schädigung der vorderen Anteile des Stirnhirns auftreten kann. Synonym verwendet wird der Begriff "Dysexekutives Syndrom", da die exekutive Funktionen geschädigt werden. Dabei handelt es sich jedoch um keine genau definierte Symptomkonstellation, sondern um ein sehr heterogenes Krankheitsbild unterschiedlichster Störungen, das von Patient zu Patient extrem verschieden sein kann. Präziser als die Verwendung des Begriffs ist daher die Beschreibung der vorliegenden Symptomkonstellation (siehe unten).
Allgemein schreibt man diesen Hirnteilen, die auch als präfrontaler Cortex bezeichnet werden, eine Analyse- und Überwachungsfunktion zu. Daher wurde für ihn auch der Begriff „supervisory attentional system“ (SAS) eingeführt. Es besteht ein dichtes Netzwerk zu vielen anderen Hirnteilen. Auf diese Weise können unterschiedlichste Informationen analysiert, bewertet, „verrechnet“ und die Ergebnisse wieder zurück gesendet werden - ähnlich dem zentralen Prozessor (CPU) eines Computers. Aufgrund der zahlreichen präfrontalen Verbindungen („Projektionen“) zu anderen Gehirnstrukturen können auch Läsionen in anderen Hirnabschnitten zu einem Dysexekutiven Syndrom führen, z. B. Thalamus, kortikale oder subkortikale limbische Strukturen, Basalganglien.
Man unterscheidet ganz allgemein zwei Bereiche des präfrontalen Cortex (PFC):
- dorsolateraler präfrontaler Cortex: Hier befinden sich vorwiegend kognitive Funktionen, z. B. problemlösendes Denken oder Vorausplanen (Intelligenz).
- orbitofrontaler Cortex: Dieser Hirnteil wird mit der Regulation emotionaler Prozesse und Persönlichkeitseigenschaften in Verbindung gebracht.
Allgemein hat der PFC die Funktion, das Verhalten des Menschen flexibel und zweckmäßig an neue Anforderungen des Lebens anzupassen.
Sowohl der Begriff „Dysexekutives Syndrom“ als auch die Bezeichnung "Frontalhirnsyndrom" sind in der Fachwelt umstritten. Eine Gleichsetzung sollte auf jeden Fall vermieden werden, da beide Begriffe unterschiedliche Intentionen haben. So zielt die Bezeichnung „Dysexekutives Syndrom“ auf Störungen von diversen kognitiven Funktionen, während die Bezeichnung „Frontalhirnsyndrom“ die Lokalisation einer Schädigung angibt. Bei Schäden im Frontalhirn müssen aber nicht in jedem Fall exekutive Funktionen betroffen sein, und zu Störungen exekutiver Funktionen kommt es nicht nur bei Schäden im Frontalhirn, da auch die ungestörte Funktionsfähigkeit anderer Bereiche des Gehirns (z. B. des Thalamus) für die exekutiven Funktionen erforderlich ist.
Inhaltsverzeichnis
Kognitive Störungen nach Schädigung des dorsolateralen Cortex
Das Supervisory Attentional System (SAS) ist nicht mehr dazu in der Lage, Handlungen des Menschen flexibel auf neue Situationen einzustellen (kognitive Flexibilität). Das problemlösende Denken und eine vorausschauende Handlungsplanung sind z. T. massiv gestört. Irrelevante (Umwelt-)Reize können nicht mehr von relevanten unterschieden werden. Es findet keine ausreichende Analyse mehr statt. Bei Routinehandlungen dagegen zeigen sich in der Regel keinerlei Probleme. Personen mit einer Schädigung des Frontalhirns sind hier zumeist unauffällig: z. B. Einkaufen von alltäglichen Dingen, Frühstück oder Abendessen richten, Wahrnehmen von Arztterminen usw.
Folgende kognitive Störungen können im Rahmen eines dysexekutiven Syndroms auftreten und mit unterschiedlichen Tests erfasst werden:
- unzureichende Problemanalyse
- unzureichende Extraktion relevanter Merkmale
- unzureichende Produktion von Ideen
- Haften an (irrelevanten) Details
- mangelnde Umstellungsfähigkeit und Hang zu Perseverationen
- ungenügende Regelbeachtung und Regelverstöße (auch im sozialen Verhalten)
- Einsatz planungsirrelevanter Routinehandlungen
- verminderte Plausibilitätskontrollen
- keine systematische Fehlersuche
- Alternativpläne werden kaum entwickelt
- handlungsleitendes Konzept geht verloren
- Schwierigkeiten beim gleichzeitigen Beachten mehrerer Informationen (Arbeitsgedächtnis)
- Handlungskonsequenzen werden nicht vorhergesehen
- kein Lernen aus Fehlern
- vorschnelles Handeln
- rasches Aufgeben bei Handlungsbarrieren
Mögliche Verhaltensstörungen nach Schädigung des orbitofrontalen Cortex
Bei Schädigungen des orbitofrontalen Cortex oder damit assoziierter Hirnareale kann es zu unterschiedlichen Verhaltensauffälligkeiten kommen. Man spricht auch von neuropsychiatrischen Störungen. Die Fachliteratur unterscheidet zwischen inhibitorischen und disinhibitorischen Symptomen. Diese können wiederum auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden. Welche Symptomkonstellation auftritt, hängt von Ausmaß und Art der frontalen Hirnschädigung ab. Als grobe Unterteilung gilt die Unterscheidung eines oberen gegenüber einem unteren Frontalhirnsyndrom, wobei das obere Frontalhirnsyndrom im Wesentlichen durch die Antriebsarmut gekennzeichnet ist (inhibitorisch), während sich das untere Frontalhirnsyndrom hauptsächlich durch Störungen des Affekts und der Kritikfähigkeit auszeichnet (disinhibitorisch).
Depressiv-inhibitorischer Symptom-Komplex
- motorisch
- motorische Verlangsamung
- Sprechverarmung
- sensorisch
- mangelnde Reagibilität auf Umgebungsreize
- emotional-affektiv
- depressive Grundstimmung
- geringes Selbstwertgefühl
- Selbstablehnung
- Gefühllosigkeit
- Behavioral
- Appetit- und Gewichtsverlust
- Energie- und Interessenverlust
- sozialer Rückzug
- kognitiv
- Entscheidungsunfähigkeit
- „Pseudodemenz“
- Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen
- biozyklisch
- Schlafstörungen
- Müdigkeit
Disinhibitorischer Symptom-Komplex
- motorisch
- Hyperaktivität
- motorische Unruhe
- gesteigerte Sprechaktivität (Logorrhoe)
- sensorisch
- emotional-affektiv
- manische, euphorische Grundstimmung
- paranoide Wahnvorstellungen
- Selbstüberschätzung, Größenwahn
- Aggressionsausbrüche
- pathologisches Lachen und Weinen
- Verhalten
- Hyperphagie
- orales Explorationsverhalten
- Hypersexualität
- ungerichtete Aktivitätssteigerung
- Distanzlosigkeit, Kritiklosigkeit
- Nichtbeachtung sozialer Konventionen
- kognitiv
- verstärkte Ablenkbarkeit
- Ideenflucht, Witzelsucht
- Aufmerksamkeits-, Konzentrationsstörungen
- biozyklisch
- vermindertes Schlafbedürfnis
Literatur
- Herrmann, M., Starkstein, S.E. & Wallesch, C.W. (1999). Neuropsychiatrische Störungen in der Neurorehabilitation. In: Peter Frommelt & Holger Grötzbach (Hrsg.): NeuroRehabilitation. Grundlagen, Praxis, Dokumentation. Berlin: Blackwell Wissenschafts-Verlag.
- Koch, J. (1994). Neuropsychologie des Frontalhirnsyndroms. Weinheim: Beltz
- Matthes-von Cramon, Gabriele (1999). Exekutivfunktionen. In: Peter Frommelt & Holger Grötzbach (Hrsg.): NeuroRehabilitation. Grundlagen, Praxis, Dokumentation. Berlin: Blackwell Wissenschafts-Verlag.
- Matthes-von Cramon, G. & von Cramon, D.Y. (2000). Störungen exekutiver Funktionen. In: W. Sturm, M. Hermann, C.-W. Wallesch. Lehrbuch Klinische Neuropsychologie. Swets.
- Förstl, Hans (Hrsg.), Frontalhirn - Funktionen und Erkrankungen, Verlag Springer Berlin, ISBN 3-540-20485-7
- Goldberg, Elkhonon: Die Regie im Gehirn - Wo wir Pläne schmieden und Entscheidungen treffen, ISBN 3-935767-04-8
- Goldberg, Elkhonon (2009). The New Executive Brain. Oxford University Press. ISBN 978-0-19-532940-7
Siehe auch
- Striatofrontale Dysfunktion
- Präfrontaler Cortex
- Frontallappen
- Phineas Gage und die Folgen seines schweren Arbeitsunfalls im Alter von 25 Jahren (u. a. auch epileptische Anfälle. Die Krankengeschichte brachte die neurologische Wissenschaft voran.)
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